Die Sonne des späten Tages; ihr warmes, rotes Gold fällt auf die Menschen, die auf dem harten, graslosen Boden sitzen. Tausende von Menschen, viele Tausende. Sie sitzen, ganze Sippen, Mann und Frau und Kinder, viele Kinder, auf den noch unbebauten Bauflächen am Rande der großen Stadt; sie sitzen am Straßenrande der breiten Reichsstraße, die nach Madrid führt; sie stehen in kleinen Gruppen, Freunde und Freundinnen, geduldig hintereinander, und springen über die Schnur; Erwachsene, Männer und Frauen. Und sie tanzen, begleitet von einem Harmonikaspieler, auf der Straße. Langsam schiebt sich der Wagen durch die Massen. Sie sind überall da; es ist, als ob die Städte und Dörfer sich ausgeschüttet hätten, ausgegossen in alle Wege und Straßen, an alle Ränder der Berge.
Ich habe niemals in meinem Leben soviel lachendes, leuchtendes, spielendes Volk gesehen. Massen, aber keine Masse. Denn diese vielen Tausende, Zehntausende da am späten Nachmittag des Festtages, an und auf der Straße von Valencia nach Madrid, die da über die Schnur tanzen, „Kometen“, das heißt Drachen steigen lassen — ein altbeliebtes Vergnügen des Volkes, Goya hält es mit leuchtenden Farben im Prado fest —, sind nicht ein Menschenstrom, wie er allüberall an Sonn- und Festtagen vom Fußballplatz sich ergießt, sondern bilden sehr bestimmte Gruppen, Gruppen von Freunden und Freundinnen, Familien, Großfamilien mit Kind und Kegel, eng gepfercht in den Karren, den, der geduldige Esel zieht, gelagert mit Eßkorb, und Weinsack im spärlichen Grase auf dem steinigen, gelben und roten Boden am Rande der großen Stadt. Der Weinsack: wie in den Tagen Homers und des an Mühsal und Leid gewohnten Dulders Odysseus wird der Wein geborgen in der dunklen, schwärzlichglänzenden Kuhhaut. Der Mann, die Frau aus dem Volke setzen den Schlauchsack nicht an den Mund, sondern lassen in weitem Bogen das köstliche Naß dem Munde zuschießen. Das Land Homers, Griechenland, drängt sich immer wieder dem wachen Sinn des Reisenden auf, der durch die spanischen Lande fährt. Stein, Stein, Stein, Armut des Bodens, Mangel an Wasser, an Bewässerung. Der Oelbaum und ,die Rebe. Die harten, scharfen Konturen der Berge und Kuppen: vier, fünf Reihen von Bergen werden oft hintereinander sichtbar. Es ist nicht nur die äußere Landschaft, die den mit uns fahrenden Engländer, der lange in Griechenland weilte, und mich auf die Aehnlichkeit der spanischen und griechischen Lande hinweist, es ist-das Volk selbst.
