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DAS GROSSE MISSVERSTÄNDNIS

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Für kaum ein anderes Werk gilt es, daß nur im Zusammennehmen der einseitigen, oft sich widersprechenden Deutungen eine gewisse „Wahrheit“ erreicht wird, wie für das Kafkas. Indem er versuchte, die Welt, wie sie ist, in ihrem Kern und als Ganzes mit poetisch-gleichnishaften Mitteln darzustellen, entspricht er der Situation des heutigen Menschen, der einer verwirrenden Vielheit sich bekämpfender Einzelwahrheiten gegenübersteht. Daher Kafkas erschrek- kende Modernität, die himmelweit von der Konjunkturangst so vieler Moderner entfernt ist Seine Dichtung ist keine

Utopie, sondern Darstellung, Kritik, Erkenntnis. „Kunst ist ein Spiegel, der vorausgeht“, „der Traum enthüllt die Wirklichkeit, hinter der die Vorstellung zurückbleibt“. Aber indem sie das Vieldeutige, Ungewisse; Verstellte-dafsteltt, 'deckt'sie auf und verhüllt zugleich, eine Doppelfünktiön, die Kafkas Kunst in besonders hohem' Maße kennzeichnet. IWi'-’alltäglichsten Vorgänge werden als das Staunenswerte und Unverständlichste bezeichnet. Darum schockiert bei Kafka nicht das Ungeheuerliche, sondern dessen Selbstverständlichkeit. So entstand weder Traum noch Nachbildung der Wirklichkeit, sondern deren Rätselbild. Da alle Möglichkeiten der Deutung offen bleiben, behält jede eine gewisse Wahrscheinlichkeit; keine ist eindeutig sicher, was alle Interpretation letztlich immer auf den Wortlaut des Textes zurückweist.

Man kann aus Brief- und Tagebuchstellen Kafkas die Eigensgesetzlichkeit seiner dichterischen Welt erhärten, in der den Gestalten und ihrem Verhalten eine immittelbar zwingende Richtigkeit und Evidenz zukommt. Demnach seien Kafkas Schriften reine Dichtung und nicht Abhandlungen über philosophische, politische und andere Probleme. Man kann aber auch die gesamte Dichtung Kafkas als eine fast übermenschliche Anstrengung um die Gestaltung einer dauernden, allgemein gültigen Ordnung begreifen, um zum wahren „Gesetz“ menschlichen Daseins zu gelangen. Dann wäre Kafkas Werk der Versuch, eine neue Welt wachsen zu lassen, in der Freiheit nicht in Chaos umschlägt. „Solange du nicht zu steigen aufhörst, hören die Stufen nicht auf, unter deinen steigenden Füßen wachsen sie aufwärts.“

„Manchmal scheint es, daß das Stück oben in den Soffitten ruht, die Schauspieler Streifen davon abgezogen haben, deren Enden sie zum Spiel in den Händen halten oder um den Körper gewickelt haben, und daß nur hie und da ein schwer abzulösender Streifen einen Schauspieler zum Schrecken des Publikums in die Höhe nimmt.“ Besser als durch diese Tagebucheintragung (29. Oktober 1911) läßt sich schwerlich der Widersinn beschreiben, Kafkas „innere Welt“, der einzig und allein seine nach strengem Prinzip gefügte epische Form in ihrer Härte, Dichte und Spannkraft entspricht, ins Rampenlicht der Bühne zu zerren. Trotzdem ging die Dramatisierung seines Romanfragmentes „Der Prozeß“, die von Andrė Gide und dem Schauspieler Jean Louis Barrault nach der französischen Übersetzung vorgenommen wurde, Anfang der fünfziger Jahre um die ganze Welt; in der deutschen Bearbeitung durch Josef Glücksmann war sie seinerzeit auch im Volkstheater in Wien zu sehen.

In dem „Prozeß“, der das äußere Leben des Bankprokuristen Josef K. als innerer Monolog begleitet, ist K. zugleich Angeklagter und Verteidiger, Richter und Opfer. Das Gericht, dessen oberste Instanz sich einer korrupten Bürokratie bedient, ist in Wahrheit Ausdruck seines eigenen inneren Zustandes. Es geht dabei um die totale Lebensrechtfertigung, um die Weckung seines eigenen richtenden Selbst, des inneren untrüglichen Gesetzes seines Daseins, um die Mitverantwortung für alles, was geschieht. Die Unkenntnis dieses Gesetzes ist K.s Schuld, der sich für unschuldig hält und erst am Ende nur' widerstrebend reif wird zur freien und freiwilligen Selbstverurteilung. Am Schluß, als ihm die beiden Herren in Schwarz das Messer reichen, mit dem sich Josef K. selbst richten soll, fallen seine Blicke auf das letzte Stockwerk des an den Steinbruch angrenzenden Hauses. Wie ein Licht aufzuckt, so fuhren die Fensterflügel eines Fensters dort auseinander, ein Mensch, schwach und dünn in der Ferna und Höhe, beugte sich mit einem Ruck weit vor und streckte die Arme noch weiter aus. Wer war es? Ein Freund, ein guter Mensch? Wenn Kafkas Werk Hoffnung kennt, dann (nach Adorno) im Vermögen: noch dem Äußersten standzuhalten, indem es Sprache wird. An entscheidenden Stellen steht jedes Wort, jeder Satz buchstäblich, und jeder bedeutet. Wie unmöglich daher im Grunde, etwa oben zitierten Schluß in die Sichtbarkeit des Darstellerischen auf einer Bühne zu übertragen!

