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Das kleine und das große Leben

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DIE PEINIGUNG DER LEDERBEUTELCHEN. Erzählungen von Heimito von Doderer. Gemeinschaftsproduktion des Luckmann-Verlages, Wien, und des Biederstein-Verlages, München, 1959. 232 Seiten.— DIE GEISTERBAHN. Erzählung von Edzard Sch aper. Verlag Jakob Hegner, Köln 1959. 138 Seiten. Preis 10.80 DM. — WUNSCHKOST. Roman von Hans Bender. Carl-Hanser-Verlag, München 1959. 160 Seiten. Preis 9.80 DM. - NACHTSTÜCKE. Von Horst Bienek. Carl-Hanser-Verlag, München 1959. 88 Seiten. Preis 6.80 DM. — POLIZEISTUNDE. Erzählung von Günther Bruno Fuchs. Carl- Hanser-Verlag, München 1959. 66 Seiten. Preis 4.80 DM

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DIE PEINIGUNG DER LEDERBEUTELCHEN. Erzählungen von Heimito von Doderer. Gemeinschaftsproduktion des Luckmann-Verlages, Wien, und des Biederstein-Verlages, München, 1959. 232 Seiten.— DIE GEISTERBAHN. Erzählung von Edzard Sch aper. Verlag Jakob Hegner, Köln 1959. 138 Seiten. Preis 10.80 DM. — WUNSCHKOST. Roman von Hans Bender. Carl-Hanser-Verlag, München 1959. 160 Seiten. Preis 9.80 DM. - NACHTSTÜCKE. Von Horst Bienek. Carl-Hanser-Verlag, München 1959. 88 Seiten. Preis 6.80 DM. — POLIZEISTUNDE. Erzählung von Günther Bruno Fuchs. Carl- Hanser-Verlag, München 1959. 66 Seiten. Preis 4.80 DM

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Unter den belletristischen Neuerscheinungen dominieren nach wie vor, ja in zunehmendem Maße, die umfangreichen Romane. Nun deckt sich Quantität allerdings keineswegs immer mit Qualität. Man wird im Gegenteil häufig die Erfahrung machen, daß die bescheidenen, schmalen Bände inhaltlich viel mehr und Wesentlicheres zu geben haben als die dicken Wälzer. Die uns hier vorliegenden Bücher jedenfalls — von Autoren verschiedener Generationen geschrieben, was sich deutlich in der Thematik, aber auch im Stil ihrer Erzählungen abzeichnet — sind alle einer Auseinandersetzung wert.

Heimito von Doderer, als einer der großen zeitgenössischen Romanciers im deutschen Sprach- raum schon lange geschätzt, ist als Autor kleiner Prosastücke viel weniger bekannt. Der heuer erschienene Sammelband enthält Erzählungen, Kurzgeschichten und das Anekdotische streifende „Kürzestgeschichten“ aus sehr verschiedenen Schaffensperioden und von unterschiedlichem literarischem Niveau. Schauplatz und geistiger Hintergrund ist der alte österreichische Raum, mit Wien im Mittelpunkt. Hier sehen wir sie Revue passieren: die Wiener Hausmeister, Wirte und Praterbudenleute, handfeste Vorstadttypen, und Vertreter der gehobenen Gesellschaftsschichten — psychologisch glänzend und mit einem oft dämonischen Humor geschildert. Bei den Motiven fällt sofort Doderers Vorliebe für das Seltsame und Abseitige ins Auge, das vom Skurrilen (die köstliche Titelerzählung) bis zum Abstrusen (Eine Person von Porzellan. Der Oger) reicht und oft auch irrationale Elemente einschließt (Die Dogge Wanda). Sehr zart und feinsinnig das „Feldbegräbnis einer Liebe“ — eine ritterliche Episode aus dem ersten Weltkrieg, bei der der

Kontrast zu dem harten, kriegerischen Geschehen besonders reizvoll ist. Von bestürzender Tragik die Erzählung „Zwei Lügen“ — furchtbare Schuld und Sühne einer slawischen Bäuemfamilie aufdeckend. Die Unerbittlichkeit des Geschehens findet ihre gemäße Darstellung in der Strenge und Kargheit des Stils. Doderer erweist sich auch in diesen Geschichten, von einigen schwächeren Frühwerken abgesehen, als der große Erzähler, dem seine Romane Weltgeltung verschafften.

