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Das Geschwür und sein Chirurg

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Heute haben wir einen Besuch besonderer Art vor. Er gilt den „Editions de Minui t“, dem Mitternachtsverlag, der die beiden berühmtesten Zeugnisse über Folterungen im heutigen Frankreich herausgebracht hat: „La Question“ von Henri Alleg und, vor wenigen Tagen, „La Gangrene“ von inhaftierten algerischen Studenten. Beide Schriften sind beschlagnahmt worden — und doch haben beide große Verbreitung gefunden. „La Question"wurde erst beschlagnahmt, als 65.000 Exemplare abgesetzt waren, und mit illegalen Drucken ist seither die französische Auflage in den fünfzehn Monaten seit Erscheinen auf mehr als 100.000 gestiegen, mit den Uebersetzungen im Ausland gar auf 350.000. Bei dem „Gangrän“, dem Geschwür, griff die Polizei schneller zu, nach drei Tagen schon. Aber auch von diesem Büchlein waren bereits 5000 Stück abgesetzt, die gesamte erste Auflage …

Ein explosives Unternehmen also. Premierminister Debrė hat im Senat das zweite Büchlein als Lügengespinst gebrandmarkt und sein? Herausgabe als ein kommunistisches Unternehmen angeprangert. So haben wir uns denn einen Lokalaugenschein in dieser Teufelsküche zum Ziel gesetzt. Nun, schon die ersten Eindrücke in dem kleinen Häuschen mit der schmalen, wackeliger Stiege in einem Nebensträßchen der Rue de Rennes in Paris sind wesentlich anders als in der pompösen Gebäuden der kommunistischen Par tei. In einem kleinen Zimmerchen im dritten Stock oben empfängt uns ein vierunddreißigjähriger junger Mann: Herr Jerome Li nd ori, Sohn des bekannten .Staatsanwaltes, in einer Person technischer, kaufmännischer und literarischer Leiter dieses Riesenunternehmens, das, die Putzfrau inbegriffen, ein Personal von 9 Personen aufzuweisen hat.

Ich steuere gleich auf den kritischen Punkt los und sage zu dem überschlanken Manne mit dem schmalen Gesicht, das merkwürdig zwischen der Physiognomie eines Intellektuellen und der eines Technikers die Mitte hält: „So, Sie sind also der böse Kommunist?“ Lindon lächelt: „Ick habe heute gerade Inventur gemacht, welchen politischen Organisationen ich überhaupt angehöre. Aber ich bin nur auf eine gekommen: das Hilfskomitee, für den. un%arischeu.ßchriftstellqr Tibor Dery — und das ist wirklich kein Gremium, das bei den Kommunisten besonders beliebt wäre,“

Interessant ist der Ursprung des Verlages: „Die Editions de Minuit sind der einzige Untergrundverlag der Resistance. Seine erste (und natürlich illegale) Veröffentlichung war ,Le Silence de la Mer‘ von Nercors.“ (Diese Erzählung „Die Stille des Meeres“ vom stummen Widerstand einer französischen Familie gegen einen an sich sympathischen, im Haus einquartierten deutschen Besatzungsoffizier, ist das bekannteste literarische Zeugnis der Resistance geworden.) „Nercors war dann auch der eigentliche Inspirator des Verlages. Wenn Sie das Dutzend Schriften durchsehen, die wir damals im geheimen herausgebracht haben, so sehen Sie, daß die Reihe die ganze Spanne des Widerstandes enthält. Nicht nur Kommunisten (die eben auch zum Widerstand gehörten), wie Aragon und Eluard, veröffentlichten bei uns, sondern auch ein Katholik, wie Mauriac, ein Gaullist, wie Debu-Bridel, ein Mann der Rechten, wie Paulhan. Und die Kommunisten schrieben nicht als solche bei uns, sondern nur, wenn sie etwas zu sagen hatten, was alle Franzosen anging. So hat der Kommunist Alleg über seine Folterung berichtet — ein Bericht notabene, den er in keinem kommunistischen Verlag veröffentlichen konnte.“

Wir fragen Lindon, ob er von Anfang an dabei gewesen war. „Nein. Ich ging mit 17 Jahren in den Maquis. Bei der Liberation war ich zwanzig Jahre alt. Dann habe ich den Beruf eines Druckers gelernt. Und trat dann 1947 als Souschef de fabrication, also als Techniker, in diesen Verlag ein. Der war aber inzwischen in Schwierigkeiten geraten. Wir waren damals der Verlag der Resistance, wir pflegten die Erinnerung an sie. Aber nicht in einem sturen Sinne. In .meiner Zeit kam fa auch Paulhans .Brief an die Direktoren der Resistance' heraus, der sich gegen die Auswüchse der Resistance richtete. In unseren Büchern werden Sie — beispielsweise — nie das Wort ,boche‘ finden.“ Und Lindon sagt etwas, was man nicht von jedem Widerstandskämpfer hören kann: „Gewiß, nach der Liberation mußten die Verräter und Henker unter uns bestraft werden. Aber man konnte keinem Franzosen einen Vorwurf machen, daß er zu Pėtain hielt — dieser verkörperte schließlich die legale Regierung, das läßt sich nicht bestreiten.“ Solchen Worten spürt man an. daß ihr Sprecher aus einer Juristenfamilie kömmt. Einem waschechten Kommunisten muß sich dabei auf jeden Fall der Magen umdrehen.

