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Das Ende vor Augen, kämpfen die Pai-Tavyterä ums Uberleben

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Immer mehr Menschen begreifen, daß die ganze Menschheit ärmer wird, wenn Kulturen untergehen. Die Pai-Tavyterä, Mitglieder der riesigen Sprachfamilie der Guarani-In-dianer in Südamerika, wissen es offenbar schon länger. Ausspruch eines Päi: „Lange haben wir zu den göttlichen Wesen gebetet, damit wir weiter existieren können. Wenn wir nicht mehr auf der Erde leben, wer soll dann das Gleichgewicht zwischen der Erde und dem Himmel aufrecht erhalten? Die ganze Erde würde untergehen. Ihr habt in Austria, auf der anderen Seite der Erde, davon erfahren und Angst bekommen. Deshalb, und weil die göttlichen Wesen euch geschickt haben, seid ihr hier, um uns zu helfen. Damit die ganze Erde, und damit auch Austria, bestehen bleiben können.”

Nachzulesen im Buch „Auf der Suche nach dem Land ohne Übel” von Friedl Grünberg. Sie beschränkt sich nicht darauf, das Leben der Guarani zu beschreiben, sondern läßt, durch die - erstmalige - Übersetzung der Mythen und Gesänge der Pai-Tavyterä und der Mbya, zweier Guara-ni-Völker, diese selbst zu Wort kommen und ihre Weltsicht vermitteln.

Die Ethnologin reiste 1971 mit ihrem Mann Georg Grünberg und ihrem Sohn zu einem Studienaufenthalt bei den Pai-Tavyterä nach Paraguay. Durch die Bitte um Hilfe der In -dianer ergab sich daraus 1973 das „Proyecto Pai-Tavyterä”, ein österreichisches Entwicklungshilfe-Projekt des HZ (Institut für Internationale Zusammenarbeit), das bis 1975 von Georg Grünberg geleitet wurde. Hauptaufgaben während der 15jähri-gen Laufzeit waren die rechtliche Absicherung von Gemeinschaftsland für jede Päi-Gemeinde und ein Gesundheitsprogramm.

Tatsächlich konnte für alle Päi-Ge-meinden in Paraguay Gemeindeland vermessen werden, wenn auch für einige nur sehr kleine Flächen. Einige Gemeinden sind im Besitz von Eigentumsdokumenten, für andere steht dies noch aus. Im Lauf der Arbeit besserte sich der gesundheitliche Zustand der Päi wesentlich, was eine Evaluierung Jahre später bestätigte.

Wichtigste Grundlage des Gesund-heitsprogrammes war Respekt für die traditionellen Heilungstechniken. Wo diese wirksam sind, sollten sie nicht durch Schulmedizin ersetzt werden. Das Gesundheitsprogramm bestand aus vorbeugenden Maßnahmen, Behandlung der Tuberkulosekranken und Information über die neuen Krankheiten der Indianer.

Die Kindersterblichkeit während der ersten zwei Lebensjahre sank von 50 Prozent auf den ländlichen Durchschnitt Lateinamerikas. Das jährliche Bevölkerungswachstum der Päi wird derzeit auf drei Prozent geschätzt. In den siebziger Jahren waren 50 bis 60 Prozent mit Tuberkulose infiziert, heute sind es in den Gemeinden, die vom Gesundheitsprogramm betreut werden, nur noch zwei Prozent. Der ständige Austausch von Wissen war ein wichtiger Teil der Arbeit. Die Päi prüften alle Bereiche des „neuen Wissens”, der „neuen Sitten” - teko pyahu - sehr genau und entschieden in ihren sorgfältigen, schwierigen Meinungsbildungsprozessen, was sie sich aneignen wollten und was untauglich oder „schlechtes Wissen” sei.

Die Zeit, die sie sich für die Kommunikation nehmen und die Sorgfalt, mit der sie Entscheidungen treffen, scheinen wesentliche Faktoren für die Freundlichkeit, den Humor und die Großherzigkeit zu sein, mit der sie zusammenleben. Wichtige Gelegenheiten für Gespräche sind das Wäschewaschen am Bach, die Feldarbeit der Frauen oder das Kochen. Sie besprechen dabei alle Themen von Interesse, Vorkommnisse in der Familie, eheliche Unstimmigkeiten, Begegnungen mit Nachbarn oder Besuchern aus anderen Dörfern, Schwierigkeiten mit Paraguayern und Brasilianern, besonders mit den Arbeitgebern der Männer, bis zu politischen Entscheidungen. Wichtiges wird sodann bei der abendlichen Versammlung auf dem Dorfplatz beim Haus des politisehen Führers diskutiert.

Bei wichtigen Themen werden die Ergebnisse von jeder Frau in ihrer Familie weiter besprochen. Wenn sich in der Familie eine Meinung zu einer anstehenden - meist politischen - Entscheidung herausgebildet hat, tragen die Männer sie bei den informellen Versammlungen vor. Hier sind die Frauen anwesend, melden sich aber nicht mehr so oft zu Wort. Üblicherweise wird kein Mann eine Ansicht vertreten, auf die er sich nicht mit seiner Frau geeinigt hat.

