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Das Erlebnis von Thiersee

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Bewundernd schauen wir die malerischkünstlerische Vollkommenheit, mit der die Andachtstätten unseres Volkes in den Raum gestellt sind: die kleinen an die grünen Bergmatten geschmiegten Kapellen und Bildstöcke, die auf dem Hügel mit dunkeln Tannenkulissen als Hintergrund geformte Kirche und das hoch über dem rauschenden Strom auf einem Felsenklotz gebaute Kloster. Innerlich erfaßt, erkennt man, daß dieses Platzwählen vor ein paar hundert Jahren auf einer naturverbundenen, seelengeborenen Eingebung oft primitiver Menschen wurzelt. Erklärung findet dieser aus den umgebenden Naturgewalten geborene, durch das alljährliche Frühlings-wunder veredelte Naturtrieb in dem innigen, ganz einsamen Zusammenleben des Landvolkes mit den stummen, duldenden, treuen Tieren, dem auf sich selbst in Gefahr, ;Not, Freude, Schmerz gestellten Dasein, kurz aus dem einsamen Leben, das auf einer mit dem himmelblauen Dach überwölbten Lebensbühne abrollt. Das alles muß zur höheren Macht hinüberleiten und überlieferte Geschehnisse für künftige Geschlechter bewahren.

Es ist wieder einmal österreichischer Bescheidenheit zuzuschreiben, wenn die Welt und zum Teil wir selbst nicht wußten, daß Tirol und damit Österreich, das Ursprungsland der Weltpassionsspiele ist. Auch dieses österreichische Kulturgut wurde erst anläßlich der 600jährigen Jubiläumspassion 1936 im Thierseer Spielhaus der aufhord.en-Welt bekannt.

Die geistlichen Spiele Tirols nahmen von der. Abtei der Augustiner Chorherren zu N e u s t i f t ihren Ausgang. Das B o z e n e r Prozessionsspiel, über das der Chronist P. Troyer um 1341 berichtet, ist wohl der eigentliche Beginn. Die so auf Tradition fußenden Gottesspiele griffen auf S t e r-zing und Hall über, auf ßrixen, Bruneck, Rattenberg, Schwaz und endlich auf T h i e r s e e, das kleine Seedorf, das nach einer von den schroffen Bildern des Kaisergebirges begleiteten zwanzig Minuten währenden Autofahrt von Kuf stein aus plötzlich idyllisch vor uns liegt. Ein kleiner Berg spiegelt im See. Die verstreuten Häuser streben zu einem Bergkirchlein, das inmitten eines eingeengten Gottesackers liegt, und klettern darüber rings zur Höhe hinaus. Dieser „Mittelpunkt Kirche“ wurde zur gottgewollten Kulisse des ersten Theaters. Auf dieser Naturbühne spielten die Thierseer seit altersher Szenen aus der Leidensgeschichte.

Im Jahre 1799 gelobte, angesichts der Kriegsbedrohung und der erlittenen Heimsuchung, eine Gruppe von Dorfbewohnern, im Zeitabstand von fünf Jahren, immer wieder das Leben Christi darzustellen. Realistisch gebrachte Szenen wechselten mit der auf Rührung eingestellten Wiedergabe der Passion vom Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung und Himmelfahrt. Dieses fromme Beginnen überdauerte das Spielverbot Maria Theresias, die Bedrängung durch Metternich, das erzwungene Stummsein, als Tirol zu Bayern mußte, um endlich 1811 wieder frei aufzuleben, bis schließlich 1921 durch das Drama des Erz-abtes von St. Peter in Salzburg, J a k o-bus'Reimer, der Ruf Thiersees leise in die Welt zu tönen begann. Zwei zusammengeballte dramatische Stoffe rollen ab: die übersinnliche Kraft Satans gegen Gott und das irdische Christusdrama. Dichterisches Empfinden und dramatisches Gefühl steigern die Wirkung.

Wirklichkeit leitet das Spiel ein: die Kirchenglocken läuten und eine- kleine Prozession fährt über den See, die das Kreuz aus der Kirche zum Spieltheater bringt. In dem 1927 gebauten großen Passionsspielhaus wird 1200 Menschen, die in einer Spielperiode zu 20.000 werden, das Erlebnis von Thiersee vermittelt.

Die wirkungsvolle Szene der Welterschaffung beginnt, der Sturz der Engel und der Sündenfall im Paradies leiten zur Geburt Christi hinüber. Die Taufe im Jordan, die Bergpredigt, der Einzug in Jerusalem sind Vorspiele zu den Szenen des Hohen Rates, des Abendmahles und des ölberges. Christus steht vor Pilatus. Kreuzweg und Kreuzigung greifn an das Herz. Die Handlung geht mit der Auferstehung in das Uberirdische über. Das ewige Licht leuchtet: Christus blieb Sieger. Zeit und Raum verschwinden, Theater, Kulissen und Darsteller versinken und es bleibt das ergreifendste Einzelschicksal der Weltgeschichte, das zum Umformen des Weltantlitzes wurde.

