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Das große Experiment

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Der Ort Santa Margherita ist auf keiner Karte zu finden. Obwohl er — gelegen im Venezianischen, vierzig Kilometer westlich der alten österreichischen Grenze —- nicht gar so klein ist. Und schon gar nicht häßlich. Dieses Dorf ist im Gegenteil höchst modern. Die Amtsgebäude, die Schule, das Krankenhaus, das kleine Hotel, die Kirche, die Häuser rriit den typischen venezianischen Rauchfängen und den Geschäften unter den Lauben, die einstöckigen Siedlungshäuser für zwei Familien mit einem kleinen Garten rundherum, sie alle sind sehr modern und blitzsauber. Auf der einen Seite des Dorfes ragen die modernen Formen einer Fabrik gegen den Himmel, auf der andern Seite die nicht minder modernen Formen von riesigen Silos und landwirtschaftlichen Gebäuden. All dies hat nichts genützt, um den Staat zu bewegen, diesen Ort in seine amtlichen Karten aufzunehmen. Oder besser gesagt, der Staat konnte ihn noch nicht aufnehmen in seine Karten, denn der Ort ist ganz jung, erst ein paar Jahre alt, geschaffen nach dem letzten Krieg, und deshalb noch nicht als eigene Gemeinde anerkannt. Er wurde aus dem Boden gestampft, nicht als Kolchos, noch als Großgrundbesitz, sondern als ein soziales Experiment. Der Mann, der dieses Experiment wagte, heißt Gaetano Marzotto di Valdagno.

Vor Jahrzehnten, noch vor Jahren lebten die paar Bauern kümmerlichst auf dem Gebiet des heutigen Santa Margherita. Die Landwirtschaft trug ihnen so viel eip, daß sie gerade nicht verhungerten in ihren elenden Hütten. Unmöglich war es ihnen, sich Maschinen anzuschaffen und dadurch die Ertragsfähigkeit des Bodens zu steigern. Die Hälfte des Jahres, wenn die Ernte vorbei war, waren sie zu Müßiggang verdammt.

Das ganze Gebiet, ungefähr etwas über 2000 Hektar, kaufte eines Tages jener Gaetano Marzotto und wagte ein Experiment. Er baute allen Familien kleine Häuser, für eine oder zwei Familien, modernst eingerichtet. Jeder bekam einen eigenen Grund von 7 bis 8 Hektar zu freiem Eigen, mit dem er machen konnte, was er wollte. Außerdem wurde er Angestellter auf dem Marzottischen Grund: er mulate als Landarbeiter sein Brot verdienen. Der landwirtschaftliche Betrieb wurde zu einer Großfarm ausgebaut: mit riesigeiįi Silos, mit Ställen für 1400 Kühe und 1000 Schweine — und keinem einzigen Pferd (das durch Dampfkraft ersetzt ist). Damit aber niemand rasten muß, wenn die landwirtschaftlichen Arbeiten aetan sind, baute er noch eine aroße Fa-

„Königreich“ Marzotto

Konglomerat von Fabriken, in dem alle landwirtschaftlichen Produkte verwertet werden, auch alle Abfallprodukte: eine Molkerei, der eine Glasfabrik für die Erzeugung der'Milchflaschen angeschlossen ist, eine Ölfabrik, eine Seifenfabrik, Weinkellereien, eine Zuckerfabrik,

Zweitausend und etliche Hektare sind kein allzu großer Besitz. Außerdem fallen darunter noch ungefähr 1000 Hektar, die erst meliorisiert werden müssen und bis vor kurzem noch wüstes Land waren. Jetzt durchziehen -Kanäle das Land, in denen Fische gezüchtet werden, Traktoren ziehen Pflüge über das gewonnene Land, bald werden sich auch hier Siedlungshäuser erheben. Der landwirtschaftliche Besitz Marzottos ist klein, gemessen an den Latifundien in Süditalien, gemessen auch an den 100.000-Joch-Gütern im ehemaligen Ungarn, gemessen an dem Großgrundbesitz, wie er einmal in Böhmen und Galizien bestand. Er ist trotzdem ein großer Besitz, gemessen an der Armut italienischer Bauern. Das Erhebende an diesem Besitz ist, daß er nicht verwendet wurde, um den Besitz eines einzelnen oder einer Familie nur zu vermehren, sondern um das Leben tausender armer Bauern menschlich zu machen. Ein soziales Experiment, das nicht überall angewandt werden kann — dort, wo zum Beispiel Bauern mit genügend großem Besitz vorhanden ' sind, wäre es fehl am Platz —, aber das hier ein Maximum dessen darstellt, was geleistet werden kann an sozialer Besserstellung dieser Menschen,