Lindon fährt fort: „Also, wie gesagt, um 1948 stand der Verlag vor der Pleite. Man interessierte sich kaum mehr für die Resistance. Die anderen verließen das Schiff. Ich blieb aus einer Art von Eigensinn darin — ich fand es schade, es untergehen zu lassen. Freunde streckten mir Geld vor, und der Verlag kam allmählich wieder hoch. Vor allem halfen mir die Bücher über das alte Paris von Hillairot. Es gelangen einige Treffer, auf die wir stolz sind. So haben wir Samuel Beckett entdeckt, dessen Bücher von hier aus ihren Siegeszug durch die Welt antraten.“ Und wirklich entfaltet sich ein reiches Bild, wenn man den Gesamtkatalog der „Editions de Minuit“ durchsieht. Sie wurden zum

Stammhaus der Schule des sogenannten „jungen Romans“ um Robbe-Grillet, Butor, Nathalie Sarraute: gleichzeitig kommt hier aber auch die herrliche, von Georges Roth besorgte Briefausgabe von Diderot heraus. Der Nietzscheaner Georges Bataille Steht neben Jaspers' Büchlein zur Schuldfrage und neben Benn (Doppelleben), der hier zuerst in Frankreich herausgekommen ist, Melville und Faulkner nėben Le Corbusier, Clausewitz (erste ungekürzte Ausgabe von „Vom Kriege" auf französisch!) und Hamann, dem „Magus vom Norden“. Nur wenige französische Verlage haben eine vergleichbare geistige Weite.

Doch wir kehren zurück zur Politik, die uns vor allem interessiert, und zwar zur Reihe „Documents", in der neben Alleg und „Gangrene"etwa auch das erste Buch über Djamilah Bu- hired, die „algerische Jeanne d’Arc", ein Sammelband über die Arbeiterpriester und die klassische Untersuchung der Ethnologin Germaine Tillon (heute in einem Ministerium sitzend!) über die wirtschaftlichen Möglichkeiten Algeriens erschienen sind. Uns interessiert vor allem, wieso „La Gangrene"drei Tage lang verkauft werden konnte, ehe die Polizei zugriff. Es is‘ nämlich bekannt, daß in vielen großen Druckereien Vertrauensleute der Polizei sitzen, die nicht genehme Schriften schon während des Druckes signalisieren. (Was eine Beschlagnahme erlaubt, sobald der letzte Bogen aus der Maschine kommt.) Lindon lächelt: „Gegen solche Dinge ist die handwerkliche Basis, auf der wir arbeiten, eine gewisse Gewähr. In Druckereien, die nur drei bis vier Mann Personal haben, kommt es selten zu Aktionen der angedeuteten Art. A pro- pos: der Drucker, welcher den Umschlag des ,Gangräns‘ druckte, schien der Meinung zu sein, es handle sich um ein medizinisches Werk … Aber wir wissen auch sonst, weshalb wir ein kleines Haus bleiben wollen: das ist der einzige Weg, unabhängig zu bleiben! Schlimmer nämlich als die Zensur ist die Selbstzensur: in einem Großunternehmen, mit dessen Schicksal das Schicksal einer großen Zahl von Menschen verknüpft ist, überlegt es sich der Leiter sehr, ehe er etwas unternimmt, was einen Eingriff von oben herausfordern könnte.“

Jetzt möchten wir wissen, was Lindon auf die Anklagen des Premierministers zu antworten h-t. Er gliedert diese Anklagen in drei Punkte auf: „Erstens wurde ,La Gangrene'infam genannt. Wirklich, da hat die Regierung recht! Das, worüber das Büchlein berichtet, ist infam.

