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Das Erste und Wichtigste

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Das Verhältniswahlrecht, das bei uns in Österreich für die gesetzgebenden Körperschaften Wahlmodus und Stimmenzählung bestimmt, bringt neben seinen Vorzügen seiner Natur nach überall, wo es regiert, nachteilige Nebenwirkungen hervor. Die diesem Wahlsystem innewohnende Automatik verleitet dazu, an die Stelle der engen persönlichen Beziehung des Gewählten zu seiner Wählerschaft, zu ihren Sorgen, Anliegen und Beschwerden und an Stelle eines so erwachsenden unmittelbaren Vertrauensverhältnisses zwischen Volk und Gewählten den Parteimechanismus einzuschalten; sie verwandelt den Gewählten, der Volksmann zu sein oder zu werden bestimmt ist, in einen Parteimann; was er versäumt oder verfehlt, dafür hat dann die Partei zu haften und erste Verantwortung zu tragen. Die Nachteile dieses Wahlsystems vermag in ihren Wirkungen eine straffe Parteiorganisation und die Disziplin einer politisch geschulten Wählerschaft auszugleichen, eine Befähigung, die dem Sozialismus stärker innewohnt als anderen Massenparteien. Die unerläßliche kritische Untersuchung des letzten Wahlereignisses — eine sachliche, nicht bloß von Gefühlsmomenten bestimmte Untersuchung, wird auch festzustellen haben, wie weit die persönliche Entfernung vieler Abgeordneten von ihrer Wählerschaft, der Mangel an persönlicher Einfühlung und Beschäftigung mit ihren Bedürfnissen, auch das Ergebnis vom 27, Mai gerade für die Volkspartei mitverursacht hatten. Es ist falsch, wenn, abgesehen von den sehr löblichen Ausnahmen, die Orientierung der Wählerschaft in unmittelbarer Aussprache fast ausschließlich durch die Reden der Prominenten, der Minister und sonstiger hoher Amtsträger und durch eine beamtete Presse erfolgt. So konnte es geschehen, daß selbst für jene primären Aufgaben, deren Lösung den Lebensraum und die Lebenssicherung unseres Volkes zu gewährleisten hat, wohl einzelne lobenswerte parlamentarische Initiativen erfolgen konnten, aber ausblieb die große Volksbewegung, die zum Begehren ihrer einfachen Lebensrechte die Massen aufreißende, von den berufenen Volksboten geführte Volksbewegung, ihr unwiderstehlicher Angriff zum Schutz der heute schon in ihren Grundfesten bedrohten Familie, zur Errettung unserer Ju-$nd aus den ^Slums einer moralisch zerlumpten Umwelt und zur Herstellung des Wohnrechts der Menschen selbst dieses grausamen 20. Jahrhunderts.

Hier Wandel zu schaffen, ist eines der ersten Erfordernisse.

Die Familie! Die Jugend des Landes! Gibt es kostbarere Güter, die zu hüten Pflicht einer staatstragenden politischen Bewegung ist? Auf der Familie ruht die Gegenwart, auf der Jugend die Zukunft. Kinderreiche Familien bedeuten nidit nur Steigerung der Produktion und des Konsums — abertausend positive Kräfte regen sich und werden wach, wenn die Familie geschützt wird. Dieser praktische Familienschutz, gefordert auf zahlreichen Tagungen, ist in Angriff zu nehmen. Es darf nicht weiter hingenommen werden, daß über die kinderreiche Familie hinweggesehen wird wie über eine zeitwidrige Erscheinung, belächelt von einem aufgeklärten, kinderlosen, hundebesitzenden Herrenfahrerpublikum, bestraft durch das Steueramt. gepfercht in überenge Kleinwohnungen. Ein deutscher Priester hat sie .die Illegalen“ in der heutigen Gesellschaftsordnung genannt, die Menschen außer der gesetzlichen Ordnung.

Wir stehen in den Tagen der Volkszählung. Trockene Statistiken vermögen eine erschütternde Sprache zu sprechen. Schon jetzt aber beweist ein Blick auf Wien, auf alle unsere Städte, aber auch auf viele Landgemeinden, ehe noch die abschließenden Zahlen vorliegen: überall, nicht selten mehr auch auf dem Lande, überwiegt bereits die E i n k i n d-familie und drängt noch Schlimmeres vor. Wissen es unsere Gesetzgeber, daß nicht weitab von der Großstadt die Kin. derlosigkeit der „weiße Tod“, in wohlhabenden Bauerngemeinden haust und der bäuerliche Hof, einst der stolze Besitz alter bäuerlicher Geschlechter, zu wandern beginnt, weil keine Kinder, keine Erben da sind! Unter unsern Augen, wenn wir nicht blind sind, welkt die Volkskraft dahin. In den Reihen der geistigen Arbeiter, Akademiker und Beamten ist die kinderarme Familie seit Jahrzehnten der Normaltyp. Neben ihr „entwickelt“ sich in den letzten Jahren in erschreckendem Umfang die letzte Degeneration: die Keinkind-familie. So ist eine neue konstruktive Familienpolitik ein Politikum ersten Ranges geworden. Für die oft von uns Christen berufene „Sanierung der Seelen“ bedarf der Mensch eines äußeren Lebensraumes, in dem er sich nach seiner natürlichen Bestimmung entfalten kann, Das heißt: Die Lohngestaltung wie die Besteuerung ist systematisch und planmäßig auf einen Familienlohn hin zu entwickeln, der das gerechte Auskommen sichert.

