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Das Gebet auf der Bühne

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Es liegt im Wesen der ernsten Dramatik und ist ihr immer gültiges Ziel, einen Weg zur Katharsis, zur Läuterung der menschlichen Seele zu weisen. Dieser fahrt naturnotwendig über Krisenpunkte, an denen der Mensch, gleichsam losgelöst aus der Harmonie des gottgelenkten Kosmos, zwischen Himmel und Hölle hängend, durch die freie Entscheidung seines Willens die neue Sicherheit des Guten erringt oder in die Tiefen der Verworfenheit stürzt. An jenen Punkten ist der Aufschrei der Kreatur zu ihrem Schöpfer, die Bitte um Erlösung aus Not und Schuld, das Merkmal aller Dichtungen, die aus christlichem Geiste — in seiner weitesten Bedeutung als Element des abendländischen Geisteslebens aufgefaßt — gewachsen sind. In diesen Augenblicken des Ahnens und Erkennens, der Reue und der Hinwendung zum Guten steht im Leben wie im Drama immer das Gebet. Nicht in einer konfessionellen, sondern in der ganz persönlichen Form, die dem 'Wesen des Betenden gerade und nur in dieser Situation gemäß ist: der Aufschrei aus Seelennot, das Stoßgebet, so, um nur ein klassisches Beispiel zu nennen, das Flehen Gretchens zur Schmerzensmutter im „Faust“. Der Dramatiker, der mit Recht Dichter genannt wird, hat die Kraft, im Zentrum seines Schauspiels den Konflikt des leidenden und entscheidenden Menschen so zu verdichten, daß seine Wirkung ausstrahlt auf die Miterlebenden. Ob er es mit Worten tut oder auf die sprachliche Formulierung verzichtet und den Ausdruck des Gebets dem Schweigen des Schauspielers anvertraut, kann nur er, der Autor, entscheiden. Grill-parzer ist im „Ottokar“ den Weg des Schweigens gegangen und läßt die Vorgänge in der Seele des Königs sich in den Worten einer frommen Dienerin spiegeln, deren inniger Jubel dem der Engel über die Heimkehr eines Sünders gleicht. — So steht das Gebet da als der große Angelpunkt der Tragödie, in dem sich nach allen dramatischen Höhe- und Wendepunkten die Lösung und Klärung anbahnt.

Die letzten Jahre haben auf der Bühne

— nicht nur in diesem Punkte — eine Tendenz zur Verdeutlichung und Vergröberung erkennen lassen. Seit das sakrale Spiel zum weltlichen Schau-Spiel geworden war, hatte sich die liturgische Sprache und damit das geprägte Gebet aus ihm zurückgezogen. Die Erneuerung des religiösen Weihespiels hat zu einer Verwirrung der Begriffe und einer Verwischung der Grenzen geführt, da nun auch das profane Stück die vom religiösen wieder auf die Bühne gebrachten Formen verwendet. Seither ist das „Vaterunser“ zum Rettungsanker aller jener geworden, die als Autoren oder Regisseure das Gebetswort in einem Drama nicht entbehren zu können glauben. Es enthebt den Autor der Notwendigkeit des persönlichen Bekenntnisses und läßt ihn doch als guten Christen vor sein Publikum hintreten. Außerdem ist seine Verwendung bequem, weil die meisten Schauspieler es beherrschen

— obwohl eine Probe des „Jedermann“ in Salzburg auch schon einmal das Gegenteil bewiesen haben soll —, und es wird leicht verstanden. So denken die Autoren. Und die Regisseure, denen heute eine Dichtung, die eine Zwiesprache zwischen dem Menschen und seinem Herrgott in ehrfürchtigem Schweigen hingehen läßt, zur bühnenmäßigen Verlebendigung übertragen wird, denken und handeln ebenso. Es ist ja nicht „sicher“, ob das Publikum einen versunken Knienden auch als Betenden empfindet und erkennt, man muß diese Tatsache ganz klarmachen und dazu eignet sich nichts so gut wie dieses Gebet.