Dieses arme, einfache, genügsame, kluge, erfindungsreiche, phantasiereiche Volk des spanischen Arbeiters, des spanischen Kleinbauern. Dieses Volk ist wohlerfahren, aus der Not eine Tugend zu machen, und es weiß dem grauen Tag einen lichten Abend abzuringen und aus der dürftigen, von Sorgen aller Art umwucherten Existenz die Freude zu ziehen. Die Löhne der Arbeiter, der Heere der kleinen und mittleren Angestellten — Spanien ist, wie Alt-byzanz und manche andere alte Reiche, ein labyrinthisches Schloß zahlreicher, fast zahlloser Bürokratien, die, ohne Rücksicht und Kenntnis voneinander, gegeneinander regieren, amtieren — sind den Preissteigerungen der Nachkriegsjahre nicht gewachsen. Der Landmann, der Bauer, verdient sich, mit Einsatz aller seiner Familienmitglieder, das nackte Leben. Er ist kein Konsument für die im Aufbau befindliche Industrie, die unter dem Druck staatlicher Zwangsbestimmungen und Sozialordnungen seufzt. Es ist heute weltbekannt: in wenigen Ländern wird mit soviel Lust, Leidenschaft und gutem Willen von oben her die Arbeit und das Lohnsystem der Wirtschaft und Industrie reglementiert wie in Spanien. Das staatliche Einheitssyndikat — soll man diese Institution Gewerkschaft nennen? — und eine ganze, weit ausgedehnte Sozialgesetzgebung legen sich mit zahlreichen Gesetzen und Verordnungen über das Land, über das Volk. Sehr viel erinnert da an den aufgeklärten Despotismus Kaiser Josephs IL, manches auch an die Reform- und Zwangsmaßnahmen des Zaren Peter des Großen, an das strenge Befürsorgungswesen- der preußischen Könige und Landesväter im 18. Jahrhundert. Warum diese ausgesuchten Vergleiche? Genügt es nicht, darauf hinzuweisen, daß eben Spanien heute, wie so viele andere Länder und Völker, immer stärker in die Maschinerie heutiger Bürokratien, Gesetzgebungs- und Sicherheitsmaschinen einbezogen wird, die das Leben jedes einzelnen immer stärker „betreuen“, verwalten, „ordnen“?
Warum ist Spanien immer noch ganz anders, zumindest sehr anders? Weil dieses Volk sich noch die alte Art erhalten hat, die bis ins 17. und 18. Jahrhundert herauf in den meisten Ländern Alteuropas die Basis alles Lebens bildete: mag von „oben“ her regiert, verordnet, gedruckt und gedrückt werden — dieses Volk hat sich, unbekümmert um seine väterlichen und überväterlichen Regierer, seine inneren Spielräume und Lebensformen erhalten: in seinen Familien und seinen so überaus vielfältigen brüderlichen Gruppen, Bünden, Kreisen. Cofraderia — „Konfraternität“, Genossenschaft, Bruderschaft, Clan, Clique —, dieses Wort Cofraderia ist unübersetzbar — die Fischer in der kleinen Stadt am Meer bilden ein Cofraderia, die in unwahrscheinlich prächtigen schar-lachenen, giftgrünen, weinroten, veilchenblauen, türkisenen, meterlangen Kapuzen und Mänteln zur Prozession aufziehenden Gebetsbruderschaften bilden ihre Cofraderia —; unendlich weiter und tiefer aber' noch als dieses Wort ist die gesellschaftliche, geistige, kulturelle und auch politische Wirklichkeit, die dahintersteht. Sie ist die Grundlage der überaus reichen, überraschend bunten und lebendigen Spielräume, die dieses Volk sich bewahrt hat, die es gerade heute zu einem der interessantesten Phänomene in Europa und zu einer Hoffnung für die Chancen der Freiheit in der zukünftigen Welt machen.
Der junge Arbeiter debattiert mit seinen Freunden an der Theke der „Bar“; die vielen kleinen und größeren Gastwirtschaften sind „bumvoll“. Das aber heißt: die Speisesäle im Hintergrund sind leer, ein „komplettes Essen“ ist für den Mann aus dem Volke viel zu teuer; vorne aber, an den langen Schankborden, drängen sich, wohl abgesetzt, die kleinen Gruppen der Freunde. Debattiert wird sehr offen und sehr unbekümmert. Man hat nicht den Eindruck, daß diese Menschen das Damoklesschwert des Gesetzes, der Diktatur, über sich hängen fühlen. Wohl hängt manches über ihnen; hier, in dem überfüllten Lokal in San Sebastian, sind es sichtbar andere Dinge: Schinken, am Schweinsfuß aufgehängt, gehüllt in Säcke, damit sie nicht auf die unter ihnen stehenden Menschen ihr Fett vertropfen. — Es ist üblich, daß diese jungen Männer von „Wirtschaft“ zu „Wirtschaft“ ziehen; jede Runde bezahlt ein anderer; bis die Reihe wieder am ersten ist.