Sobald für den politischen Führer -mburuvicha - eines Dorfes erkennbar ist, daß sich in einer Frage, die das ganze Dorf betrifft, eine einheitliche Meinung gebildet hat, beruft er eine offizielle Dorfversammlung - aty gu-asu - ein. Die Meinungsbildung kann Wochen oder Monate dauern. Beim aty guasu geht es darum, der Entscheidung in einer gewählten Form sprachlich Ausdruck zu verleihen. Die Päi tun dies mit schönen Worten, durchsetzt mit rezitierten Zitaten aus der Mythologie. Am Ende der ähnlich lautenden Aussagen gibt der mburuvicha bekannt, was zu tun ist.

Die höchste Autorität ist aber nicht der politische, sondern der religiöse Führer, der tekoaruvicha, um dessen Amt man sich nicht bemühen soll, weil der Träger dieser Funktion religiösen Eifer an den Tag legen, aber frei von starken Wünschen sein soll. Diese Funktion kann ein Mann erst im reiferen Alter und nur als Verheirateter ausüben. Die Frau des tekoaruvicha, die rituell als fiande sy - unsere Mutter - angesprochen wird, ist wichtig für dessen „Erdung”, als Begleitung der gesungenen und getanzten Gebete und für die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts im Dorf. Bei Witwern ruht die Funktion, bis sie sich wieder mit einer Frau verheiratet haben, die als nande sy akzeptiert wird. Die Macht des tekoaruvicha liegt in seiner moralischen Autorität und persönlichen Integrität. Er soll seine Agressivität so gemeistert haben, daß er nicht einmal mehr wütend wird und die sittlichen Werte der Pa'i am konsequentesten verkörpern.

Auch der Umgang mit und unter den Kindern beeindruckte Friedl Grünberg sehr: „Das erste Spiel, das ich die Kinder mit ungefähr sechs, sieben Monaten spielen sah, heißt Geben und Nehmen”. Die Initiative dazu geht meist von den größeren Kindern aus. Sie bieten dem Baby einen Gegenstand an, einen Stein, ein Stück trockenes Brot oder eine kleine Frucht, bis es mit seinen ungelenken Bewegungen danach greift. Dann fordern sie es in geduldigen Wiederholungen auf: „Gib es mir wieder zurück, ich möchte es gerne wieder haben!” und halten ihm die offene Hand entgegen, bis es den Gegenstand wieder losläßt. Am Anfang ist es mehr ein Fallenlassen, mit der Zeit wird daraus ein geübtes Zurückgeben. Grünberg: „Dieses Spiel kann stundenlang gespielt werden, ich habe es viele, viele Male beobachtet und der geduldige, herzliche Umgang der Kinder untereinander hat mich immer sehr berührt. Das „Geben und Nehmen” ist im Wesen der Päi wirklich sehr tief verwurzelt.”

Kinder werden nicht geschlagen, nicht grob angefaßt. Die Pai sagen, daß Blut auf der Handfläche austritt, wenn man ein Kind schlägt. Es sei nicht das physische Blut, sondern der Schatten des Blutes, man könne ihn wie einen dunklen Nebel auf der Handfläche sehen.

Für die Buben ist die Initiation das wichtigste Ereignis. Die Knaben-initiation - in ruhigen Zeiten etwa alle drei Jahre - ist ein aufregendes, aufwendiges Geschehen. Vor allem ist dieses Fest - mitä pepy - ein religiöses Ritual, durch das die Pa'i ihre spirituellen Erfahrungen, über die sie sich als Volk definieren, ausdrücken.

Im Idealfall dauert das Fest von Sonnenunter- bis aufgang. Während der Nacht werden die Enstehungsmy-then gesungen, die einen großen Teil von Friedl Grünbergs Buch ausmachen. Der konzentrierte Gesang, die immer wiederkehrenden Wiederholungen bestimmter Strophen und der oft gleiche Aufbau der Verse einer oder mehrerer Strophen erzeugen eine starke Schwingung, es ist eine Art Meditationstechnik. Die Männer spielen auf den heiligen Rasseln, die als Unterstützung dienen, um sich den göttlichen Kräften und Wesen zu öffnen, begleitet von den Stampfrohren der Frauen, die für die nötige „Erdung” sorgen.

Die Situation der Regen waldindianer ist trotz erfolgreicher Projekte sehr schwierig. Viele Völker wissen, daß ihnen der Untergang droht. Manche, wie die Ache, beweinen ihren Tod als Volk in ergreifenden Gesängen. Andere entschieden sich, den Untergang vor Augen, keine Kinder mehr in die Welt zu setzen, damit diese nicht ein kulturloses Schattendasein in einer immer grausameren Welt fristen müssen. Die Indianer beanspruchen ein Minimum an Lebensqualität, sonst ziehen sie es vor, zu gehen, aber sie geben wahrhaftig nicht leicht auf.

Die rituelle Begrüßung der Pai lautet „Reikovepa Pa'i?”, was bedeutet: „Lebst du, Päi, existierst du?” Und die Antwort lautet: „Aikove!” - Ich lebe, ich existiere. „Die Guarani”, so Friedl Grünberg, „sind ein lebendiges Beispiel dafür, daß man hohe Lebensqualität auch mit einfachen Mitteln, ohne auf Kosten anderer zu leben, erreichen kann. Indianer in Beservaten zusammenzupferchen oder überhaupt ohne Landrechte leben zu lassen, ist Völkermord.”

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