Edzard S c h a p e r s „Geisterbahn“ möchten wir den schönsten Werken des Dichters zurechnen- Formal und stilistisch ist die Erzählung ein kleines

Meisterwerk, inhaltlich von großer Dichte und ganz in die Tiefe sich entwickelnd. Wir hören in einer kurzen Vorgeschichte von dem alten Zirkus Sala- monski, der unter hohem Zelthimmel seine großartigen Dressur- und Akrobatenleistungen darbot. Inzwischen hat der mit „Publikumspsychologie“ arbeitende neue Direktor Au. Backe aus diesem Unternehmen alter Schule ein rein mechanisches Vergnügungszentrum gemacht. Diesen Rummelplatz mit Karusselln, Berg-und-Tal- und Tunnelbahn und ähnlichen Belustigungen findet Adameit vor, als er,

nach sieben Jahren Krieg und Gefangenschaft — „in der Wüste und in den Wäldern“ — heimkehrt. Der ehemalige Dompteur, ein schwerblütiger, versponnener Ermländer, der seit seinem zwölften Lebensjahr dem Zirkus Salamonski angehörte, findet sich nicht zurecht in dieser neuen Welt, in der es auch keinen Platz für ihn gibt und in der man ihn nur aus Pietät weiterbeschäftigt. Immer einsamer wird der alte Mann, immer verlorener, bis die Begegnung mit einem Landsmann, dem „Spitzbubenpastor“, seinem Leben die entscheidende Wendung gibt. „Alles konnte jeden Augenblick anfangen, hatte dieser

Pfarrer ganz richtig gesagt, das Paradies oder die Sintflut oder der Tod Und soviel war sicher: ein Mann in seinen Jahren mußte anfängen, ganz anders an den Tod zu denken.“ Nicht nur an den Tod denkt Adameit hinfort. Er hat durch diesen

Pfarrer gelernt, hinter die Dinge zu schauen, die Realität als Spiegel einer tieferen Wirklichkeit zu erkennen. So betrachtet er auch die Geisterbahn, die Au. Backe — „den Trend des Publikums ins Metaphysische“ nutzend — inzwischen angeschafft hat; und so betrachtet Adameit seine eigene Rolle als sensenschwingender Tod in dieser Geisterbahn: als Mahner, über der Gegenwart die Zukunft nicht zu vergessen, an deren Ende der Tod steht, und vielleicht der Teufel. Aber die Leute, die in dieses Vergnügungszentrum kommen, nehmen alles nur als Jux. Nichts vermag sie aufzurütteln, und Adameit wird immer trauriger über die Vergeblichkeit seines Tuns. Die Kontraste werden immer unüberbrückbarer und wachsen dem alten Mann über den Kopf, bis eines Abends der gegen den Tod gerichtete Schlag eines Uebermütigen in der Geisterbahn seinem Leben ein Ende setzt und er in jene Wirklichkeit eingehen darf, auf die hin er so lange gelebt hatte.

„ ,Tja, vielleicht ist es, was die Menschen heutzutage betrifft, psychologisch doch interessant“, sagte der Direktor am Abend, als er noch einmal an das Begräbnis zurückdachte: ,Die L,eute wollen einfach nicht mehr an den Tod erinnert werden. Sehen sie ihn, dann erschlagen sie ihn — als ob sie ihn damit aus der Welt schaffen könnten! Vielleicht sollte man eine Bahn mit nur seligen Geistern zeigen, blof!. ..’ — ,Na, und warum überhaupt Geister, wenn sie ¡a doch nur eine Welt kennen: die, in der es ihnen so gut geht!“ warf Frau Backe ein. — ,Auch richtig, Elvira. Aber sieh mal, der Trend ist doch da! Und worin sollte die Seligkeit schon bestehen? Autos? Venusberg? Eigenheim mit Komfort? Das alles haben sie ja schon. Ja, spaßig, sich zu denken, aber: Seligkeit mit nichts wäre für sie wahrscheinlich die Attraktion!“ “

Das sind die Schlußworte der Erzählung, denen wohl nichts hinzuzusetzen ist.

Die Erzählungen, die uns noch beschäftigen sollen, sind alle von jüngeren Autoren geschrieben und kreisen entweder um das immer noch nachwirkende Erlebnis des Krieges und der Gefangenschaft oder um Nachkriegsprobleme der jungen Generation.

