Wannsee - © Foto Pixabay

Hannah Arendt: Das extrem Böse denken

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Empörend banal. Erschreckend gesetzestreu: So analysierte Hannah Arendt das Böse.

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Empörend banal. Erschreckend gesetzestreu: So analysierte Hannah Arendt das Böse.

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Das Spektrum des Bösen mag noch so viele Facetten aufweisen, wir sind darin geübt, ihm ein fest umrissenes Antlitz zu verpassen. Seit wir Märchen hörten, Western sehen und Geheimdienst-Thriller lesen, wissen wir: Die Hexe, der brutale Banditenboss und die feindlichen Agenten sind böse. Diese Entschiedenheit in der Zuordnung lassen wir gegenüber realen Gestalten meist vermissen. Diese haben vielleicht einen schlechten Charakter, ihre egoistischen Antriebe nicht ausreichend unter Kontrolle oder einen zu geringen Abstand vom Wirbelsturm ihrer Gefühle.

Das Gegenteil des Guten erschreckt und fasziniert zugleich die Menschheit seit jeher. Schon die vorwissenschaftlichen Weltauffassungen trachteten das Widerfahrnis des Bösen durch Mythen oder Personifizierungen zu fassen, um dem Zusammenbruch des grundlegenden Vertrauens in die Welt zu begegnen.

Kein Vertrauen in die Welt

Für die Europäer des 18. Jahrhunderts war das Erdbeben von Lissabon noch ein manifester Ausdruck des Bösen und erschütterte die aufgeklärte Zuversicht bis ins ferne Königsberg. Dort arbeitete Immanuel Kant konsequent an der Trennung von Natur und Moral: Naturkatastrophen sind Übel ohne Sinn, ihre Ereignisse sind keine Zeichen; alles Böse hingegen ist ein Produkt des menschlichen Willens. Kant zu Folge besteht der Entschluss, sein Handeln an den guten (verallgemeinerbaren) oder bösen (egoistischen) Maximen auszurichten, in einem Freiheitsakt, der selbst weder historisch noch begrifflich einzuholen ist. Der Mensch kann, mehr noch: er muss wählen, wie er sein will. Deshalb hat er sich auch dafür zu verantworten.

Dieses Modell der ethischen Selbstwahl bewährte sich wohl auch bis ins 20. Jahrhundert hinein. Erst das Verbrechen der Schoa strafte die Ansicht Lügen, dass das Böseste, zu dem Menschen fähig sind, aus den Lastern der Selbstsucht stamme. Die systematische "Endlösung der Judenfrage" durch Akteure des NS-Regimes erzeugte erschreckend Böses unter dem Einsatz geringster Bösartigkeit und vielfach ohne das geringste Schuldbewusstsein. Wie also diese Form des extrem Bösen charakterisieren, wenn die Elemente der ethischen Wahl nicht mehr greifen? Wenn sich der Koordinator der "Endlösung", SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, mit einem Verweis auf Kants Kategorischen Imperativ rechtfertigt?

Im Angesicht dieser verkehrten moralischen Welt besagt eine verblüffend andere Bestimmung dessen, worin das Böse besteht: im Nicht-Denken. Diese These stammt von Hannah Arendt, einer der brillantesten Denkerinnen des 20. Jahrhunderts, die dennoch nicht Philosophin genannt werden wollte.

Der Grund dafür liegt in der Entwicklung der abendländischen Denkgeschichte. Das Todesurteil gegen Sokrates markiert für Hannah Arendt den Bruch zwischen Philosophie und Politik. Fortan habe sich das Denken vom Handeln mehr und mehr entfernt; und die Philosophen zogen sich zur Suche der einen Wahrheit in die Abgeschiedenheit des Dialogs mit sich selbst zurück. In diesem Sinn Philosophin zu sein, lehnte Hannah Arendt entschieden ab. Ihr Interesse galt der Pluralität als Grundbedingung menschlicher Existenz schlechthin, dem perspektivischen Denken und dem öffentlichen Austausch. So führte ihr Denkweg in die politische Theorie.

