6542170-1946_46_12.jpg
Digital In Arbeit

Das Geheimnis um Graz

Werbung
Werbung
Werbung

Ein Blick vom Schloßberg enthüllt dem, der zu schauen weiß und hellhörig ist, Wesen und Sonderheit dieser Stadt. Er vernimmt ihren Rhythmus, ihre Melodie, fühlt ihr zärtliches Traumverlorensein und beginnt ihr oft besungenes Geheimnis zu begreifen: wie hier Natur und Menschenwerk unmerklich ineinander übergreifen und, sich verbrüdernd, ein unzertrennbares Ganzes bilden. Wie sich in Landschaft und Bewohnern die kraftvolle Lebensbejahung des Norden? mit der weichen Versonnenheit des Südens vermählt. Die Eigenart dieser alten Burg- und Gartensiedlung hatte es auch dem Weltmann Alexander von Humboldt angetan, der sie neben Salzburg als die zweitschönste Stadt Europas bezeichnet.

Graz sei keine Stadt, sondern ein Gemütszustand, meinte ein Kenner einmal, und legte di kritische Sonde beiseite. Es war ihm wohl kaum bekannt, daß sie unter dem Namen „Bairisch- Grätz“ als Pfalz der Markgrafen von Steier in einer Urkunde des Jahres H28 da erstemal erwähnt wird. Aber er verspürte das gewisse Etwas ihres auf das Gemüt wirkenden F'uidums, das einen Chronisten am Ende des 18. Jahrhunderts zu der Bemerkung veranlaßte. daß die meisten Leute die sich einmal in Graz niederlassen, die Lust verlieren, ihren Wanderstab wieder weiterzusetzen.

Vor dreißig Jahren wimmelte es hier von Originalen, die durch die Grazer Luft zu Sinnierern wurden, zu Zeithabern und Weltverbesserern. Sie waren überzeugt, daß die Geschichte anders verlaufen wäre, wenn man sie hätte mitreden lassen. Schwärmer, Idealisten und Radikalisten, ewige Kritiker und Besserwisser (wie man sie heute vereinzelt noch auf den Stadtparkbänken antrifft). Früchte eben dieser Atmosphäre, die dem Menschen die Muße läßt zum Überdenken dessen, was ihm begegnet. Früher kamen viele aus der Weite der großen Monarchie hieher, um ihren „Lebensabend“ zu verbringen, um hier zu sterben. Nestroy gehörte zu ihnen. Auch Girardi, ein Sohn der Stadt, träumte davon, doch hat es das Schicksal anders gewollt. Und wer von Graz Abschied nimmt, tut es mit dem ernst gemeinten Gelöbnis, wiederzukommen, immer wiederzukommen. Das ist keine billige Phrase. Diese Stadt läuft dem, der in ihr gelebt und sie erlebt hat, nach; sie läßt ihn nicht los.