Das Raumproblem aber besagt: Es ist Ernst zu machen mit einer umfassenden Wohnraumbeschaffung. Fremde Beispiele, die uns beschämen können, gibt es genug. England hat nach diesem letzten Krieg seine Bevölkerung auf ein spartanisches Lebensmaß verpflichtet und ein Wohn-, ja ein Städtebauprogramm durchgeführt, das hohe Beachtung verdient. Im zerbombten Deutschland haben Siedlungsgenossenschaften, christliche Wohnbauwerke, Arbeitsgemeinschaften von Städten Bedeutendes geleistet. Vorbildlich für Österreich zeigt sich das in zwei Kriegen verarmte und arg hergenommene kleine Finnland. Hier galt es, hunderttausende Rücksiedler aus Karelien unterzubringen. Neue Industriestädte entstehen, modernste Wohnanlagen, in genialer Planung entworfen und ausgeführt. Die finnische Wohnbaupolitik zeigt, wie schnell, wirksam und auskömmlich geholfen werden kann. Wenn wir hier in Österreich schon nicht, wie es in den USA mit Großbaumaschinen möglich ist, in 15 Minuten den Grand ausheben und alsbald in wenigen Stunden einstöckige Fertighäuser bauen können, so dürfen wir doch nicht durch bürokratische, unter anderen zeitlichen Voraussetzungen entstandene und damals vielleicht gerechtfertigte städtische Bauordnungen in zeitwidrigen Methoden der Wohnbaupolitik steckenbleiben. Und da auch löbliche Anstrengungen kommunaler Wohnraumbeschaffung erwiesenermaßen der würgenden Wohnungsnot nicht ausreichend abhelfen können, so muß der Privatinitiative energischer Spielraum geschaffen werden, als es bisher geschah. Wohnbau ist Dombau, sagt man in Deutschland, Wo h n-bau ist Staatsbau, könnte es in Österreich heißen. Die Gesundung Österreichs wird' bestimmt wer* den von der Gesundung der Familie.

Von der Familie wird geborgen oder nicht geborgen die Jugend. Die junge Generation besitzt zum großen Teil diesen Hort der geordneten Familie nicht mehr. Allein in Wien haben 30 Prozent der Schulkinder keinen Vater. Die Jugendkriminalität, die Anfälligkeit der Jugend für Schmutz und Schund kommt zu allermeist nicht aus schlechter Veranlagung, sondern aus dem Verlust des Schutzgürtels, welchen die Natur in der Organisation der menschlichen Gesellschaft errichtet hat. Ohne rechtes Obdach und erste Heimat in der Familie wächst ein wurzelloses Geschlecht heran. Wer sagt dem jungen Menschen eine Zukunft voraus, für die er unter heutigen Umständen nicht einen vernünftigen Glauben zu nähren vermag, in absehbarer Zeit eineFamilie zu gründen. Und dies ist heute das Schicksal der jungen Menschen breitester Kreise des sogenannten MittelStandes, der kleinen Beamten und Angestellten, der Intellektuellen, der heranwachsenden und studierenden Jugend. Das jahrelange Schweigen dieser Kreise, die keine Gewerkschaft und kein kriegerischer Bund machtvoll vertritt, ist bisher nur auf Sektoren zum Ausdruck gekommen, die man gerne geringschätzig übersieht. In schwachem Konsum hochwertiger Bücher und Kulturgüter, im Unterbesuch unserer Theater, in der hochprozentigen Nichtteilnahme der Studenten an den Hochschulwahlen, im Auswandern fähigster, qualifiziertester Köpfe und Facharbeiter, in Ärztestreiks und in der Demoralisierung der Jugend und immer wieder und am entscheidendsten im Schrumpfungs- und Verfallsprozeß der bürgerlichen Familie. Familien-schutzpolitik, Wohnbaupolitik, Jugendschutzpolitik — wenn gegen diese drei großen Notstände Ernsthaftes geschieht, so sind damit wohl nicht die Pflichte einer gewissenhaften Volksvertretung ausgeschöpft, aber doch die pflichtgemäße Obsorge erfüllt für die ersten Lebensbedingungen Hunderttausender unserer Mitmenschen.

Bisherige Versäumnisse? Kritik soll nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Dem Ausschlaggebenden gelte das erste scharfe Augenmerk.

Man hat einmal richtungweisend die Losung Solidarismus“ ausgegeben. Daß das Wort keine gute Klangfarbe hat, eine Parole, die geklügelt und wie Buchtheorie anmutet, hatte wenig zu sagen. Der Sinn der Losung ist aber nur schüchtern verifiziert worden. Rückhaltlos ist nachzuprüfen, inwiewieit die Verifikation durch eine bündisch - individualistische Aufspaltung behindert und dem wahren Wesen einer alle Stände solidarisch zu eherner Geschlossenheit umfassenden Volkspartei Abbruch getan worden ist. Solidarität im Rahmen einer Volkspartei heißt Gemeinschaft aller Stände auf Grund des inneren Ausgleichs der Interessen, des ständigen Vollzugs der Einheit nach innen und außen mit der gleichen obersten sachlichen, sozialen und staatspolitischen Zielstellung und der sauberen Haltung und Reinerhaltung der fundamentalen Grundsätze. Niemand will die Herstellung einer konfessionellen Partei, aber darüber muß Klarheit bestehen: Nicht ein Quodlibet, nicht ein Wald- und Wiesen-Humanismus wird die Menschheit aus ihrer großen Not retten, sondern die Reform der Gesellschaft aus den sittlichen Kräften eines lebendigen Christentums, dem es um seine Verantwortung für unsere Mitmenschen ganz ernst ist, eines Christentums, das diese Erde nicht den dämonischen Mächten des Umsturzes überläßt.

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