Die so erfolgreiche französische Dramatisierung setzte alles in Szene, in Erscheinung und Handlung um, was umsetzbar war, um so viel Bühnenrealität wie möglich zu geben. Das Pariser Theater bot mehr szenische Effekte, während die deutschen und österreichischen Bühnen das Doppelbödige eines Alptraumes, den Untergang des Menschen in der Maschinerie einer allgegenwärtigen, aber nirgends greifbaren Instanz aufzeigten (in England mußte die Bühnenfassung nach wenigen Aufführungen abgesetzt werden). Der Sinn des „Prozeß“-Romanes war schon in der Bearbeitung von Gide- Barrault umgedeutet und simplifiziert worden. Darnach hat Josef K. den ganzen furchtbaren Prozeß-Mechanismus in Bewegung gesetzt durch die Todsünden, deren er schließlich für schuldig befunden wird: der Lieblosigkeit, der Ungeduld und der Gleichgültigkeit. Zudem haben die Bearbeiter die Gerichtsszene stark verwandelt: sie haben sie nicht nur an einen späteren Ort versetzt, sondern auch mit einem viel stärkeren und positiveren Akzent versehen als im Roman. Vielleicht war dieser dramatische Funke: der Widerstand des Menschen gegen die Gewalt nicht mit den Mitteln der Gewalt, sondern der Menschenwürde, die eigentliche Ursache für den Erfolg des Stückes. Das freilich zu dem von Kafka Gemeinten und Geahnten, seiner unerschöpflichen Sinnfülle durch eine Welt getrennt bleibt.

Der Mensch, unvollkommen wie er ist, auf der Suche nach einem Absoluten, Vollkommenen, sittlich Reinen — das ist die Urfigur, die Kafka immer wieder gezeichnet hat. Im „Schloß“ ist es K., der ortsfremde Landvermesser, der sich auf die Suche nach dem Absoluten begibt. Doch jeder Schritt, den er in Richtung auf das „Schloß“ unternimmt, geht fehl. Eine undurchdringliche, skurille Hierarchie von Beamten, Sekretären, Gehilfen, Dienern, Boten und Funktionären versperrt ihm den Zugang zu der ersehnten höheren Welt der Ordnung und Vollkommenheit. Er bleibt der „Fremde“ und kann nichts tun, als sich weiter verirren. „Es gibt freilich Gelegenheiten“, sagt Kafka, „die zu groß sind, um benützt zu werden, es gibt Dinge, die an nichts anderem als an sich selbst scheitern.“

Die Beziehungen zum „Prozeß“ sind unverkennbar. Der Mensch wird zerrieben in einem System von irrealen Bezügen und undurchsichtigen Instanzen. Wie kann sich das freie „Selbst“ inmitten der es umschließenden Lebens- und Triebmächte behaupten? Auch im „Schloß“ werden die überpersönlichen und unsichtbaren Mächte, die im Innern unseres menschlichen Daseins wirken, als „Personen“ mit konkreten Namen und Erscheinungsfornjen gestaltet, unwahrscheinliche Wesen, nach dem Gesetz des Wahrscheinlichen mit Fleisch und Blut versehen. , „jį, -■ time ’inan. ifl

Kafkas Freund und verdienstvoller Machlaß Verwalter Max Brod rechtfertigte seine Dramatisierung damit, „dem Roman zu dienen; um das exemplicite zu machen, was im Gewirr des Unvollendeten verlorenzugehen drohte“.

Als ob wirklich die Verkürzung des Geschehens, wie sie die Bühne verlangt, das von Kafka hinterlassene „Labyrinth“ entwirren, das weniger Wesentliche zurückdrängen und so die Deutung des Werkes erleichtern könnte. Scheint es nicht geradezu vermessen, eine gewisse Unlogik und Unklarheit in den drei Romanfragmenten, die auf die verhinderte künstlerische Bewältigung zurückgeführt werden müssen, auf der Bühne erhellen zu wollen? Im „Schloß“-Fragment ist zu viel „Geist“, der nicht zum Gegenstand einer Handlung werden kann. Um hier einigermaßen Klarheit zu gewinnen, müssen möglichst sämtliche Aussagen und Bilder des Romans in ihrem wechselseitigen Zusammenhang gesehen werden. Erst dann werden wir den langwierigen Zermürbungsprozeß des Landvermessers K., die dichterischen Gleichnisse vom Schicksal des Menschen in unserer Welt, der trotz dem Unerreichbaren, dem Vergeblichen seiner Bemühung nicht verzagt, begreifen. Auf der Bühne dagegen treten die Unklarheiten des Romanfragments nur noch deutlicher in Erscheinung. Zu schweigen davon, daß Brod dem Schauspiel eine Schlußszene aus eigenem hinzugefügt hat: Am Portal des Schlosses (des Himmels?) verwehrt der Türhüter schroff den Einlaß. Das Stück schließt mit K.s Tod und mit kommentierenden, die Mitmenschen entlarvenden Szenen am Grabe. Damit basiert es auf ganz anderen Fundamenten als der Roman. (Das dramatisierte „Schloß“ war vor etwa 11 Jahren auch in Wien im Theater in der Josefstadt zu sehen.)

