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Das große Fürchten

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Albert Camus hat unser Jahrhundert das „Jahrhundert der Furcht“ genannt. Die Geschichte der letzten Jahrzehnte hat ihm bis heute recht gegeben. Was in der kleinen Welt, in die wir hineingeworfen sind, weithin Denken und Erleben bestimmt, ist tatsächlich das „große Fürchten“, die Angst. Angst vor jeder Verantwortung: für

Volk, Familie, Kind, für sich selbst. Angst vor der politischen Macht: von ihr terrorisiert, als Nummer ausgespielt und verbraucht zu werden. Es erscheint gefährlich, seinen Namen auch nur in irgendein Vereinsregister einzutragen: morgen schon kann es eine „Schwarze Liste" sein! Angst vor der Vergangenheit: es ist doch jeder für seinen Gegner ein rassisch oder sozial oder religiös Belasteter, ein Reaktionär und Dunkelmann. Aber ebenso Angst vor der Zukunft: niemand hat mehr reale sichere

Zukunftsaussichten. Ist die Gegenwart nicht wie eine Mauer, über die keiner hinausblicken kann und von deren Türmen Maschinengewehre , drohen? „Von einer Mauer umgeben zu leben", schreibt Camus irgendwo, „ist ein Hundeleben. Nun, die Menschen meiner Generation und diejenigen, die heute in das tätige. Leben treten, lebten und leben, je länger je mehr, wie Hunde.“ Nicht nur materiell gibt es keine Zukunftsaussichten. Auch geistig. Die Menschen sind müde geworden nach all dem, was über sie gekommen ist, und angesichts dessen, was ihnen droht. Es möchte scheinen; das geistige Erbe der Jahrtausende, Kultur und Ideale und Zivilisation seien verbraucht. Nichts vermag in der Jugend mehr zu zünden. Es ist als ob etwas hoffnungslos zu Ende ginge. Angst selbst vor dem gestern noch so gepriesenen Fortschritt von Wissenschaft und Technik: die' Atomwolken von Hiroshima und Nagasaki sind kaum verflogen und schon zittert man vor den neuen Erfindungen — nur zu richtig hat man fest- gestellt, daß in der Geschichte noch keine Mordwaffe ungenützt blieb.

Und die Angst löst die Flucht aus — aber wohin? Es gab eine Zeit, da konnte man sich vor der Politik ins Privatleben flüchten — aber was gibt es heute noch, das nicht kontrollierbar wäre? Oder man zog sich in den Raum des Geistes, der Philosophie und der Kunst zurück: die moderne Existenzphilosophie aber hat die Angst und das Sein-zum-Tode zu den Grundbegriffen und Schlüsselworten ihrer demoralisierenden Spekulationen gemacht; und jedes noch so trotzige Dennoch-ja- Sagen zum Leben vermag niemanden mehr von der Hoffnungslosigkeit zu erlösen. Mit dem Blick auf, moderne Kunst aber hat eine junge Tänzerin das Wort geschrieben: „Wenn man aim Ertrinken ist, braucht man keinen Photographen, sondern einen Rettungsring.“ Einmal gab es die Flucht in das Wort: Wer wagt heute noch diese

Flucht? Jedes Wort kann heute oder morgen zum Verhängnis werden: so viele unserer Zeitgenossen hat die Angst mundtot gemacht. Noch eine letzte Flucht gibt es: die Flucht vor dem Leben in den Freitod, mit dem der gebrochene Mensch (in zynischer Feierlichkeit) seine unwiderrufliche Unterschrift unter die Untragbarkeitserklärung des menschlichen Lebens setzt.

Aber ist Hucht in endgültige Sinnlosigkeit sinnvoll?

Was bleibt noch? Nichts, antworten die einen. Wir sind wie leichtsinnige Kinder, die auf Eisschollen treiben: heute oder morgen wird der unbarmherzige Strom die Eisschollen gegen die Böschung werfen, daß sie in tausend Stücke bersten, oder sie schmelzen mit tückischer Langsamkeit, aber unerbittlich der Auflösung zu. So wie die Eisschollen sind die menschlichen Sicherungen. Es gibt nur eines: nicht daran denken und sich am Leben freuen, [solange es sich rufen muß zu jenem, der über Abgründen wandelt, oder aufblicken zu jenem Auge, das über diesem Abgrund geöffnet ist. Untergang oder Erlösung... Die säkularisierte europäische Kultur ist am Ende, sie hat nichts mehr zu geben, was sich nicht eines Tages gegen sie richten kann, es sei denn ein echtes, erneutes Christentum."

