Das Graz wachsen hören

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Vier neue Bücher gewähren ungewöhnliche Blicke auf die europäische Kulturhauptstadt von außen und innen. Lektürenotizen

s gibt nur ein graz, und es wird tagein-tagaus von wien überwacht. es heißt, die grazer empfinden das besonders tief, und ich glaube nicht, daß ich mich täusche". Als Wiener, der vor Jahren selber ein Buch über Graz verfasst hat und der jetzt auch noch die Grazreflexionen anderer begutachten darf, fühle ich mich durch diese Feststellung Anselm Glücks einigermaßen verunsichert. Daher sei gleich vorweggenommen: Ich erachte alle vier Bücher als wirklich gut. Sie stehen einander auch nicht im Weg, sondern ergänzen einander. Wer Graz liebt, mag alle vier lesen.

Mit vollem Geschütz auf der Stallbastei fährt der vor Ort ansässige Literaturverlag Droschl auf, der die Freunde des Hauses eingeladen hat, "Graz von außen" zu betrachten, in Analogie zu einem Band "Graz von innen", der 1985 erschienen war. 44 Autoren, darunter 19 weiblichen Geschlechts, haben tatsächlich Beiträge geliefert, und wenn eine Elfriede Jelinek sich auf ein "Tut mir leid, es geht nicht!" beschränkt, ist auch das noch den Abdruck wert. Zwar ist die Dominanz des "Poetenclans" rund um das "Forum Stadtpark", die Zeitschrift "manuskripte" und deren Spiritus rector Alfred Kolleritsch (so Ludwig Harig in einem launigen Sonett) mitunter erdrückend, doch wird einem auf den 316 Textseiten auch nicht einen Augenblick langweilig. Und das will etwas bedeuten bei einer Stadt, die seit jeher der Verschlafenheit geziehen wird.

Weckrufe

Weckrufe nach einem anderen Strickmuster bietet der Sammelband "Kafka in Graz". 13 Damen und Herren, diesfalls überwiegend grazerischer oder steirischer Provenienz, kleiden ihre kritische Sicht in "fiktive grazbiografien" (so Helmut Schranz in der seinen über Konrad Bayer). Unter der Hand wird dabei eine Dichterfehde ausgetragen, denn die hier versammelten Autoren, vor allem Herausgeber Werner Schandor als Erfinder des "Musilschen Metamorphematen", lassen keine Gelegenheit aus, den um eine Generation älteren von den "manuskripten" eins auszuwischen. Das, aber nicht nur das, liest sich höchst vergnüglich, und nur bei Johannes Schmidt, der seine leiblichen jüdischen Vorfahren Theodor Herzl bei sich beherbergen lässt, bleibt einem das Lachen im Halse stecken.

Verklammert "Kafka in Graz" das "grazeraußenleben" mit dem "grazerinnenleben", von dem Sissi Tax in "Graz von außen" hintergründig spricht, so widmet sich Günter Eichberger unter dem Titel "Aller Laster Anfang" gezielt der Introspektion. Und konzentriert sich der Radius der "Graz-von-außen"-Autoren vorwiegend auf die Innenstadt, so lernen wir hier auch die Walten- und Wetzelsdorfer Perspektive kennen. Die in diesem Bändchen zusammengestellten Glossen - ob, wann und wo sie früher erschienen sind, wird nicht verraten - lassen die Überwacher aus Wien und anderswo teilhaben am Stadtgespräch, auch am einfachen Tratsch der Stadt Graz. Germanisten werden schon nächstes Jahr alle Hände voll zu tun haben, um all die Anspielungen zu entschlüsseln und für die Nachwelt zu sichern, aber das Kryptische hat ja seinen besonderen Reiz.

Sozusagen die Nachhut, die aber gut gedeckt, bildet der Band "Wegen der Gegend - Literarische Reisen durch die Steiermark", den Barbara Higgs und Wolfgang Straub mit Fotos von Paul Albert Leitner herausgegeben haben. Auf den paar der Stadt Graz gewidmeten Seiten kommen auch verstorbene Meister - Alexander von Sacher-Masoch und Johann Nestroy - zu Wort und friedlich stehen hier Alfred Kolleritsch aus dem erstgenannten und Georg Pichler aus dem zweitgenannten Buch nebeneinander, womit sich der Kreis schließt.