Dieser spanische Arbeiter ist sehr genügsam; er ist intelligent, arbeitsam, erfinderisch; ein Meister im Improvisieren. Improvisieren, „es sich richten“, muß jeder können: der Familienvater, der etliche Nebenberufe ausüben muß, um seine Familie zu erhalten. Die Hausfrau, die die billigsten Geschäfte und die Märkte für Lebensmittel kennen muß, denn die Preisunterschiede sind enorm. — Dieses „Es-sich-Richten“ ist bekanntlich eine im Mittelmeerraum weitverbreitete Fähigkeit, sie gilt für die Lebenskunst des italienischen und französischen Kleinbürgers und der Familien des Volkes ebenso wie für den Spanier. Den Spanier charakterisieren jedoch dazu drei Eigenschaften: Unabhängigkeitssinn, politische Leidenschaft und intellektuelle Neugierde. Kein Volk, kein Land ist heute in Europa weniger ein Eintopf, ist innerlich weniger gleichgeschaltet als Spanien. Eine Fülle von kleinen, kleinsten und größeren Gruppen, Kreisen ringt hier unablässig miteinander und ineinander. Das ist nämlich hoch charakteristisch: gerade in den einzelnen politischen, kulturellen und intellektuellen Gruppen, mögen sie nun einmal mehr „konservativ“, „christlich-demokratisch“, „falangistisch“ oder monarchistisch gefärbt und getönt sein, stehen sich Männer gegenüber, die sehr anders sind, gerade auch als ihre oft engsten persönlichen Freunde.
Das mitteleuropäische Alphabet stimmt für diese Persönlichkeiten, für ihre politischen und geistigen Haltungen und Ueberzeugungen einfach nicht. .
Spanische Konservative beobachten wach und ganz unbefangen alle politischen, gesellschaftlichen und sozialen Experimente, die heute irgendwo in der Welt gemacht werden. Es gibt spanische Monarchisten, die demokratischer sind als viele demokratische führende Persönlichkeiten in Formaldemokratien, es gibt spanische sehr weit „rechts“ stehende Männer, die in anderen Ländern als Linksrevolutionäre zu bezeichnen wären, und es gibt spanische Katholiken, die sich eine geistige Freiheit und Wachheit bewahrt haben, um die sie viele europäische und amerikanische Katholiken beneiden müßten, wenn sie diese innere Weite und Offenheit sehen und verstehen könnten. Was also hält diese Männer zusammen, die dem Fremden als ein Bündel von inneren Widersprüchen, als eine sehr differenzierte Verbindung gegensätzlicher Anlagen und Strebungen erscheinen mögen? Die „Freundschaft“ im Kreis, in der Gruppe, dieses tägliche miteinander Essen, Trinken, Disputieren, Sichauseinandersetzen mit einigen Freunden, die über Franco, Picasso, Rom, die Steuergesetzgebung und einen neuen Roman sehr verschiedener Ansicht sind, einig aber in einem: im Streben, die innere Unabhängigkeit der eigenen Person zu behaupten, in einem eigentümlichen nationalen Universalismus und in einem wachen Interesse für alles, was im politischen, geistigen und kulturellen Weltraum heute außerhalb Spaniens vorgeht.