Man hat begriffen, daß die Frage unserer Zeit zutiefst eine religiöse ist. Daß die einzige Sicherung des menschlichen Lebens gegen die Angst unserer Zeit jenes eine Wesen ist, dem das große Fürchten nichts anhaben kann, vor den es verstummt. Jenes Wesen, das seine Unerschütterlichkeit und Sicherheit in Erscheinung stellt: in den Sternen, die keine Angst aus ihren Bahnen wirft, im Geheimnis des Lebens, vor dem noch so grausames Wüten zuletzt immer noch müde geworden ist. Alle feindlichen Mächte sind, wie der Knabe, der Disteln köpft und meint, dadurch das Wfeltall zu beherrschen. Einmal wird er doch müde und muß geschehen lassen, was der Herr der Welt und der Geschichte bestimmt.

Niemand vermag zu sagen, ob noch in seinen Lebenstagen ein Abebben vom großen Fürchten erfolgt. Ob er nicht selbst dem äußeren Triumph von Terror und Gewalt zum Opfer fällt. Aber nicht das ist die entscheidende Frage. Sondern, ob mit unserer Generation, dieser müden, verängstigten, an vielen Idealen irre gewordenen und verbrauchten, eine neue Zeit beginnt, in der die eine Gewißheit in die menschlichen Ungewißheiten zurückkehrt, von der erst Persönlichkeit und Kultur neu auf gebaut werden können: das freie schöpferische Wort, die selbstlos dienende Staatskunst, Wissenschaft, Kunst und Philosophie, die den ganzen Menschen wieder zum Ziel von Kultur und Schöpfung auspressen läßt, und dann ist’s eben zu Ende.

Was bleibt noch? Gott, antworten die ändern. Er ist der Sinn unserer Angst. Übermächtige feindliche Wirklichkeiten pressen den Menschen an die Wand des Nichts, verfolgen ihn bis auf das steilste Grat seiner Existenz. Kann er allein bestehen? Der Mensch überwindet die feindlichen Wirklichkeiten immer nur durch eine mächtigere Wirklichkeit, Ungewißheiten und Entsicherungen nur durch eine stärkere Gewißheit. Die letzten menschlichen Sicherungen sind am Zusammenbrechen und nur Blinde täuschen sich darüber hinweg. Friedrich Muckermann schreibt in seinem Nachlaß: „Es ist aas der unüberbrückbaren Tiefe dieses Abgrundes heraus von neuem der Beweis aufgezwungen, daß die Menschheit entweder verloren ist, daß ihr Dasein sinnlos geworden, oder aber, daß man hinübermachen. Und das kommt nicht von außen, sondern von innen. Wenn im Wissen und Wollen des Menschen die Gewißheit zurückkehrt, daß im Grunde Macht und Angst dem nichts anhaben können, der seine Anker in den Hafen der Allmacht Gottes geworfen hat. Unsere Generation hat nicht zu wählen zwischen gesicherter Ruhe und Tragik. Sie hat nur eine Wahl zu treffen: ob diese ihre tragische Existenz für ihr eigenes Heil und für die Nachwelt sinnvoll oder sinnlos sein soll. Wir werden die ganze Belastung der Vergangenheit austragen müssen. Denh Gott verzeiht gerne, die Menschen bisweilen auch, die Geschichte

— niemals. Aber „Gott schreibt gerade auch auf krummen Zeilen“ (Paul Claudel). Die Menschen, die das große Fürchten unserer Tage bestehen und es überwinden, werden, selbst wenn sie scheinbar zugrunde gehen, doch die Zukunft bauen.

Der erste Ostertag. In einer Stube sitzen und stehen sie beisammen: der letzte Rest der Anhänger eines Mannes, den man hin- gerichet hat. Das große Fürchten hält sie im Bann. Angst vor den Mächtigen des Landes — man wird sie suchen, um die letzten Spuren eines verhaßten Gegners zu tilgen. Angst vor der Vergangenheit — sie sind für immer kompromittiert und belastet. Angst vor der Zukunft — sinnlos und aussichtslos ist das Leben für Menschen, die einem Ideal alles erfolglos geopfert haben. Angst vor dem Wort — wenn man sic nur nicht anspräche und sie in Ruhe ließe! Draußen ist Frühling. Grün schimmert die Saat und die Anemonen blühen. Aber in ihnen ist etwas zerbrochen, zu Ende. Sie wollen heimgehen — aber wo sind sie noch daheim? — Da steht Er plötzlich mitten unter ihnen: „Fürchtet euch nicht!“ Weder den Mächtigen der Erde gilt sein Ostergruß, die stets bereit sind, ihn und die Menschheit abzuurteilen, noch den Altklugen, die sich in ihre eigene Weisheit verstricken. Sein Ostergraß gilt den Verschüchterten und Verängstigten, die schon an ihm unsicher geworden waren. In dieser Stunde hat ihr Leben und das aller Menschen seinen angstüberwindenden und überzeitlichen Sinn erhalten. Furcht und Schrecken haben ihr angemaßtes Recht über jede Kreatur verloren, denn Er hat die Welt überwunden.

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