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Das ewige Pfingsten

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Können wir das heute noch? Jenes Ausmünzen der heiligen Botschaft in die Erbaulichkeit und praktische Nutzanwendung, aus dessen Kunstfertigkeit vor noch nicht allzulanger Zeit die Feiertagsbetrachtungen der Zeitungen geboren wurden? Die Weihnachtsbotschaft auf den Fluren Bethlehems und die Wirklichkeit unserer Jahrhundertmitte — eine Kontrastwirkung, die eigentlich nur des Nebeneinandersteilens von Evangelientext und Zeitchronik bedürfte! Kein Geringerer als der Heilige Vater selbst wählte in seiner die Welt in heilige Unruhe versetzenden Osteransprache diesen Weg der Verkündigung: das Osterevangelium in lichtvoll-einsamer Höhe und die hämmernd-sachlichen Feststellungen der Tatbestände des Wasserstoffbombenzeitalters, scheinbar beziehungslos nebeneinander Auch wir können heute picht anders verfahren:

Auch Pfingsten ist kein liebliches Fest“ bürgerlichen Selbstgenusses mehr;,’ sondern ein fordernder, uns durch die Unmittelbarkeit des alljährlich verlesenen heiligen Textes bloßstellender Anruf. Die bunten Brillengläser naturschwärmender oder . gesellig- freundlicher Betrachtungsweise, durch die wir das Pfingstgescheheh anzusehen pflegten, sind zerschlagen. Was blieb und was sich dem unbewaffneten, unverschleierten Blick darbietet, ist dies:

Aus einem bislang verschlossenen Haus treten zwölf Männer und eine Frau um die dritte Stunde eines jüdischen Festtages in das Gewühl der durch fremde Pilger zur Weltstadt gewordenen Metropole Jerusalem. Ihr Gehaben ist das von Trunkenen, von geheimnisvollen Ekstasen Beherrschten, für den Orient von damals keine besondere Seltenheit. Viele eilige und von anderen Gedanken okkupierte Menschen wären bestimmt vorübergegangen, der sonderbaren Heiligen nicht achtend. Und nun geschieht das Merkwürdige: Sie verkünden mit Worten, die uns nur bruchstückweise überliefert sind, eine Botschaft, die sie allein für ihr jüdisches Volk gedacht hatten. Eine Bekehrungsrede, wie sie ähnlich von den Propheten am gleichen Ort gehalten worden war. Und alle, die dabeistehen, hören dies mit einem Male in ihrer Muttersprache. Das Mysterium, bisher ängstlich gehütet von den Eingeweihten, als ein in stammelnden Ausrufungen der Pythia kaum zu deutendes Rätselwort, das Mysterium, um dessen Benennung sich selbst Sokrates vor Richtern und Freunden vergeblich mühte, steht auf dem Marktplatz. Das Geheimnis der Erlösung und des Opfers, der Wiedergeburt und der Wiederkunft wird ihnen allen in gleicher Weise Erlebnis. Und dies, wie das zweite Kapitel der Apostelgeschichte eindeutig sagt, „in ihrer Muttersprache“. Dem Aegypter, der in die verschlüsselte Symbolwelt der alexandrinischen Kulte eingeweiht war, dem in Geld- und Realwert denkenden Kreter, dem rationalistisch folgernden Römer, dem dumpfen Kultoffenbarungen ergebenen Phrygier:ihnen allen ertönte die eine und einzige Heilsbotschaft in ihrer Muttersprache. Das Mysterium, bislang selbst in den Reden des Herrn, in den wichtigsten Punkten dem geschlossenen Kreis der Apostel allein anvertraut, war nun wahrhaft in die Welt ausgegossen. Die großen Gewaltherrscher der Weltreiche von Assur und Babel hatten in heftigen Träumen daran gedacht: Eine Welt, e i n Reich, einen Gottkönig und eine Sprache zu schaffen aber ihr Werk war gescheitert oder war mühsames Deichbauen einer immer wieder einbrechenden Flut gegenüber gewesen. Hier aber war die Freiheit nicht nur unverletzt, sie war sogar verklärt, und die Muttersprache war nicht ein nach Dolmetschern verlangen des Hilfsmittel, sie war Gefäß der Offenbarung selbst geworden. Seit der dritten Stunde des Pfingstmorgens gibt es für den Christen kein Recht und keine Berufung mehr auf die Geheimlehre der Eingeweihten, auf das Vorrecht und die Sondersprache der schwarzen oder auch der vermeintlich weißen Magier. Die Gerechtigkeit des Vaters und des Sohnes hat sich in der Ausgießung des Heiligen Geistes gegenüber jedermann geoffen- bart und damit auch die Sünde derer, die diesem Befehl des Wortes nicht nachkamen und damit das Gericht, das über eine Welt hereinbrechen mußte, die zur hochmütigen oder trägen Sprachverwirrung und Sprach- verschlüsselung zurückkehrte.

