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Das Haus Österreich

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Vergangenheit und Gegenwart, klare Schau von einem fernen, hohen Gipfel und Relativität des Standpunktes mitten im Fluß der Ereignisse, Erfassung der großen Entwicklungslinien und erlebnisnahe Fülle des -Daseins, Wahrheit der Geschichte und Wirklichkeit des Lebens sind die Pole, um die jede Problematik der historischen Darstellung von der urkundengetreuen des Geschichtsforschers bis zur nachschöpferischen des historischen Dichters kreist.

Erfüllt vom Heimweh des Emigranten, legte nun Ernst Lothar seine österreichische Kavalkade auch in der Übersetzung vor . Wenn uns auch der Dichter versichert, weder ein Protokoll der österreichischen Geschichte von 1888 bis 1938. noch eine Totenrede auf Österreich geben zu wollen, so wird das Geschehen dieser letzten fünfzig Jahre zwar ans der Wirklichkeitsnahe eigenen Erlebnisses, aber auch nur von einem der vielen möglichen Standpunkte aus erschaut und gestaltet. Entscheidend für den Wert des Buches sind allerdings in erster Linie seine dichterischen Qualitäten.

Lothar kommt aus dem geistigen Klima eines Arthur Schnitzler, dessen Novelle „Fräulein Else“ er zu einem Theaterstück umgestaltete. In der Entwicklungslinie von Schnitzlers Roman „Der Weg ins Freie“ liegt auch „Der Engel' mit der Posaune“ des um 28 Jahre jüngeren Lothar. Abgesehen von der verschiedenen Problemstellung beider Romane die aus dem Altersunterschied der Verfasser und damit aus der Tatsache zu erklären ist, daß Schnitzler noch ganz im ausgehenden 19., Lothar da

1 „The Angel with the Trumpet“. New York 1944. — „Der Engel mit der Posaune. Roman eines Hauses“. Salzburg 1947.

gegen bereits im beginnenden 20. Jahrhundert .purzelt, fällt bei unserem Roman eine ziemlich oberflächliche Sprachbehand- lung auf. Lothars Ehrgeiz strebte nicht danach, ein Sprachkunstwerk zu schaffen, sondern seinen Gestalten, die wirkliche Menschen von Fleisch und Blut, Individualitäten und keine blassen Schemen sind, mit den Mitteln eindringlichster Psychologie Leben zu verleihen.

Über das Dichterische hinaus aber erhebt der Verfasser den Anspruch:

„Ich habe dieses Buch für Menschen geschrieben, die Österreich überhaupt nicht oder nur aus klischierten Vorstellungen kannten... Die barocke Wiener Häuserfassade . . . täuschte... Nach der Erklärung der Allüer- ten. die ein neues, freies Österreich verhieß, schien es mir daher hoch an der Zeit, allen denen, die es nicht genug kannten, einen Bilderbogen Österreichs in die Hand zu geben, der zumindest den Versuch unternahm, hinter die Fassade zu schauen und m't dem Bild die Schatten zu zeigen.“

Viele Ausländer, die Österreich nicht oder nur ungenügend kennen, werden sich von Lothars glänzender Darstellung willig in das Haus führen lassen, worin die Vertreter der sterbenden Monarchie, aber auch der jungen Republik wohnten; sie werden schauen und sie werden glauben. Aber schon nach Erscheinen der englischen Ausgabe war man wißbegierig genug, den Dichter zu fragen, wieviel Wahrheit dem Erzählten zugrunde lag. Die Antwort lautete: „Bis auf Namen, Daten und Ereignisse, die der Geschichte angehören, ist alles Spiel der Einbildung, frei gefabelt und geformt... Wahr ap dem Buch ist nur eines: Österreich. Die unzerstörbare Liebe dafür. Der unerschütterliche Glaube an seine Vergangenheit und Zukunft."

Mit dem Erlebniswissen des Österreichers,

der auch fEe dunklen Flecken weder an der

Fassade, des Hauses noch am Charakter seiner Bewohner leugnen will, haben wir die Frage zu beantworten, ob dieses Buch der Welt ein richtiges und vollständiges Bild unseres Landes entwirft.

So weit es sich um die Schilderung des Hauses handelt, dieses „widerspruchsvollen, zwielichtigen, verwinkelten, unsinnig-sinnlichen, herrlich schönen, gefährlichen, im Zentrum stehenden, tief unterkellerten, dämonischen“ Hauses, das errichtet wurde „auf den ewigen Grundlagen der Menschennatur, wo sie am erden- und himmelsnächsten ist“, soweit das Wesen Altösterreichs als die Idee erörtert wird, „Nationalitäten zu einer übernationalen Nation zu vereinigen Vereinigte Nationen, lang bevor es Vereinigte Staaten gab“, und der österreichische Charakter als Menschlichkeit, Anstand, Scham oder Scheu gedeutet wird, stimmen wir dem Dichter durchaus bei. Sobald wir jedoch di Gestalten betrachten, die das Haus Österreich bevölkern, drängen sich Ein wände auf, die mit der eingangs erwähnten Problematik des historischen Romans in engstem Zusammenhang stehen.

Geschichtliche Personen und Ereignisse erheischen die Strenge objektiver Wahrhaftigkeit, erfundene dagegen dürfen sich, nur vom planenden Willen des Verfassers gelenkt, gewissermaßen frei im Raum der Dichtung bewegen und brauchen lediglich glaubwürdig zu sein. Das Leben ist kontinuierlich und kennt keine scharfen Grenzen, sondern nur mannigfaltige Übergänge. Problematisch wird der R iman dort, wo sich die erfundenen Gesta’tcn mit den geschichtlichen in einem Zwischenreich treffen, das halb der Geschichte und halb der Einbildung angehört Die mehr oder weniger frei erfundenen Personen gewinnen durch den Hintergrund historischer Persönlichkeiten und Ereignisse an Lebenswirklichkeit, was ja den Hauptreiz des Buches ausmacht. Leider erfolgt dies auf Kosten der geschichtlichen Wahrhaftigkeit.

Die Gefahr des Zwischenreiches der Übergänge läßt den spürsinnigen Leser hinter jeder erfundenen Gestalt eine historische Persönlichkeit vermuten, denn der Dichter unterstützt dieses recht nebensächliche Beginnen, indem er zum Beispiel ins Nachwort die Hauptgestalt des Romans als einen ehemaligen Schulkameraden bezeichnet, dessen Schicksal ihm einigermaßen bekannt gewesen, in der Familie der Klavierbauer Alt nur unschwer die bekannte Familie Bösendorfer erkennen läßt, ja sogar den Burgtheaterautor Hans Müller in die Handlung rühmend einschmuggelt. Persönliche Beweggründe mögen Ernst Lothar zu diesem Vorgehen veranlaßt haben. Trotzdem darf das Buch weder als politischer noch als „Schlüsselroman aufgefaßt werden.

Henriette Alt ist yjohl iene Frau, die der Kronprinz Rudolf veranlassen wollte, mit ihm gemeinsam zu sterben. Bedenklich wird es, wenn entgegen der geschichtlichen Wahrheit, diese Frau das Ansinnen des Kronprinzen nicht dem Polizeipräsidenten meldete, sondern vom Direktor der kaiserlichen Kabinettskanzlei vorgeladen wird, woraus sich eine „Audienz in der Dämmerung“ ergibt, die mehr als nur fragwürdig ist. Kaiser Franz Joseph wird recht einseitig als „korrekter Buchhalter“, als ein Mann ohne Herz, dargestellt. Am gewagtesten aber erscheint die Szene, wo der sterbende Kaiser seine Beichte ablegt, denn abgesehen davon, daß Dr. Ernst Seydl etst 1918 zum Bischof geweiht wurde, werden hier einem noch Lebenden tendenziöse Worte von Gewicht in den Mund gelegt, die erst zu beweisen wären. Die Ermordung des Bundeskanzlers Dr. Dollfuß aber durch den frei erfundenen Hermann Alt widerstreitet zu sehr den historischen und allgemein bekannten Ereignissen des nationalsozialistischen Putschversuches im Juli 1934, als daß darauf noch näher eingegangen zu werden brauchte.

Bedauerlich ist es ferner, wenn sich eia Schriftsteller vom Range Ernst Lothars oftmals recht billiger Effekte bedient, wie sie etwa die Schilderung von Hitlers Durchfall an der Wiener Kunstakademie darstellt. Dies, wie die historischen Verzeichnungen, beschwören als größte Gefahr des Buches die Diskriminierung des dichterischen Wortes herauf. Das in Mißkredit gebrachte dichterische Wort ist doh wohl ein za hoher Preis für die starke Lebenswirklicb- keit der dichterischen Welt.

Von den politischen Strömungen Österreichs von 1888 bis 1938 wurde keine einzige vergessen. Vergessen aber wurde, den Österreichischen Arbeiter nicht nur im Getriebe der Tagespolitik und bei Streiks, sondern auch hei seiner Arbeit zu zeigen. Und gab es tatsächlich unter den österreichischen Mittelschullehrern nur jene Miklaus, die sosehr mit Heinrich Manns Professor Unrat verwandt sind? Vergessen wurde der kleine Handwerker, der kleine Gewerbetreibende, der zumindest in dem vom Dichter behandelten Zeitraum bescheiden von seiner Hände Arbeit lebte und tapfer die Lasten des Alltags trug.

Lothars Haus Österreich wird nur von der guten Gesellschaft bewohnt, die noch aus der Monarchie stammte und sich auch in der Republik in ihren Lebensgewohnheiten nicht zu ändern brauchte. Sollte aber in diesem Hause jene Gesamtheit Österreichs Platz finden, die allein imstande wäre, das Ansehen unseres Landes vor der Welt zu vertreten, so müßte es doch wohl noch etwas erweitert werden.

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