Extrem böse, banale Täter

Arendts Artikel für die Zeitschrift The New Yorker über den Eichmann-Prozess 1961 in Jerusalem lösten eine heftige Kontroverse über die Frage der moralischen Schuld an den bzw. der Verantwortung für die Verbrechen des Nazi-Regimes aus. Nebst anderem legte die Anklage Adolf Eichmann Verbrechen gegen das jüdische Volk sowie gegen die Menschheit zur Last, für die er zum Tod durch den Strang verurteilt wurde. Arendts Reportagen erschienen 1963 in Buchform. Selbst mit knapper Not den NS-Gräueln entkommen, ließ ihr die Fassungslosigkeit angesichts des systematischen Vollzugs von "Verbrechen, die niemand für möglich gehalten hätte", keine Ruhe. Auch 10 Jahre nach dem Erscheinen ihrer Untersuchung über Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft suchte sie nach Antworten auf die Frage: Wie konnte dies geschehen? Ihr Bericht von der Banalität des Bösen, wie der Untertitel zu Eichmann in Jerusalem lautet, schlug ein neues Kapitel in der Typologie der Verbrecher auf: das verstörende Paradoxon eines durch und durch banalen Täters, in dessen Taten sich jedoch das extrem Böse manifestiert.

Dass Eichmann spätestens seit der Wannsee-Konferenz (Jänner 1942) sein Äußerstes unternommen hatte, die "Judenfrage" endgültig zu "lösen" und durch sein Tun auch tatsächlich Millionen von Juden zum Schlächter geführt hat, stand außer Streit. Doch diese Gräuel hatte kein perverser Bösewicht, sadistischer Chefideologe, indoktrinierter Roboter oder fanatischer Judenhasser angeordnet, sondern ein schrecklich banaler Karrierist und erschreckend normaler Bürokrat, der für seine Taten, wie Hannah Arendt schreibt, "überhaupt keine Motive" zu haben brauchte. Um sein Gewissen rein zu halten, hatte es offenbar genügt, dass er sich "niemals vorgestellt [hatte], was er eigentlich anstellte". Zudem berief sich Eichmann im Unterschied zu anderen Angeklagten etwa der Nürnberger Prozesse gerade nicht auf einen wie auch immer gearteten "Befehlsnotstand". Vielmehr sah er sein Handeln durch das geltende Recht und die Organisationsstruktur Nazi-Deutschlands ausreichend gedeckt.

In diesem Sinn hatte Eichmann Kants Morallehre verstanden: Gesetz ist Gesetz; und Ausnahmen dürfen nicht geduldet werden. Zweifellos förderte der Kant'sche Pflichtbegriff wirkungsgeschichtlich das Ressentiment des kleinen Mannes. Wichtiger ist jedoch der Unterschied, den Hannah Arendt treffend benennt: Wenn bei Kant die Quelle des Gesetzes die praktische Vernunft ist, war sie im "Hausgebrauch", den Eichmann von seiner Philosophie machte, mit dem Willen des Führers identisch geworden. Eine maßlose Verehrung Hitlers und die Entschlossenheit, bis zuletzt ein gesetzestreuer Bürger des Dritten Reichs zu bleiben, motivierten Eichmanns gewissenhaft-kompromissloses Verhalten. Darüber hinaus bedurfte es keiner teuflisch-dämonischen Tiefe; "schiere Gedankenlosigkeit [und] Realitätsferne" genügten. Wer das "Recht" Hitlers als Stimme des Gewissens internalisierte, hatte damit dem Bösen die Eigenschaft genommen, als Versuchung an den Menschen heranzutreten.

Mangelnde Urteilskraft

Hannah Arendts Prozessberichte zeigen "die mögliche Banalität des Bösen nur auf der Ebene des Tatsächlichen", schildern ein Phänomen, ohne den Anspruch einer Theorie darüber zu erheben. Freilich bleibt die Beschreibung nicht folgenlos für den Diskurs über die Frage des Bösen als Grundkategorie jeder Ethik. In ihrem Denktagebuch hat Arendt selbst diese Reflexion weiter geführt, wie Wolfgang Heuer bei den Hannah-Arendt-Lectures 2005 präzis herausgearbeitet hat (vgl. Buchtipp unten). Für Arendt ist das Böse ein "Phänomen mangelnder Urteilskraft", denn erst der "Mensch, der nicht urteilt, den Unterschied nicht kennt, [wird] zu allem fähig". Erst die gedankenlose Anpassung und Hingabe ohne Tiefe und Leidenschaft vermochte den monströsen Vorsatz Hitlers in das Räderwerk eines industriellen Massenmords zu verwandeln.

Nehmen wir Hannah Arendts Gedanken ernst, dass nicht im Gewissen, sondern im Denken und Urteilen die Alternative zum Bösen liegt, dann muss diese These als Appell zur Fortführung des Projekts "Aufklärung" gelesen werden, gerade im Umgang mit jener Form des Bösen, die uns an der Schwelle des 21. Jahrhunderts erwartet hat und für die nicht ein Ort, sondern ein Datum Sinnbild wurde.

Der Autor ist Assistenzprofessor für christl. Philosophie in Graz.

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