Nicht als ob an jenem Morgen die Gleichmacherei proklamiert worden wäre, die kindische Verniedlichung, die brutal-demagogische Vereinfachung. Es waren ja trotz allem die altgeprägten Kultursprachcn, die ziselierten Gefäße des Edelweines, deren sich Propheten und Philosophen bedient hatten, Gefäße, die nicht zerschlagen und eingeschmolzen, sondern behutsam gefüllt wurden. Was aber nicht mehr sein konnte, das war die Abschließung, die hochmütige Freude am Anderssein, die Unverständlichkeit als Selbstzweck.

Und seither? Hat die Sünde derer, die dem Auftrag des Heiligen Geistes zuwider handelten, aus eitler Nachlässigkeit, träger Konvention oder mühsam getarntem Hochmut, jemals aufgehört in den sogenannten christlichen Jahrhunderten? Brauchen wir im übrigen mühsam andere Jahrhunderte zu durchforschen und vergangenen Generationen die, Verfehlungen aufzurechnen? Es genügt, unser • eigenes Heute dem unwiderruflichen Auftrag des Pfingstmorgens gegenüberzustellen:

Die Verwirrung dieser Tage ist nicht bloß ein Verhängnis, sie ist eine Schuld. Dieser Schuld gegenüber muß auch die Reihe der von besten Absichten getragenen Ueber- brückungsversuche, von den „Kunstsprachen" bis zu den komplizierten Kopfhörersystemen der internationalen Konferenzen, letzten Endes erfolglos bleiben. Der Riß trennt nicht Volk von Volk, Nation von Nation, er scheidet Menschen in einem viel tieferen Bereich voneinander.

Dem System der Geheimsprachen mannigfaltigster Art steht eine Menschheit gegenüber, die ihre Welt aus Elementen aufbaut, die weder mit der Wasser- noch mit der Feuertaufe von ihrer natürlichen Unvollkommenheit und Erbsündlichkeit erlöst sind; eine nicht wiedergeborene, grausam-primitive Welt. Die Geheimsprachen aber sind das Logenzeichen derer geworden, die den Sendungsauftrag des pfingstlichen Geistes mit der Absonderung beantworteten, die die in der Morgenstunde aufgesprungenen Türen verriegelten. Ihre Skala reicht von den wortmagischen Gebilden von Dichtern, Denkern und Literaten bis zu den barbarisch-hochmütigen Buchstabenabkürzungen der Technokraten. Unheimlich aber ist, daß sich dies alles in einem andauernden Zustand der neuerlichen Teilung, Aufspaltung, der unaufhörlichen Gruppenbildung befindet. Jeder Tag bringt neue Geheimsprachen hervor, neue Worte werden aus dem Tagesgebrauch gezogen und in den verdunkelten Einweihungsstätten verhext. Das verhältnismäßig harmlose Wortmachespiel der Tagespolitiker und einer ihnen weder Widerstand noch erzieherische Hilfe leistenden Presse steht hier nur am Rande.