Hans Bender nennt sein Buch „Wunschkost" zwar einen Roman; uns scheint es jedoch, nicht nur seines schmalen Umfangs wegen, sondern auf Grund seiner Struktur und Konzeption, eine Erzählung zu sein, eine sehr gute und redliche Erzählung. Im Mittelpunkt steht eine Episode aus der russischen Kriegsgefangenschaft, an der die Freiheit in der Unfreiheit, die Möglichkeit der Bewährung oder des Versagens des Menschen, in welcher Situation immer er sich befinden vermag, offenbar wird. Hier kurz die Fabel: Der schwerkranke Leutnant Ulmer wird im Lazarett, wie alle Aufgegebenen, von der russischen Aerztin auf „Wunschkost“ gesetzt. Penicillin, das ihn retten könnte, steht nicht zur Verfügung. Da bringt Ulmers Freund Matsura durch eine Sammlung bei den Kameraden die zur Beschaffung des Medikaments notwendigen 1000 Rubel zusammen, und Ulmer wird gesund. Aber gerade diese großartige persönliche Initiative der Gefangenen erweist sich schließlich als Verhängnis. Matsura hat vor der Annahme des Geldes den Russen noch einmal genaue Angaben über seinen Kriegseinsatz machen müssen und wird nun daraufhin, fälschlicherweise, eines Kriegsverbrechens beschuldigt und deportiert. Ulmer erleidet einen Rückfall und stirbt.

In das Geschehen verflochten sind andere Gestalten: Kameraden, Sanitäter, Russen und ihre deutschen Helfershelfer — hilfsbereit und tapfer die einen, feig und nur auf die eigene Sicherheit bedacht die anderen. Jeder muß hier Farbe bekennen, der Kern seines Wesens wird offenbar; Heldentum gedeiht in diesen Lagern ebenso wie Bosheit und Eigennutz. Bender, der selbst vier Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft war, kennt sich wahrlich aus. Er berichtet ohne Ressentiment und ohne Anklage, sachlich und nüchtern, bei aller Distanz jedoch niemals kühl.,Br behält immer den Menschen im Blickfeld,., den„.Menschen in. seiner Armseligkeit,aber auch in seiner Größe, in seiner Freiheit auch ln der Hilflosigkeit, die jede Gewalt ad absurdum zu führen vermag, auch dann, wenn die Gewalt äußerlich triumphiert.

Viel .ausgelieferter als Bender, erst auf der Suche nach festen Positionen, wirkt Horst B i e n e k in seinem neuen Band „Nachtstücke“. Auch ihm geht es letztlich um die innere Freiheit; aber er sieht sie gefährdet nicht nur durch die eigene Schwäche des Menschen, sondern mehr noch durch Kräfte und Mächte, die seine Handlungsfreiheit einschränken. Die Gestalten seiner Erzählungen sind oft der Willkür und dem Zufall unterworfen, die neben der äußeren auch ihre innere Freiheit bedrohen. Der Glaube an eine unzerstörbare Substanz des Menschen wird leidenschaftlich gesucht, durch das Geschehen aber immer wieder in Frage gestellt. — Ein Vergleich mit Bieneks vor zwei Jahren erschienenen „Traumbuch eines Gefangenen“ zeigt, daß seine Prosa dichter und genauer geworden ist. Er reflektiert nicht mehr soviel; er erzählt lebendig und eindrucksvoll, auch da, wo die äußere Handlung vor der inneren Entwicklung in den Hintergrund tritt. Am besten gelungen sind die ersten Stücke, des Bandes, die wieder die Welt des Gefangenen beschwören, die Bienek aus eigener, bitterer Erfal- ung kennt. Zwei Motive aus der antiken Sagenwelt dagegen wirken blaß und hölzern.

Schließlich sei noch auf die erste Prosaarbeit des jungen Berliner Lyrikers Günter Bruno Fuchs hingewiesen, die der Hanser-Verlag in seiner Reihe „Junge Autoren" vorlegt. Eine Episode, die symptomatisch ist für die Schicksale jener halben Kinder, die in den letzten Kriegstagen zu einem sinnlosen, verbrecherischen Einsatz gezwungen wurden, der sie das Leben kostete oder aber ihnen den Zugang zum normalen Leben nach dem Krieg erschwerte. Fuchs erzählt von den letzten Tagen des 16jährigen Schülers Freitag, der von der Schulbank weg in den Volkssturm geholt wird, zur Verteidigung Berlins, die nur noch eine Farce ist. Schreckliche Erfahrungen, die über die Kraft des Jünglings gehen, unterbrochen von Wachträumen, Erinnerungen an eine bei aller Bescheidenheit doch geborgene Kindheit; und immer wieder das Erwachen in eine unbegreifliche und unerträgliche Wirklichkeit. Am Ende der Tod nach einer mißglückten Flucht. In dieser Geschichte fallen keine großen Worte; ganz schlicht und unsentimental werden Ereignisse beschworen, die wir nicht vergessen dürfen, auf daß sie nie wieder geschehen können.

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