Widerstand

Welcher Befund ergibt sich nun aus all den hier vorgelegten Briefen und Notizen, Essays und Kurzgeschichten, Gedichten und Dramoletten? Wo Graz heute steht, ist nicht nur im Hinblick auf die Literaturgeschichte oder den aktuellen Anlass der Kulturhauptstadt von Interesse, sondern auch im Hinblick auf die Bundesstaatsdiskussion, die ganz wesentlich von hier ausgelöst wurde (Landesrat Hirschmanns Vorschlag eines österreichischen Generallandtags), sowie auf die Erweiterung der EU - schon im nächsten Jahr wird die Steiermark nicht mehr, wie im Klappentext des Steiermark-Bandes behauptet, "die südöstlichste Region des neuen Europa" sein.

Am leichtesten fällt die Antwort in der historischen Perspektive. Alle Autoren, explizit vor allem in "Graz von außen", stimmen darin überein, dass die erstaunliche Modernisierung der Stadt seit den Sechzigerjahren die Frucht eines Reformstaus nach 1945 war. "Kolleritsch und Genossen waren so erfolgreich, weil Graz so verschnarcht war, die Braunen sich aber schon nicht mehr getrauten, massiv Widerstand zu leisten gegen das, was sich in ihrer Stadt nun abspielte", bringt es Jürgen Drews auf den Punkt. Andererseits ist es in Graz zu keinem Bildersturm gekommen, sondern zu einer Koexistenz von Altem und Neuem. Man bewahrt zuerst die verschnörkelte Fassade des Rathauses - und möbliert dann, zeitversetzt, den davor liegenden Hauptplatz mit modischen Beleuchtungskörpern.

Ex occidente lux

Schwieriger ist es mit der geografischen Positionierung. "Graz von außen" macht deutlich, dass der eigene Standort darüber entscheidet, wie man sie vornimmt. Gilt Graz zumal deutschen, aber auch schon Wiener Beobachtern als südliche Stadt, so ist die Kroatin Rada Ivekovi´c bass erstaunt, als sie diese Sichtweise bei einer Veranstaltung im "Forum Stadtpark" kennen lernt: "Damals wurde mir klar, daß jeder Norden seinen eigenen Süden hat." Ivekovic, die in Paris lebt, in englischer Sprache schreibt und sich vor allem mit dem indischen Subkontinent befasst, liefert auch eindringliche Analysen zum Thema Randlage. Durch die Erfahrungen in Jugoslawien für die Zentralismusproblematik sensibilisiert, erblickt sie im Abseitsstehen von Graz eine Gunst, die in der Vergangenheit genutzt wurde, aber auch eine Herausforderung, die in der Zukunft neu anzunehmen ist.

Während Literaturwissenschaftler wie Wendelin Schmidt-Dengler und Kunstexperten wie Otto Breicha zur Bedächtigkeit mahnen und in der Zurückgebliebenheit von Graz dessen größtes Atout erblicken, stürmen viele Künstler freilich mit Volldampf voraus. Das Vorwort zu "Graz von außen" beginnt mit einem Zitat aus Kurt Vonneguts "Breakfast of Champions", und die Sache endet damit, dass Eva Meyer in ihre - durchaus originellen - Betrachtungen einen ganzen Satz in englischer Sprache einflicht, ohne ihn zu übersetzen. Blickte man aus Graz einst voll Inbrunst nach Berlin, so wähnt man heute das Heil in New York. Die kafkaesk verfremdete Freiheitsstatue neben der Grazer Oper hat durchaus Bekenntnischarakter.

Groß oder klein?