Nichts anderes wird diesem Prozeß einer erneuten Sprachverwirrung babylonischen Ausmaßes, diesem weltweiten „Gegen- p f i n g s t e n“, Einhalt gebieten können als ein zweifaches Geschäft:

Die Kärrnerarbeit derer, die sich heute um die Verständigung auf allen Bereichen bemühen, an erster Stelle. Die Bemühung, Schritt für Schritt den Irrweg bis zur einst verlassenen Kreuzung zurückzulegen und damit in gleicher Weise vorwärts zu schreiten. Das redliche Reinigen der Grundelemente menschlichen Glaubens und Denkens von den unechten Ornaten der „Weltanschauungen“, für die es bezeichnenderweise in den romani-sehen Sprachen keine dem deutschen Ausdruck adäquate Uebersetzungen gibt. Abbau und Aufbau in einem! Zertrümmerung der Ideologien und Ersatzreligionen welcher angemaßten Präpotenz immer, und das Aneinanderfügen der einfachsten, sauber behauenen Steine zu einem menschenwürdigen Wohnhaus der Spradie.

Das zweite und das eigentlich entscheidende Geschäft aber wird denen obliegen, in deren Verwaltungsbereich einst die für unsere Welt verhängnisvollste Entwicklung ihren Anfang nahm: Den Theologen, die auf den Tag genau vor 900 Jahren dem Schisma zwischen dem christlichen Osten und Westen keinen entscheidenden und wirkungsvollen Widerstand entgegensetzten. Schon im 9. Jahrhundert war es der Streit um die Bulgarenmission, der wie ein Alarmzeichen anmutet. Bis in jene Anfänge der europäischen Geistesgeschichte, im Grunde bis zum Pfingstmorgen selbst werden wir zurücksteigen müssen, um auszumessen, was uns zu tun bleibt. Nichts ist freilich zu „restaurieren“ oder aus gänzlich veränderten Bedingungen her zu korrigieren. Alles aber bleibt als unabweisbarer Auftrag, was nicht zu irgendeiner Stunde gültig bewältigt wurde. Und wir müssen es zu Pfingsten sagen, wie an den anderen fordernden Festen der göttlichen Botschaft: Wir sind unnütze Knechte gewesen. An unseren Früchten erkennt man uns

Die mysteriengläubigen neuen Gnostiker in Paris, die Männer in Asien, in Afrika, in Arabien hören und verstehen uns Christen heute nicht mehr. Und nicht deshalb, weil wir zu wenig wissen — was wußten schon die Fischer von Galiläa? — oder weil wir zu wenig beachtet werden — wer drehte sieh denn schon in Jerusalem nach einigen Straßenpredigern um? —, sondern dies, weil wir, die ohne eigenes Verdienst berufenen Künder der

Botschaft alles andere eher verkünden wollen als das, was der Heilige Geist aufträgt zu jeder Stunde: Es ist nicht die Metaphysik und nicht die politische Gebrauchsanweisung, auch nicht die Erbaulichkeit und der prickelnde Rausch der süßen Erschütterung, sondern das Tiefste und zugleich das Lebendigste, das, was in den Gemächern ins Ohr geflüstert wurde und auf den Straßen verkündigt werden muß : die Macht der göttlichen Liebe; die sich anbietet, alle Menschen zu Brüdern zu machen, die das Wort Gottes verstehen in ihrer Muttersprache und darnach handeln.

Mitten in unseren Tagesstreiten, mitten in den weltpolitischen und innenpolitischen Kämpfen bitten wir um den Geist, der uns wirklich freimacht: so, daß wir einander hören und einander helfen können. Nie zuvor bedurften die Welt, die Weltmächte, jedes Volk und jeder Mensch so sehr des Trostes der Pfingstbotschaft wie heute.

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