Der staunende Fremde findet heute in Madrid eine intellektuelle Elite vor, wie sie kaum anderswo gegeben ist — mit einer einzigen Ausnahme: in den spanisch-südamerikanischen Intellektuellenkreisen. Nirgendwo wird soviel übersetzt, liest man soviel in fremden Sprachen, interessiert man sich für diesen und jenen Aufsatz, der in dieser und jener deutschen, amerikanischen, italienischen Fachzeitschrift erschienen ist. Diese spanischen Intellektuellen sind von einer enzyklopädischen Wißbegierde erfüllt, wie sie in Zentraleuropa seit den Pariser Salons des 18. Jahrhunderts und seit dem Weimar Goethes und dem Berlin der Romantik nicht mehr gegeben ist. Gerade bekannte und hochangesehene Spezialisten, also etwa Aerzte, Juristen, Professoren sehr verschiedener Fakultäten, nehmen lebhaften Anteil an Forschungen und wissenschaftlichen Disziplinen, die kaum einen Zusammenhang mit ihrer Berufsarbeit haben.Spanien besitzt heute ein überaus reiches Zeitschriftenwesen, das, einzigartig in seiner Art, sehr objektiv die Neuerscheinungen des europäischen und amerikanischen Büchermarktes und Zeitschriftenwesens registriert. Unverkennbar steht hinter dieser intellektuellen Neugierde und Wißbegierigkeit ein politisches und zeitbezogenes Anliegen. Diese spanischen Intellektuellen sind sich innerlich klar darüber, daß die Emigration vieler der berühmtesten und bedeutendsten spanischen Wissenschafter, Künstler und Autoren seit dem Bürgerkrieg einen Aderlaß, eine Schwächung für die geistige Substanz der Nation bedeutet hat, und bemühen sich deshalb, diese aus der engeren Schicksalsgemeinschaft Ausgeschiedenen entweder zurückzurufen, mit ihnen in geistiger Verbindung zu bleiben oder sie legitim zu ersetzen durch eigene Anstrengung und Leistung. Der spanische Intellektuelle und geistige Arbeiter hat einen sehr echten Sinn für Qualität und ist sich im eigenen Hause sehr wohl über dessen Schwächen im klaren. Er wird diese dem Fremden gegenüber nicht deklamatorisch darstellen, spricht sich aber, wenn er Ernst und innere Teilnahme erspürt, sehr offen aus.
Hier wird eine Eigentümlichkeit sichtbar, die dem Europäer sonst nur bei Asiaten und Russen begegnet: es kommt nicht selten vor, daß man auf eine Frage hinsichtlich eines innerpolitischen, kirchlichen, religiösen spanischen Phänomens zunächst einmal eine ausweichende Antwort erhält, nicht selten auch die Versicherung, daß dieses und jenes Problem für Spanien und den Spanier gar kein Problem sei — einige Tage später erhält man dann, mitten im Gespräch über ganz andere Dinge, überraschend offene und sehr präzise Antworten auf Fragen, die lange zuvor gestellt wurden. Dieses Verhalten ist aus der Scheu zu verstehen, die immer noch — in der Festung Spanien — gerade den gebildeten und hochkultivierten Spanier zurückhält, sich dem Fremden zu erschließen. Es ist nicht die Angst vor der eigenen Zensur, deren Schildbürgerstreiche in aller Mund sind — sie erinnern oft haargenau, etwa in der Theaterüberwachung, an die altösterreichische Zensur zu Grillparzers Zeiten —, und vor der eigenen Polizei, sondern das Wissen und die Erfahrung, daß es vieler Liebe und großer Geduld bedarf, sollen sich einem Außenstehenden und Fremden die innere Fülle, die wahren Schwächen und die wahren Stärken der spanischen Wirklichkeit erschließen.
Zwischen Europa und Afrika, zwischen Amerika und dem Osten — in Madrid findet eben eine Ausstellung russischer Ikonen, in Barcelona eine große Richard-Wagner-Saison statt — bemühen sich heute Spanier, ihrem Lande einen „Dritten Weg“ zu öffnen, um mit Rafael Calvo Serer zu sprechen. „Jenseits des amerikanischen und sowjetischen Materialismus“, eine Erschließung aller guten Kräfte Alteuropas im politischen, geistigen, religiösen Räume — unter sorgfältiger Beachtung neuerer Versuche in anderen Räumen. Das spanische Experiment, das hier in voller Entfaltung begriffen ist, hat eine weittragende Bedeutung: für eine neue Selbstfindung Europas; nicht zuletzt auch für Oesterreich.