Eng verbunden mit der Randlagenproblematik ist der altbekannte Grazer Minderwertigkeitskomplex gegenüber Wien, für den sich in den Büchern erstaunlich viele Belege finden, am ausgiebigsten bei Günter Eichberger: "Was tun, wenn sich ein Kollege aus Wien zum Besuch ansagt? Dem muß man doch so etwas wie ein Nachtleben bieten, damit er nicht glaubt, hinter dem Semmering herrsche nur öde Wildnis." Und kein Zufall ist es auch, dass einem Johann Gottfried Seumes Diktum von 1803, wonach die Grazer "im Durchschnitt etwas besser deutsch" sprechen als die Wiener, gleich mehrmals entgegenschlägt.

Auch die Frage, ob Graz eine Groß- oder eine Kleinstadt ist, beschäftigt seine Bewohner wie seine Besucher unentwegt. "Die Stadt ist zu klein, um groß zu sein, und zu groß, um klein zu sein", meint Ilma Rakusa mit spürbarem Leidensdruck; positiv sieht es Jochen Hörisch: "Von überfordernder Konkurrenz zu Wien ist die mehr als zehnfach kleinere, aber trotzdem zweitgrößte Stadt Österreichs entlastet, und doch hat sie alles, was eine souveräne Stadt braucht." Auch hier ist der Blickwinkel entscheidend: Wer aus einem kleineren Ort kommt, dem erscheint die Stadt groß, wer aus einem größeren kommt, dem erscheint sie klein.

Lebenslange Anreise

In diesem Zusammenhang besonders faszinierend ist in den neuen Graz-Büchern die Thematisierung der Stellung von Graz in der Steiermark, ein Aspekt, der außerhalb des Landes leicht übersehen wird. "Jeder Einzelne ... ist aus der Provinz (von wo sonst?) aufgewachsen, um etwas zu werden", konstatiert Wilhelm Hengstler im Kafka-Band: "Hinter ihm liegt die lebenslange Anreise aus Feldbach, Stiwoll, Graz, Murau usw. ..." Und beinhart vermerkt Rosa Pock in "Graz von außen": "ich beobachte sie gut, die gutsituierten töchter von graz, kinder von rechtsanwälten oder zahnärzten, adresse villa neben dem hilmteich, mit ihrem unsteirischen sprechen, wo man aus dem mund kein land riecht."

Von Pockscher Sozialkritik hätte ich gern etwas mehr gelesen; die Gemeindebauten der Zwischenkriegszeit, die endlosen Siedlungen mit Einfamilienhäusern, aber auch der verdichtete Flachbau der letzten Jahrzehnte und die beim Blick vom Schlossberg doch unübersehbaren Hochhäuser scheinen kein Thema für Literatur zu sein. Hingegen durchziehen die grünen Wagen der Grazer Straßenbahn und die Fluten der braunen Mur die Texte in unerwartetem Ausmaß, erstere als Symbol für Beständigkeit und Verlässlichkeit, letztere als Ausdruck der Grazer Melancholie, die so gar nicht zum heiteren Antlitz der Stadt passen will. Und erstaunlich oft wird auch der Name Graz thematisiert. Während die einen an ihm offensichtlich würgen, weckt er in den anderen die erfreulichsten Assoziationen. Am besten gefällt mir Oskar Pastiors "Ich hör' so gern das Graz wie's wächst".

Der Autor ist Publizist.

Graz von aussen.

Herausgegeben von Klaus Hoffer und Alfred Kolleritsch.

Literaturverlag Droschl, Graz 2003.

316 Seiten, geb., e 23,00

Kafka in Graz und andere Episoden aus der (un)heimlichen Literaturhauptstadt.

Herausgegeben von Werner Schandor. Steirische Verlagsgesellschaft, Graz 2003. 136 Seiten, brosch., e 15,-.

Aller Laster Anfang.

Ansichten eines Flaneurs. Von Günter Eichberger. Residenz Verlag, Salzburg 2003. 154 Seiten, geb., e 14,90.

Wegen der Gegend.

Literarische Reisen durch die Steiermark. Herausgegeben von Barbara Higgs und Wolfgang Straub. Mit Photographien von Paul Albert Leitner.

Eichborn Verlag, Frankfurt 2003.

142 Seiten, geb., e 14,50.

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