Die Schaffenden der Stadt Graz umschlingt, so verschieden auch ihre Profile sein mögen, das unsichtbare Band der Landschaft. Sie sind der Natur, die immer sicher und groß bleibt, näher als die von der Unrast der Großstadt Getriebenen. Sie kannten und kennen nichts von „Mode“, die sich geltend machen will. Jeder geht seinen Weg und bleibt doch mit der gemeinsamen Erde verwachsen. Was er als gegeben vorfand, nahm er auf, wenn es ihm innerlich irgendwie verwandt war. Es gibt keine bestimmte Schule, die sie entsendet; keinen bestimmten Stil, dem sie sich verschrieben. Das eine aber haben sie alle der Großstadt voraus: Zeit. Die Zeit, in sich zu schauen, sich selbst zu finden und aufzubauen. Das führt zu einem schönen Ausreifen, führt zu einem Jungbleiben. So sind sie denn, wissend um das Geheimnis um Graz, das geworden, was sie werden mußten. Josef Freiherr von Hammer-Purgstall, der durch seine Übersetzungen die Brücke zwischen dem Orient und der deutschen Literatur schlug und durch dessen „Hafis“ Goethe zu seinem „Westöstlichen Diwan“ angeregt wurde. Peter Rosegger, der als Naturdichter die Augen der Welt auf die Steiermark lenkte, und Robert Hammerling, der weltschmerzliche Pathetiker; der vornehme Anastasius Grün und der stille Stadtpoet Wilhelm Fischer; Emil Ertl und Eduard Hoffer, beide in altösterreichischen Erinnerungen lebend, und der nachdenkliche Bruno Ert-ler; der Farbensymphoniker Rudolf Hans Bartsch und der zarte Lyriker Ernst Göll; Ernst Decsey, der geistvolle Feuilletonist und Musikschriftsteller, und der heißblütige Julius Franz Schütz, dem Kunst Besessenheit und Schicksal ist. Von den Musikern der idealistische, sich immer glücklich fühlende, gemütvoll-volksverbundene Wilhelm Kienzl, der in seinem „Evangelimann“ von der Himmelfahrt des einfachen Menschen singt und der viele Jahre hindurch mit wallenden Künstlerlocken, mit Patriarchenbart, Samt-rock und weitem Sdilapphut als verkörpertes Wagnerianertum im Grazer Stadtpark zu sehen war, mit dessen Fichkätzchen er aufstand und sich zu Bett legte. Und Jose! Marx, der dionysische Lebensbejaher und romantische Herold der Schönheit, der sich in seiner Hingabe an die steirische Landschaft in überschwenglichen Klängen ekstatisch verschwendet.

Und doch besteht jene weiche Gefahr, von der oben die Rede war. Wer als Schit-fender nur in Graz lebt, verpaßt leicht den Anschluß an das Draußen, an die große Welt. Er „verliegt“ sich leicht. Viele ßeca-bungen mußten dadurch verbrennen an ihrem Können, ihrer Sehnsucht, ihrem Weh. Viele verloren aber auch als lokale Größen die Distanz zu sich selbst, verloren jegliche Schätzung, und nur wer sich dieser Gefahr bewußt ist und strengste Selbstkritik übt, kommt über sie hinweg. Aber Gefahren, die wir erkennen, hören auf, Gefahren zu sein.

Das gilt auch für ausübende Künstler, für Schauspieler und Musiker. Wenn es heute in Graz eine Überfülle von Anregungen durch Theater, Konzerte und Vorträge gibt; wenn die Künstler mit leuchtenden Augen und Heimweh im Herzen von der italienisch anmutenden Begeisterung des Publikums erzählen; wenn Graz — es ist nicht das erstemal — mit Festwochen aufwartete, so ist darin die Fortsetzung einer alten Tradition gegeben. War es doch im sechzehnten Jahrhundert unter den Erzherzogen Karl II und Ferdinand II. die Residenz von Innerösterreich, wodurch sich neben der Ausgestaltung der Stadt (es wurden über achtzig Baumeister aus Italien berufen) und der Gründung der Universität ein Kunstleben von internationalem Format entwickelte. Musiker von Weltruf wurden herangezogen, wie Giovanni Valentini und Annibale Padovano, der eine hervorragende Hofkapelle leitete. Die besten Hofmusiker wurden dann 1619 von Ferdinand II. nach Wien mitgenommen. Was die Jesuitcnspiele und Schulkomödien für die Entwicklung des deutschen Theaters bedeuteten, kann man in jeder Literaturgeschichte nachlesen. In der Folgezeit war es die Eggen-berger Schloßkapelle, die für ein reges Musikleben sorgte. Über dem siebzehnten Jahrhundert strahlt als leuchtender Stern Johann Josef Fux, der österreichisdi-steirische Barockmeister. Zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts gab es in Graz zehn Jahre hindurch eine der besten Opern Europas unter den später in Kopenhagen und London wirkenden Brüdern Angelo und Pietro Mingotti, deren glanzvolle Aufführungen nidit nur die Sehnsucht der Grazer nadi einer ständigen Oper erfüllten, sondern auch nebst der 1778 erfolgten Eröffnung des landesstandisdien Theaters den Ausgangspunkt der bis auf heute bestehenden Theaterfreudigkeit des publikums bildeten. Für viele Künstler war und ist Graz das Sprungbrett in die Großstadt. Wir nennen nur Nestroy und Wenzel Scholz, Sonnenthal und Mitterwurzer, Marie

