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Das Jahrhundert des Kindes?

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Eine optimistische Dame, die schwedische Pädagogin Ellen Key, hat schon vor etlichen Jahren dieses Jahrhundert das „Jahrhundert des Kindes“ genannt. Alles, was das Kind, seine Welt und seine Entwicklung berührt, meinte sie, findet Beachtung. Doch eine knappe Blütenlese der Fakten, die in den letzten Monaten veröffentlicht worden sind, dementiert die optimistische Auffassung, daß unsere Gesellschaft kinderfreundlicher sei, als es andere zuvor waren.

Denn Österreichs Eltern verzärteln und vergöttern ihre Kinder einerseits weit über den Normalbedarf an Liebe hinaus, anderseits lassen sie die Binsenweisheiten der Pädagogik außer acht. Sie prügeln und erklären, der Grund der Mißhandlungen habe in „Trotz, Lügenhaftigkeit, Widerspenstigkeit, Un- ehrldichkedit, Nicht-essen-Wollen der Kinder" gelegen. Belehrungen nehmen sie selten zur Kenntnis, der Besuch der Mütterberatungsstellen geht merklich zurück.

Scheidungen — Martyrien für Kinder

Österreichs Eltern gewähren ihren Kindern mehr Taschengeld als je zuvor — 100 Schilling wöchentlich sind keine Seltenheit —, wobei die Kinder der unteren Mittelschicht über höhere Beträge frei verfügen als die Kinder höherer Angestellter und Beamter. Und wohin strömt das Geld? Es wind fast zur Gänze für Süßigkeiten ausgegeben. Psychologen deuten das heftige Verlangen der Kin der nach Süßwaren als Kompensa- tionsakt: die Bonbons sollen fehlende Liebe ersetzen.

Über Österreichs Eltern wird häufiger als je zuvor das richterliche Scheidungsurteil gesprochen. Die Zahl der durch Ehescheidungen im Jahre 1966 zu Scheidungswaisen gewordenen Kinder betrug 8643. Scheidungen sind für Kinder Martyrien: ein Termin jagt den ändern,

dann wird das Jugendamt eingeschaltet, die Kinder werden mit Lügen vollgestopft und zum Spionieren gedrillt. Und dann: die ewigen Reibereien der geschiedenen Eheleute um die Besuchsregelung.

Nicht weniger alarmierend ist die Zahl der unehelichen Kinder. 1966 führten die Bezirksverwaltungsbehörden über nahezu 200.000 unehelich geborenen Kinder die gesetzliche Amtsvormundschaft. Unehelichkeit gilt in Österreich trotz ihrer Häufigkeit noch immer als Brandmal, das den Schul- und Berufsweg der damit stigmatisierten Kinder stark behindert. Scheidungswaise und unehelich geborene Kinder landen oft in Heimen; allein 8874 Kinder standen 1966 unter dem Kuratel der Dauerfürsoge. Bei den Heimen stimmt selten das Prinzip der Unterbringung. Seit Jahr und Tag warnen Fürsorger, Ärzte und Psychologen vor der Massenpflege. „Sie bewirkt Schäden“, schreibt der prominente deutsche Kinderpsychologe Professor Hellbrügge, „die sich in der Entwicklung des Kindes desto schwerer ausprägen, je früher und je länger das Kind der Zuwendung der Mutter entbehren muß. Heimkinder zeigen gegenüber Familien- ki dern einen durchschnittlichen Entwicklungsrückstand von wenigstens 20 Prozent.“ Sie sind weniger fleißig, flüchtiger, unaufmerksam, verträumt, bequem, kaum aktiv, ja teilnahmslos, scheu, kontaktarm, unbeliebt, streitsüchtig, unverträglich, weil aggressiv. Das Fehlverhalten der Eltern müssen Kinder und Gesellschaft teuer bezahlen. Jährlich kostet Österreich der Unterhalt seiner dauerbefürsorgten Pflegekinder rund 63 Millionen Schilling.

„Zu Hause muß beginnen, was leuchten soll im Vaterland“, sprach hoffnungsfromm der große Pädagoge

Pestalozzi in einer Zeit, die noch nicht zum Jahrhundert des Kindes ausgerufen war, doch der optimistische Grundsatz von damals will nicht recht harmonieren mit den Erfahrungen von heute. „Es hat noch nie soviel Eltern gegeben, die sich so intensiv um Erziehung gekümmert haben, noch nie fanden Erziehungsfachblätter besseren Absatz, aber es gab auch nie so viele Eltern, die ihre Kinder wild wachsen lassen“, kennzeichnet ein Psychologe die Elternmoral und die aktuelle Erziehungssituation.

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