Dieses Geschehen etwa 2000 Jahre miterleben zu können, diese an das Herz greifende Darstellung ist eine sittliche Tat, Erziehung am Volk und zeigt den Menschen die in der Hölle geborene Mißgunst, den Haß, Unverstand und Neid auf der einen Seite und dem gegenüber die himmelgeborene Liebe, Güte und das strahlende Licht des Verzeihens auch im Verfolgtwerden.

Wer diesen wunden, mißhandelten, blutigen, durchgeistigten Leib am Kreuze schaut, wer das Sterben dieses Gesichtes miterlebt, wer die unendliche Güte im größten Mutterschmerz gesehen hat, der muß — wenn er sich zu Menschen zählt — menschlicher werden.

Ein kalter Luftzug strömt von der Bühne und erhöht die Illusion des Übersinnlichen, ein magisches Licht dämmert über den Bildern und gedämpft tönen Musik und Worte, die einer Ewigkeit zu entstammen scheinen; ergreifend begleitet das Schluchzen der Schauenden in der Kirchenstille des Saales das Spiel. Aber dann stutzt man befangen: die spiegelnde Fläche des Sees — ist das nicht jener heilige See von damals? Und dieser Weg zur Höhe — wandelte den nicht der Erdensohn? War_ alles Wirklichkeit? War es Spiel? ,

Dann steht man auf diesen Brettern, die hier nicht die Welt allein bedeuten können, und spricht ganz irdisch mit Alois K a i n d 1, dem Christusdarsteller. Kaindl, im Leben Zimmermann, zeigt ein vergeistigtes Antlitz und ein Herz voll Güte. Seine rührende Bescheidenheit läßt ihn alle Lobsprüche abweisen: „Ich spiele dem Heiland zur Ehre ...“

Die Mariendarstellerin Kathi J u f f i n-g e r ist im Leben ein Landkind, das im harten Kampf um das Dasein steht, im Dorfladen ihrer Mutter Waren verkauft, die Wände ihres hochgelegenen Häuschens selbst weißt, an langen Winterabenden bunte Papierblumen schneidet, der das Radio allein — mehr zur Selbstbildung als zur Unterhaltung — Anschluß an die weite Welt bedeutet, die in' reiner, kindlicher Freude Bilder, Programme, Anerkennungsbriefe im kleinen, schlichten Holzkoffer bewahrt, aber jedes mündliche Lob zurückweist. Sie ist nur Dienerin. Die Tradition fordert, daß Liebe und Ehe, solange sie Darstellerin sein will, von ihr ferne bleiben müssen.

Fast 300 Thierseer stehen auf der Bühne. Die Apostel, die Hohepriester, die römischen Soldaten, die Pharisäer, die Engel kommen aus Bauernhöfen und Werkstatt, au^ Geschäftsläden und Arbeitsstätten mit oft drei Stunden Gehzeit zum Spiel. Ein treues österreichisches Bergvolk, gläubig und naturverbunden, das 1809 den berühmten Landesschützenmajor Jakob S i e b e r e r stellte.

Die weitgehende Verflachung des Laienspiels im 19. Jahrhundert, .die aufgeblähte Scheinkunst blieben von dem einsamen Kunstdorf fern, denn innerlicher Ernst in religiösen Dingen, Selbstergriffenheit und äußerliche Tradition des Brauchtums und der Vätersitte waren eiserne Wächter. Keine Theaterausbildung brachte Verflachung. Sie spielten vom Kirchplatz bis zum Festspielhaus, von der Welt unbeachtet, nur für sich und die benachbarten Bewohner.

Alles, was 1938 in Österreich iti die Hände der Gewakcroberer fiel, wurde zweckentfremdet, vernichtet. Auch das Thierseer Spielhaus wurde profaniert, geplündert. Die von den Inwohnern nach alten Bildern selbstverfertigten Gewänder wurden in der Folge geraubt, das Haus selbst wurde zum Bild wahnsinniger Zerstörung.

Die Wiedererstehung dieses Passionsspieles ist keine Tiroler Angelegenheit allein, sie soll Herz- und Ehrensache des ganzen österreichischen Volkes ein.

Die Sonne geht täglich hinter den Zinnen des Kaisergebirges schlafen, nur um jeden Morgen wieder zu erwachen. Soll die Sonne der ewigen Liebe in ewiger Nacht versinken? Spiel und Dichtung müssen wieder in das Innerste dringen. Geist, Glaube, Sitte, Güte,1 Menschlichkeit und Reinheit müssen in der Seele das verhärtete Denken, die Erkenntnis, welches Paradies wir in uns und um uns verloren haben, lösen. Das religiöse Weihespiel soll mithelfen, einer zerspaltenen, hassenden, gequälten Menschheit Liebe und Frieden zu bringen. Der große Österreicher Ignaz S e i p e 1 prägte das Wort von der „Sanierung der Seelen“. Der große erzieherische Wert des Werkes von Thiersee, dieses österreichische Erlebnis, bedeutet Läuterung. Das einmalige Weltdrama wird zum Spiel der allmächtigen Liebe. Aus Häßlichkeiten, aus aufpeitschenden Sensationen kommenefc schauen wir unerhofft ein einfach schönes, menschliches, schlichtes, irdisches *und zugleich gottbeseeltes Kunstwerk.

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