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DAS KÄTZCHEN

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Wir erwarteten damals wie alljährlich um diese Zeit das großherzogliche Paar in der kleinen Sommerresidenz, die dann sozusagen ihre „Saison“ erlebte. Über den scmst so verschlafenen Schloßpark, zwischen dessen groben Pflastersteinen sich die wilden Grasbüschel ungestüm hervordrängten, jagten die stolzen Hofequipagen und Autos, der Fürstengruß schmetterte durch die verschlafene Stille des Städtchens, die Wache trat unter Gewehr, und im Schweizerhaus rüstete der alte ausgediente Lakai, der dort als Hausmeister waltete, für das sommerliche Tanzfest.

Man sagte, das Schweizerhaus sei nach der bekannten ländlichen Eremitage der Königin Marie-Antoinette für eine längst verstorbene Herzogin erbaut worden. Es lag tief im Schloßpark, gleichsam versunken unter hohen alten Waldbäumen, die zur Zeit seiner Erbauung kindlich klein und jung gewesen waren. Ein Schilfdach, das wie eine tief herabgezogene Mütze über ihm hing, gab den großen Fensteraugen den Ausdruck süßer Träumerei. In der Ausstattung des Innern war alles behütete Anmut von einst, und wahrscheinlich unterschieden sich unsere kleinen intimen Hofbälle mit ihren feierlichen Contretänzen kaum von jenen des achtzehnten Jahrhunderts.

Also Gläschen trug wirklich wieder das rote, aus der schweren, alten Seidenrobe ihrer Großmutter komponierte Kleid, nach dem sich Jeskow bei mir erkundigt hatte, aber Jeskow schien nicht mehr danach zu fragen. Übervernünftig und nüchtern, wie er nun einmal war, hatte er sich ohne Zweifel gesagt, daß Gläschen eben doch nicht zu ihm passe. Ich beobachtete ihn den ganzen Abend: er forderte sie kein einziges Mal zum Tanz auf, er schnitt sie ostentativ, wieder einmal ganz dem Dienst der Prinzessin Mau-si hingegeben, die selbst bei dieser Gelegenheit so etwas wie Narrenfreiheit genoß. Wahrscheinlich war ich die einzige, die eine Ahnung fühlte, daß er sich mit dieser völligen Zurückhaltung selbst verwundete. Wie stark, so fragte ich mich, mußte sein Herz angeschlagen sein, wenn er sich nur durch diese völlige Zurückhaltung retten konnte? Denn daß er sich retten müßte, war mir vollkommen klar: eine Frau, die ihm die Hand festhielt, wenn er schießen wollte, war in der Tat für sein Jägerherz unmöglich.

Die ersten Walzer waren verrauscht, feierlich mit schwerer Anmut erhoben sich die Klänge der Gavotte, und nun war es, als sei hier ein unsichtbares Orchester aus uraltem Schlummer erwacht und spiele die Vergangenheit mit berückendem Gegenwartszauber.

Es waren wie immer bei diesen Festen verschiedene ausländische Fürstlichkeiten zugegen: fremdartige Uniformen und unbekannte Orden glänzten. Der junge russische Großfürst — ein Verwandter der Landesmutter —, derselbe, der in Bälde durch die Revolution das bekannte tragische Ende finden sollte — hatte Gläschen zur Gavotte engagiert, eine Auszeichnung, die niemand überraschte. Gläschen überschritt an diesem Abend ihre Lieblichkeit und wurde zur Schönheit. Sie war die unbestrittene Königin des Balles und sie .gqnpß iljre

Unschuld ohne jegliche Eitelkeit — man hätte ebensogut sagen können, eine Blume oder ein Schmetterling sei eitel. Die schwere rote Seide, die zu ihrer Jugend in fast aufreizendem Gegensatz stand, hob sie aus der ganzen Gesellschaft heraus — sie war ungeschminkt —, die Damen von damals hatten diese aufdringliche Verschönerung nicht nötig — die Verschönerung besorgten die zahllosen Wachskerzen, die den Tanzsaal mit jenem eigentümlich weichen Dunst erfüllten, der uns auf den Menzelschen Gemälden so bestrickend entgegentritt und den die alten Spiegel rings an den Wänden noch um einen Ton zarter wiederholten. Oh, über diese alten, wunderbaren Spiegel! Sicher hatte der Verwalter des Schweizerhauses sich alle Mühe gegeben, sie für das Fest zu putzen, aber der Hauch der Zeit war nicht von ihnen abzuwaschen — er bedeutete den eigentlichen Adel dieser Spiegel, ähnlich dem der sehr alten Familien, die hier versammelt waren. Ob es eine Ahnung war — ich weiß noch deutlich, wie ich jedesmal erschrak, wenn die Tanzenden in dem leicht erblindeten Glanz dieser hohen, alten Spiegel erschienen,

gleichsam abgeblendet, einen Augenblick lang die Vorstellung erweckend, als seien sie gar keine lebendigen Menschen, sondern als begebe sich hier einer jener geisterhaften Bälle, wie sie uns die Spukgeschichten von gewissen alten Schlössern berichten. Und doch lag auch wieder gar nichts Spukhaftes in diesem lebendigen Fest, sondern nur ein eigentümlich wehmütiger Zauber, ein unbewußtes Ahnen dessen, daß es der letzte Kotillon war, den wir in diesen Räumen tanzten — und bei ihm begab sich’s.

Ich habe mich später manchmal gefragt, ob Gläschen ihr Herz für Jeskow erst entdeckte, als sie durch sein Fernbleiben inne wurde, daß er an ihr litt! Gläschens Zärtlichkeit erwachte fast immer an der Schutz- und Hilflosigkeit der Wesen — ich glaube wohl, daß ihr an diesem Abend diejenige Jeskows klar wurde.

Die Paare hatten sich an den Wänden des Saales aufgestellt, der Vortänzer ging von Dame zu Dame, um jeder den Kotillon- orden zu überreichen, mit dem sie ihren Tänzer auszeichnen sollte. Schon hatten alle genommen — die Musik setzte zur Damenwahl ein, man wartete nur noch auf die junge Großherzogin, die den Kofilion eröffnen sollte. Da plötzlich sah ich Gläschen — sie kam ganz allein über das spiegelglatte Parkett des leeren Saales auf Jeskow zu, anmutig, fast wie unbewußt gezogen, dabei ganz unbefangen. Jedermann fühlte sofort, was sie vorhatte, sie gab sich nicht die geringste Mühe, es zu verbergen, sie dachte gar nicht an die vielen Augen, die staunend auf sie gerichtet waren, sie folgte wie ein Kind einfach ihrem innerlichen Antrieb.

Jeskow stand wieder einmal neben der Prinzessin Mausi, die offenbar auch einen Orden für ihn bereit hielt, aber schon hatte Gläschen die beiden erreicht und war ihr in voller Mißachtung jeder Etikette zuvorgekommen. Auch die anderen Damen hatten nun gewählt, aber niemand tanzte — selbst die junge Großherzogin ließ ihren Tänzer warten.

Jeskow war blaß geworden, aber gleichzeitig leuchtete sein verschlossenes Gesicht hoch auf — in diesem Augenblick war die unglückliche Jagdpartie in seinem Innern spurlos versunken; er nahm Gläschen in den Arm und begann mit ihr zu tanzen — ganz allein! Alle Korrektheit des Wartens auf die junge Großherzogin war vergessen, auch Prinzessin Mausi war vergessen — nichts war mehr da als dieses eine selige Paar! Man hätte meinen können, es sei ganz allein auf der Welt, und das inmitten der strengen Konventionen eines Hofballs im alten, von allen Etikettensorgen umwitterten Schweizerhaus.

Aber nicht nur diese beiden, die ganze Gesellschaft war plötzlich wie herausgehoben aus all ihren Vermemtlichkeiten und jahrhundertealten Gewohnheiten. Die strenge Hofetikette schien nicht mehr vorhanden. Alle empfanden nur noch die Freude an dem Paar, das einander gefunden hatte, waren erfüllt durch etwas beglückend Einfaches, Menschliches. Es war, als seien alle Probleme gelöst, alie Bedenken aufgehoben, und das ganz einfach ohne jeden Widerspruch. Es ging wie ein plötzliches Erkennen de eigentlichen Lebenswerten durch die Reihen. Gläs- ,.che -strahj|e, Jeskow Strahlte — alles war entschieden — alles •hatte ieingewiffl|tr-OfeiHeti4 -7d x;h nicht? Denn jetzt tanzten die beiden an einem der großen Spiegel vorüber, und nun war es auf einmal, als erlösche der glückselige Traum in großer Ferne, erblasse, drohe zu entschwinden! Einen Augenblick packte mich das Vorgefühl eines nicht näher erkennbaren, drohenden Schicksals, aber schon hatte das Paar die Region des Spiegels überwunden und schwebte wieder im Licht der vielen hundert Kerzen. Nein, die alten Spiegel hatten nichts mehr zu sagen. Hier war die schicksalhafte, durch kein Bedenken mehr zu erschütternde Gemeinschaft zweier Menschen, die einander für immer angehörten. Und dennoch behielten die alten Spiegel recht.

Der Ball war zu Ende — die Wagen, welche die Gäste heimbringen sollten, begannen vorzufahren. Jeskow bot Gläschen den Arm, um sie zu ihrer Kutsche zu führen — es war selbstverständlich, daß er sich keinen Augenblick früher als nötig von ihr trennen wollte. Ich begleitete die beiden als Chaperon.

Draußen war es dunkel, ein Gewitterregen war niedergegangen: die hohen Bäume des Schloßparks tropften und trieften von Regen und Wohlgerüchen. Wir mußten einige Augenblicke auf unseren Wagen warten. Und nun zog Jeskow die Geliebte ungestüm an sich und küßte sie — unwillkürlich trat ich einen Schritt zurück — der Wagen zögerte noch immer.

Aber was geschah jetzt? Plötzlich machte sich Gläschen aus der Umarmung los und beugte sich nieder: vom Boden herauf klang ein kleiner, kläglicher Laut; im trüben Licht der regenbeschlagenen Laternen des vorfahrenden Wagens sah ich ein kleines nasses Kätzchen zu unseren Füßen kauern.

„O es friert — arme, kleine Miez — sie ist ganz naß“, flüsterte Gläschen. Sie wollte das Tierchen aufheben, aber es entsprang. „Laß es, Gläschen", bat ich, „es findet bestimmt heim — Tiere haben ihren Instinkt."

„Nein, nein“, rief sie, „es findet nicht heim! Man hat es hier im Walde ausgesetzt — so sind die Leute — o ich kenne sie!“ Und schon lief sie in ihrem langen seidenen Tanzkleid und den kleinen goldenen Tanzschuhen hinter dem im triefenden Wald verschwundenen Kätzchen her.

Jeskow und ich standen uns allein gegenüber. Ich konnte im Dunkeln sein Gesicht nicht erkennen. Wie ein Funke sprang die Gewißheit dessen auf mich über, was diese Flucht Gläschens für ihn bedeutete.

„Jeskow, so ist es nun einmal, verzeih es ihr“, wollte ich sagen, aber schon hatte er sich kurz umgedreht und war ins Haus zurückgekehrt.

Ich stieg allein in den .Wagen und befahl dem Kutscher zu warten. Nach einer ganzen-Weile kam Gläschen triefend vor Nässe zurück, natürlich mit dem glücklich eingefangenen Kätzchen. Stumm wie damals nach der verunglückten Jagdpartie fuhren wir heim. Der Zauber war zum zweiten Mal gebrochen und dieses Mal entscheidend.

In den nächsten Tagen wartete die Gesellschaft, die das Abenteuer mit dem Kätzchen nicht miterlebt hätte, vergebens auf die Bekanntgabe der allgemein erwarteten Verlobung. Daß sie ausblieb, versetzte die Gemüter in befremdetes Erstaunen, daß die beiden eigentlich nicht mehr zurück könnten, nachdem sie sich in so ungewöhnlicher Weise zu ihrer Neigung bekannt hatten. Aber bald schnitten die alten Tanten dem Gerede den Faden ab, indem sie erklärten, daß die beiden doch gar nicht zueinander paßten, auch die schwierigen Geldverhältnisse blieben nicht unerwähnt. Bald fand man denn auch zu den bequemen Gewohnheiten der früheren Anschauung zurück und erklärte, dieser Solotanz im Schweizerhaus sei doch eigentlich ein Affront und die vermeintliche Verlobung ein Ballscherz gewesen, den sich diese kleine, unberechenbare Glas gestattet habe, der aber eben doch für einen Jeskow von Nestriz aus dem Hause Groß-Ellersdorf keine Verbindlichkeit bedeute. Kurz, man schob das Erlebnis wieder beiseite, und nur allzubald traten ganz andere Geschehnisse in den Vordergrund der kleinen Hofgesellschaft, denn der erste Weltkrieg brach aus.

Aus: Insel-Ahttanach auf das Jahr 1961. Im Insel-Verlag (Aus einem kommenden Prosawerk.)

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