Geistinger und Josefine Gallmeyer, Tyrolt,Girardi und Willi Thaller, Tichatschek, den berühmten Wagnersänger, und Amalia Friedrich Materna, Wagners erste Brünhilde, und Kundry, die Dirigenten Muck und Schalk. Nicht nur in den Symphoniekonzerten, die das ausgezeichnete städtische Orchester, oft von prominenten Dirigenten geführt, bestreitet, sondern auch im Schauspiel und in der Oper gab es so manche Uraufführung und viele österreichische Erstaufführungen, so „Salome“ und „Die schweigsame Frau“ von Richard Strauß. Schreckers „Schatzgräber“ und „Ferner Klang“, „Die Vögel“ von Braunfels und Händeis „Otto und Theo-phano“. Zu den tragenden Pfeilern des Grazer Kulturlebens zählt der 1821 gegründete Musikverein für Steiermark, dessen Ehrenmitglied Franz Schubert war, der ihm als Dank seine „Unvollendete“ überreichte, die dann Anselm Hüttenbrenner zweiundvierzig Jahre der Öffentlichkeit vorenthielt.Mit dem Institut, dessen erzieherische Arbeit sich auf das ganze Land erstreckt, und das auch heute als Konzertveranstalterin tonangebend ist, sind die Namen Erich Wolfgang Degner und Hermann von Schmeidel als großzügige Organisatoren untrennbar verbunden. Aus der Schule des Musik Vereines gingen unter anderen hervor Ferruccio Bu-soni, E. N. von Reznicek, Siegmund von Hausegger, Hugo Wolf, Wilhelm Kienzl, Felix Weingartner, Joseph Marx, Ernst von Schuch und Robert Stolz.

Diese Zeilen wollen nur einiges von Graz erzählen, in dem sich det erdverbundene, nach menschlicher Gemeinsamkeit suchende Anton Wildgans, der edle Sendbote österreichischen Wesen, so wohl*ühlte, man lese nur seine „Elegie von Roserberg“. Von Graz, in dem zwar noch nicht alles so ist, wie es früher war. Denn das Stadtbild hat, vor allem in der Umgebung der Bahnhöfe, durch Luftangriffe schwer gelitten. Aber es ist auf allen Gebieten so viel starkes, von innerer Aufbaubereitschaft getragenes positives Wollen zu verspüren, daß uns um die Zukunft nicht bange zu sein braucht. Denn diese alte Stadt hält jung, vielleicht dadurch, daß sie ihre Geschichte als Lehrbuch nach vorne und nicht nach rückwärts betrachtet.

Kehren wir zurück zum Schloßberg, von dem wir bei diesen Betrachtungen ausgegangen. Er gilt als Lebensveilängerer. Wer ihn täglich besteigt, so heißt es, wird neunzig und darüber. Tief unten Nürnberger Dächer und prachtvolle italienische Loggienhöfe, steile Dächer und Giebel. Aber die anmutigliebenswürdige Stadt streifte die beengenden Mauern von sich, drängte nach dem befreienden Licht und nach befreiender Luft, wie es ihr die Zauberin Natur gebot, die eins mit ihr ist, weil sie in ihrem Herzen wohnt. Vergangenes bleibt lebendig und Ehrfurcht vor dem Gewordenen lehrt den Grazer beim Anblick alter Stätten die Wehmut über alles Vergängliche leicht ertragen. Daraus, saugt er seine Kraft seine Lebensbejahung, seinen Glauben an ein Frohseindürfen, seine südliche Heiterkeit, aber auch den Ernst zu harter, Erfolg bringender Arbeit. Immer gibt es Neues zu entdecken in dieser „Großstadt, die auf dem Lande steht, unbegreiflich wie ein Märchen und schön wie eine Romanze“.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung