"Das Hören ist das Wichtigste"

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Pierre Boulez gilt als einer der wichtigsten Komponisten der Gegenwart und trägt als Dirigent wie kein anderer zur Verbreitung der Musik des 20. Jahrhunderts bei. Er kennt keine Vorurteile und nur höchste Qualität, ist unermüdlich offen und neugierig. Ein geduldiger, liebenswürdiger Vorwärtsstürmer.

Die Furche: Herr Boulez, Sie sagen, junge Komponisten müssten immer auf der Suche nach Neuem sein.

PIERRE BOULEZ: Ja! Warum etwas schreiben, was schon geschrieben ist, und sicher besser? Es ist wie Olivenöl: Das erste Mal ist es sehr gut, das zweite Mal gut, das dritte und vierte Mal mäßig.

Die Furche: Haben es die jungen Komponisten heute schwerer, als Sie es anfangs hatten?

BOULEZ: Im Gegenteil. Sie haben es leichter, denn es gibt Institutionen, die funktionieren, das Ensemble Modern in Frankfurt, das Klangforum in Wien, die Sinfonietta in London. Für mich gab es als Ausnahme in Deutschland führende Rundfunk-Leute in Baden-Baden, München oder Hamburg, die hartnäckig waren und eine Politik entwickelten, um die technische Musik zu unterstützten. Diese Zentren waren damals viel lebendiger als London und Paris.

Die Furche: Ist die grenzenlose Freiheit, die Komponisten heute stilistisch haben, eine Chance? Ist es nicht einfacher, etwas überwinden, gegen etwas ankämpfen zu müssen?

BOULEZ: Freiheit kriegt man durch Disziplin. Freiheit ohne Disziplin ist noch Chaos. In diesem Sinn haben es die junge Leute tatsächlich schwerer, als wir es hatten, denn wir waren stark orientiert. Ein Zentrum wie Darmstadt war sehr wichtig. Natürlich haben dort nicht alle dasselbe gedacht, aber doch mehr oder weniger in dieselbe Richtung. Dann hat sich diese Generation entwickelt: Stockhausen, Nono, Berio, Ligeti, ich - jeder in seine eigene Richtung, auf seine Probleme konzentriert. Wir haben sehr viel entdeckt in dieser Zeit, die Musik von Schönberg und Berg etwa, die wurde - ich spreche von Paris - nur selten aufgeführt, und nicht sehr gut. Es gab nur wenig Beziehung zu anderen Kulturen, und nicht nur in der Musik, auch in der Literatur und in der Malerei.

Die Furche: Ist es Nostalgie zu meinen, dass die siebziger Jahre musikalisch interessanter waren als die Gegenwart?

BOULEZ: Natürlich waren sie besonders interessant, aber jeder findet die Jahre seiner Jugend am besten. Nach 1945 haben wir alle großen Komponisten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entdeckt. Wenn man Zwanzig ist, entdeckt man die Welt, das sind die besten Jahre, aber man darf nicht dort stehenbleiben.

Die Furche: Auf die spannende Nachkriegszeit folgten die wilden Sechziger voller Experimente.

BOULEZ: Das war sehr experimentell und eine Konsequenz der fünfziger Jahre. Dann kam das Jahr 68, sehr chaotisch, ohne Disziplin, deshalb ist die Revolution sehr schnell futsch gegangen. Sie hat Spuren hinterlassen, aber eigentlich nicht viel bewirkt.

Die Furche: Sie leiteten in diesen Wochen wieder die Lucerne Festival Academy. Was wollen Sie Ihren Schülern vermitteln?

BOULEZ: Dass die Musik interessant ist und wie man sie gut spielt. Die Leute sind jung, wissen schon ziemlich viel und haben meistens keine Vorurteile.

Die Furche: Das Handwerk kann man lernen. Und dann?

BOULEZ: Komposition lernt man nicht und kann man nicht lehren. Lernen kann man Analyse, Instrumentierung, Formmodelle, aber Ideen bringt nur die Persönlichkeit. Man kann die Persönlichkeit forcieren und sagen, in welche Richtung es gehen soll. Mehr kann man nicht machen - zumindest ich nicht. Ich könnte nie ein Kompositionslehrer über viele Jahre sein, wie Messiaen einer war. In meiner Klasse in Basel habe ich ein Rohmaterial vorgegeben, dann haben die Studenten und ich daran gearbeitet, und zwei, drei Wochen später haben wir die Ergebnisse verglichen.

Die Furche: Wann ist ein neues Musikstück gut?

BOULEZ: Wenn es zunächst einmal handwerklich gut geschrieben ist. Und wenn es gehört ist. Man merkt sehr schnell, wenn das nur auf dem Papier existiert. Das Hören ist das Wichtigste, das habe ich von Messiaen gelernt, er hat uns darauf dressiert. Ich habe viele seiner Stücke uraufgeführt, und er war immer da und hat sehr präzise und scharf gehört.

Die Furche: Was kann in der Musik noch neu erfunden werden?

BOULEZ: Die Erweiterung von Klang mit einer neuen Technologie. Man spricht von Mikrointervallen, aber Mikrointervalle ohne Technologie, das ist reine Utopie. Denn die Instrumente sind nicht dafür gemacht, unsere Finger sind zu groß, aber unsere Ohren sind feiner. Wenn Sie Mikrointervalle elektronisch stimmen, bleiben sie so, das ist nicht abhängig von Feuchtigkeit, Temperatur usw. Diese Erweiterung der Klangwelt ist sehr interessant, da gibt es viel zu entdecken. Da stehen wir erst am Anfang.

Die Furche: Müsste nicht neues Lehrmaterial geschrieben werden, um auch Laien mit der Neuen Musik vertraut zu machen?

BOULEZ: Ich kann mich nicht an Laien orientieren, das ist lange vorbei. Und ich glaube nicht, dass es viel bringen würde. Höchstens eine falsche Idee von der Musik, weil die Leute sagen, Musik muss einfach sein. Nein, muss sie nicht. Die rhythmisch komplizierte Chormusik des 15. Jahrhunderts war auch professionell gemacht und nicht für Laiensänger. Früher haben die Leute eine Beethoven-Symphonie vierhändig gespielt, wahrscheinlich auch nicht gut, heute haben sie die Dokumentation. Sie hören Aufnahmen, und es besteht die Gefahr, dass sie glauben, diese Aufnahme sei die Partitur. Es ist aber nur eine Interpretation der Partitur. Es ist gefährlich, zu glauben, das Dokument sei absolut, also das Dokument mit dem Original zu verwechseln. Wenn die Leute die Möglichkeit hätten, eine Partitur zu studieren und zu verstehen, würden sie nicht so denken.

Die Furche: Können Sie Ihre innerste Motivation, zu musizieren, benennen?

BOULEZ: Ich bin nur für Musik begabt, für nichts anderes.

Die Furche: Gibt es derzeit eine Avantgarde und brauchen wir so etwas noch?

BOULEZ: Es braucht immer Leute, die vorwärts gehen. Es gibt so viele, die rückwärts gehen oder stur auf einer Stelle bleiben. Man braucht Menschen mit mehr Mut, mit mehr Sinn für Abenteuer. Sonst sterben die Kulturen.

Das Gespräch führte Ursula Strohal.

Provokateur und Pädagoge

Seine Provokation aus den sechziger Jahren, man solle alle Opernhäuser in die Luft sprengen, hängt Pierre Boulez bis heute nach. Dabei hat er sich längst am Pult großer Orchester, bei bedeutenden Festspielen und auch in der Oper etabliert. Als Dirigent von Patrice Chéreaus legendärer "Ring"-Inszenierung 1976 bis 1980 erhielt er die Weihen Bayreuths, im Vorjahr dirigierte er dort Christoph Schlingensiefs Interpretation des "Parsifal". Boulez ist ein gesuchter Pädagoge, beim Lucerne Festival leitete er kürzlich zum dritten Mal die Akademie und gab mit den Studenten ein fulminantes Gastspiel bei den Klangspuren, dem Tiroler Festival Neuer Musik. Vor allem anderen freilich ist Pierre Boulez ein Komponist, der die Musik des 20. Jahrhunderts und die Komponistengenerationen nach ihm geprägt hat. Er wurde 1925 im französischen Montbrison geboren und studierte in Paris bei Olivier Messiaen. Er durchlief die Zwölftonmusik, die serielle Technik und Aleatorik, gründete das berühmte Ensemble Intercontemporain und forscht seit bald dreißig Jahren an seinem Pariser Ircam-Institut. Boulez ist rastlos geblieben und jung. Ein Denker und Sucher, zielgerichtet, klar, faszinierend.

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