Eine Tagebucheintragung Kafkas lautet: „Roßmann und K., der Schuldlose und der Schuldige, schließlich beide unterschiedslos strafweise umgebracht, der Schuldlose mit leichterer Hand, mehr zur Seite geschoben als niedergeschlagen.“ Das sind der Mann K., dem der Prozeß gemacht, der nicht in das Schloß eingelassen wird, und der nette Bursche Roßmann, dessen Vorname Karl verschämt die Identität mit den anderen andeutet. Der unvollendet gebliebene „Amerika“-Roman Kafkas ist chronologisch der erste der sogenannten Trilogie der Einsamkeit mit dem gemeinsamen Grundthema: Fremdheit, Isoliertheit mitten unter den Menschen. In diesem besonderen Fall: die Hilflosigkeit eines unerfahrenen, seine Kindheitsideale schwinden sehenden, von Angst geplagten jungen Menschen in Amerika, das symbolisch für Abenteuer steht. Auf der Suche nach dem Gerechten und Barmherzigen erfährt er nur Enttäuschung, Demütigungen und Ungerechtigkeiten, bis dem wehrlosen Helden, der schuldig geworden ist durch übertriebene Harmlosigkeit, endlich Hilfe und Rettung zuteil werden. Max Brod, der Bearbeiter, hat seine Tragikomödie, wie er sie nennt, beflissen auf das märchenhafte Ende hin angelegt, um den „hellen, lichten“ Kafka zu zeigen. Schon in der Bühnenbearbeitung des „Prozeß“-Fragmentes zerstört am Schluß ein einziges unbedachtes Wort das gesamte Gefüge der Kafkasčhen Welt: das Wort Liebe. Als hätte Josef K. sein Todesurteil durch mehr Liebe verhindern können. In „Amerika“ heißt das unbedachte Schlußwort: Gnade (die Kafka nicht gemeint hat).

In dem Film „Der Prozeß“ des Amerikaners Orson Welles, der es als erster gewagt hatte, Kafkas präzis gezeichnete Alptraumwelt auf die Leinwand zu übertragen, wird Josef K. am Ende von den beiden Schergen in Schwarz nicht mit dem Dolch erstochen. Sie haben Mitleid mit ihm, kehren an den Rand des Steinbruchs zurück und werfen von dort aus eine Handgranate auf den Entkleideten; aus der Detonation der Granate steigt der Rauchpilz einer Atombombe auf. Josef K. zum Symbol der unter der Drohung der Bombe lebenden Menschheit — das kennzeichnet die tiefgreifende Umdeutung, mit der Welles das Schicksal des anonymen passiven Jedermann K. ins Überdimensionierte, Größenwahnhafte steigerte. Jener Schattenriß eines Menschen im Roman, der, an einem Fenster stehend, die Arme ausbreitet, als Josef K. der Dolch ins Herz fährt, fehlt bei Orson Welles, und damit fehlt sehr Entscheidendes. Er umstellt seinen aufbegehrenden Filmhelden mit einer szenischen Phantasmagorie: aus den verwinkelten Straßen des alten Prag wird eine ins Barockhaftüberdimensionierte gesteigerte Stadt, aus engen Räumen riesenhafte Schreib- und Maschinensäle eines anonymen Großbetriebes. Das Elektronengehirn im Vorraum soll K. Aufschluß über sein Verfahren geben. Orson Welles irreale Welt atmet aus allen Fugen Artistik. Nicht aus dem Alltäglichen tritt bei ihm das Unheil allmählich heraus, sondern es dringt mit elementarer Gewalt von außen in das Leben des Josef K. ein. Welles hat Kafka gründlich überspielt.

Die große Kafka-Show scheint noch nicht am Ende. Der Woge der Dramatisierungsversuche an seinen drei Romanen folgte bereits eine zweite der theatralischen Aufbereitung ausgesuchter Stücke seiner Erzählungen. („In der Strafkolonie“, „Ein Bericht für eine Akademie“, „Die Verwandlung“.) Die Bilanz zeigt eindeutig, daß Kafkas „innere Dramatik“ auf der Bühne, im Film, auf dem Bildschirm (und selbst im Hörspiel) „übersetzt“ wirkt. Sie erscheint, wo immer man sie bildhaft darzustellen sucht, veräußerlicht; ihr Hintergrund ist plötzlich vordergründig und absichtsvoll. Die nahtlose spannende Prosa Kafkas bewahrt nur unangetastet ihren Sinn: füllt man ihre Körperlosigkeit „komödiantisch“ auf, verliert sie ihren Reiz und Nerv.

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