Valdagno ist eine kleine Stadt in der Nähe von Vicenza. Sie besteht aus zwei Teilen: einer typisch italienischen Altstadt, mit einer großen barocken Kirche, kleinen Palazzis, engen Gassen, kleinen Geschäften und einer hochmodernen Stadt mit Arbeiterwohnhäusern, Krankenhaus, Kindergarten, Altersheim, Schulen, Kino, Sportstadion, Villen für Direktoren, eleganten Restaurants, Geschäften, Kaffeehäusern, die einen köstlichen Espresso bereiten. Überragt von einem Fabriksgebäude von enormen Ausmaßen, auf dem in großen Buchstaben das Wort „Marzotto" steht. Es ist die größte Textilfabrik Italiens, mit 54.000 Spindeln, 2000 Webstühlen, die 3,000.000 Meter Wollstoffe im Jahr erzeugen. Oder plastischer ausgedrückt: eine Stoffmenge, die genügt, um eine Million Menschen pro Jahr mit einem Anzug zu versehen. Es ist jene Fabrik, die eine der Hauptquellen des Reichtums des Besitzers darstellt, das auf jährlich 420 Millionen Lire Privateinkommen angegeben wird, ein Reichtum, der es ermöglicht, nicht nur ein großer Mäzen für Kunst und Wissenschaft zu sein, wie es heute in Europa nur mehr wenige gibt, sondern der es Vor allem ermöglicht, solche soziale Experimente, wie die Siedlung Santa Margherita, zu schaffen, wie dieser moderne Teil von Valdagno mit seinen Wohnvierteln, seinen sozialen Einrichtungen, die weit alle staatlichen Errungenschaften in den Schatten stellen. Ein Reichtum, der es ermöglicht, in der Nähe von Venedig für die eigenen Arbeiter und Angestellten einen Lido zu schaffen, wieder mit modernsten Gebäuden und allen hygienischen Vorrichtungen, mit lustigen Klosterschwestern, die die kleinen Kinder beaufsichtigen. Mit einer Sauberkeit, die

amerikanische Verhältnisse erreicht. Und Preisen, die niedrig für Italien sind.

1836 begannen die Marzottos in Valdagno mit einer kleinen Weberei, in der sie 12 Arbeiter beschäftigten. Valdagno war seit langem der Mittelpunkt einer blühenden Textilindustrie gewesen. Venedig, die Königin der Meere, bezog von dort ihre Stoffe für ihre Bewohner, ihre Matrosen, ihre Soldaten. Als die Republik von San Marco an Napoleon fiel, erzeugte Valdagno die Uniformstoffe für die Soldaten des Korsen. Einige Jahre nach der Angliederung an Österreich raffte eine Cholera einen Großteil der Einwohner hinweg. Eine tödliche Atmosphäre lag über dem Tal. Einer der Marzottos, der die Seuche überlebt hatte, begann von neuem. Mit zwölf Arbeitern. Ein armer Weber, angesichts der ungeheuren britischen Textilfäbriken dieser Zeit. Und der böhmischen, die den englischen erbitterte Konkurrenz machten. Der damalige Marzotto war seiner Zeit voraus. Er überflügelte die übrigen Unternehmer durch Einführung des maschinellen Betriebes an Stelle des Handbetriebes. Etwas von diesem „Der-Zeit-voraus-Sein“ ist der Familie geblieben. Heute ist sie es auf sozialem Gebiet.

„Wer immer“, sagt Leo XIII. in seiner Enzyklika „Rerum novarum", „mit einer größeren Fülle von Gütern gesegnet wurde, der hat sie zu dem Zweck bekommen, daß er sie zu seiner eigenen Vervollkommnung und ebenfalls zum Besten seiner Mitmenschen verwende."

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