Sie alle scheinen nicht mehr zu wissen, daß es „das Gebet des Herren“ heißt, daß diese Worte den Jüngern aus Seinem Munde geschenkt wurden als die vollkommenste -Verherrlichung des Vaters im Himmel und die innigste Bitte an Ihn. Auch haben sie längst vergessen, daß, ehe es im Gottesdienst gesprochen wird, die Gemeinde sich von ihren Sitzen erhebt und bei den vorher gesetzten Worten,. „Durch heilsame Anordnung gemahnt und durch göttliche Belehrung angeleitet, wagen wir zu sprechen“, sich darauf besinnt, daß in diesen sieben Sätzen das menschliche Geschick in seiner Gesamtheit eingeschlossen ist: Gotteskindschaft und Not der Welt, Angst und Hoffnung, Sehnsucht und Glauben.

Jener Kernpunkt des Dramas also, aus dem die Katharsis aufbricht, ist auf der Bühne gegenwärtig zu einer Form erstarrt, deren Weite und Bedeutung im Augenblick ihrer Verwendung kaum mehr bewußt wird. Nicht mehr der Geist der gesprochenen Worte, sondern ihre materiale Auffädelung zur Gebetsformel soll die „Erlösung“ herbeiführen. Aus der individuellen Bitte an den Schöpfer ist also eine — Beschwörungsformel geworden, die das Heil wirken soll.

Kein Gebet aber verlangt wie dieses die Stille der Besinnung auf den tiefen, weltumspannenden Sinn der wenigen Zeilen, die nun in leidenschaftlichem Rasen wie das vom Sturm getriebene Geklapper tibetanischer Gebetsmühlen über die Rampe dringen. Nicht nur hie und da einmal. In den letzten Jahren konnte der eifrige Theaterbesucher, der das „Pater noster“ seit seiner Schulzeit vergessen haben sollte, es aus dem Munde der Schauspieler wieder lernen. Wenn man die für solche Entgleisungen Verantwortlichen sucht, so sind sie zwar nicht genau zu ermitteln, der Tip auf den Regisseur, wo nicht Autor, stimmt meist. Da nun stellt sich heraus, daß es in den angekreideten Fällen durchwegs Persönlichkeiten sind, die in keinem primären Verhältnis zum christlichen Bekenntnis stehen und denen dergestalt verborgen bleibt, daß das Bekenntnis zu dem, der da „der Weg, die Wahrheit und das Leben“ ist, über Aufstieg oder Untergang unserer geistigen Existenz entscheidet und daß deshalb auch seine Formung nie behutsamer gewählt werden darf als heute.

Die Sehnsucht nach' Gott war kaum Je größer in den Herzen der Menschen und kaum je so sehr geleugnet. Daß Religion heute ein guter Geschäftsfaktor ist, wurde anläßlich verschiedener Filme bereits festgestellt. Dieser Standpunkt der Prosperität und Opportunität greift in der geschilderten Form auch auf das Theater über, das damit seinen Obolus an die Zeit entrichtet zu haben glaubt. Seiner größten Aufgabe — das Publikum erlebnismäßig aus dem Alltäglichen an die Schwelle des Ewigen zu führen — wird es .durch solche Äußerlichkeiten nicht gerecht. Daß die Menschen das Hinausrücken aus sich selbst leidenschaftlich ersehnen, daß sie in allem Nicht-Alltäglichen das eigentliche Leben verspüren, ist ein Rest gesunden Gefühls. Er wird durch primitive Ablenkung auf tote Geleise geführt. Der allgemeinen Scheu vor der Konzentration — die wohl durch manche Gegebenheiten unserer Zeit (nervliche Überspannung und anderes mehr) verständlich erscheint, der aber anders abgeholfen werden müßte — schließen sich die Bühnen an und weichen jeder Steigerung der geistigen Anforderungen aus, vor allem jenen seelischen Entscheidungen, die sich nicht in der sichtbaren Welt vollziehen. Auch das Gebet auf der Bühne soll vom Zuschauer nicht gesteigerte Konzentration fordern, es soll sich den Geleisen seines Denkens anpassen, auf daß keine neuen Spannungen in seinem Inneren entstehen.

Die Wurzel dieser anscheinend geringfügigen Erscheinungen liegen keinesfalls an der Oberfläche. Sie reichen bis dahin, wo die Erfüllung einer großen Mission des Theaters in Frage gestellt wird. Diese Aufgabe ist: Wirkung von Geist zu Geist über die Sinne, Erweckung aus der Mechanisierung des modernen Daseins. Das Gebet hat seinen Platz in diesem Ringen auch auf der Bühne, aber es darf ihn nicht in jener ausgelaugten Form einnehmen, die jedes echte Ergriffensein durch ihre Banalität und Unechtheit verwehrt.

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