Es war Zeit, das zu sagen, denn das bisherige Schweigen der Regierung zu den meisten Anklagen dieser Art hätte den Verdacht aufkom- wen lassen können, als ob sie diese Dinge billige. — Zweitens wird das Büchlein zur Fälschung erklärt; zwei kommunistische Schriftsteller hätten es geschrieben. Das ist ein Beispiel unter vielen für den heute sich ausbreitenden Rassismus. Hinter dieser Aussage steckt nämlich nichts anderes als die Meinung, daß Algerier — und seien sie Studenten — nicht imstande seien, selbst einen Bericht niederzuschreiben. — Drittens werden diese Berichte als lügnerisch bezeichnet, oder, um den Premierminister wörtlich zu zitieren: ,C’est ouvrage infame ne saurait representer en quoi que ce soit l’ombre de la verite.“ Darauf möchte ich folgendes antworten: Wie Sie wissen, wurde in dem Büchlein Herr Wybot, damaliger Chef der D.S.T., angeklagt, an den Folterungen teilgenommen zu haben. Im Dezember wurde gegen ihn Klage erhoben. Auf den 7. Februar wurde er vor den Untersuchungsrichter zitiert. Er setzte aber eine Verschiebung dieses Datums erst auf den 7. März durch, dann auf den 7. April, dann auf den 30. Mai und jetzt sogar auf den 26. September. Man sollte meinen, daß ein Mann von der Stellung Herrn Wybots alles Interesse hätte, sich sogleich von einer solchen Anklage zu reinigen. Und wenn die Berichte wirklich erfunden sind, so würde es für ihn ja ein leichtes sein, dies an Hand der vielen in den Berichten erwähnten Details nachzuweisen. — Ich wiederhole, was ich schon in der Presse sagte: bis jetzt ist es in dieser Affäre zu keiner Konfrontation von Klägern und Angeklagten gekommen, was Voraussetzung für ein normales Verfahren ist, und bisher wurde keiner von den Klägern genannten Zeugen gehört. Jedoch — ich kenne das. Im Zusammenhang mit der Beschlagnahme von Allegs Zeugnis wurde auch ein Verfahren eröffnet — aber ich bin in den 15 Monaten seither noch kein einzigesmal vernommen worden.“ Und Lindon zitiert noch eine ganze Reihe von Indizien, aus denen sich ein Wahrheitsbeweis zusammenstellen läßt. Er nennt auch den Namen eines sehr zuständigen Ministers, der seiner Meinung Ausdruck gegeben habe, daß die Anklagen der „Gangrene"zuträfen.

Wir kommen nun auf die Folterungen im allgemeinen zu sprechen. „Ohne den Algerienkrieg gäbe es keine Folterungen.“ Das deckt sich mit der Aeußerung des sozialistischen Senators Def- ferre, daß ein Weiterdauern dieses Krieges notwendig die demokratischen Institutionen bedrohe.) Lindon weiß aber auch genau, wie schwer es ist, allgemeine Aussagen über diöses So um ein Organ mit beschränktem Absatzkreis handelte, geduldeten) Veröffentlichung der Folterberichte von „La Gangrene"in einer Zeitschrift zu Anfang des Jahres —, daß also seither im Innenministerium nicht mehr gefoltert werde. Oder: es sei anzunehmen, daß mehr Folterungen vorkämen, als Klagen eingereicht würden, denn gewöhnlich spreche ein Mann, der unter ihrem Druck ausgesagt habe, nicht, weil er sich schäme.

Jetzt aber steuern wir auf den politischen Kem der Geschichte los.. Wir erinnern Lindon daran, daß er — wie alle anderen Franzosen, die von den auf französischer Seite begangenen Urimenschlichkeiten des Algerienkrieges zu sprechen wagen — von seinen Gegnern als „Anti- France“, also als Vertreter eines Gegen-Frankreich, als Verräter abgestempelt werde. Wir fragen ihn, wie er es verantworten könne, Berichte zu veröffentlichen, die nach Meinung seiner Feinde Frankreich im Ausland schadeten. Diese Frage bringt aber den Mann nicht in Verwirrung, der wegen seines Mutes zu unbequemen Wahrheiten in seiner kurzen, aber bewegten Verlegerlaufbahn nicht nur von der Rechten, sondern auch von den Kommunisten mit Schmutzkübeln übergossen worden ist: „So war es schon bei der Affäre Dreyfus. Auch dort hätte man das Unrecht dulden sollen, weil das Recht Frankreich schaden könnte. Soviel ich weiß, bin ich mit all weinen Landsleuten, den Premierminister inbegriffen, darin einig, daß Foltern eines Franzosen — und insbesondere eines französischen Soldaten oder Polizisten — unwürdig ist. Folglich gibt es nur eine Frage: ob das, was in ,La Gangrene'berichtet wird, wahr oder falsch ist. Ist es von hinten bis vorn erfunden — ja, dann bin ich ,Anti-France'. Ist es jedoch wahr, so bin ich es nicht.“

Wir setzen jedoch noch einmal an und fragen: „Sie stellen also den moralischen Imperativ über die Staatsräson? Oder sind Sie vielmehr der Meinung, daß das von der Moral Geforderte mit dem von der Staatsräson Geforderten in einem höheren Sinne sich deckt?“ Doch Lindon wischt diese Frage mit einer Handbewegung unter den Tisch: „Das kann ich nicht entscheiden, ich bin nicht Staatsmann.' Mir scheint, daß alle Welt sich darüber einig ist. daß das Foltern etwas Infames sei. Das genügt.“

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