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Das Leben neben Leibeigenen

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Die letzten hundert Jahre waren für die abendländische Welt mit großen Umwälzungen verbunden, nicht nur in Rußland, aber nirgends war der Abgesang einer alten Tradition und das Heraufdämmern des Neuen in solch erschütternder Weise dargestellt worden, nirgends war ein Umbruch mit einer solchen Blütezeit der Literatur verbunden wie in Rußland. Bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kündigte sich das Kommende mit seiner ganzen Dämonie an: vorgetragen durch die christlich-kommunistischen Theorien Tolstojs und dargestellt in Dostojewskijs „Die Dämonen“.

Ein Spiegelbild der russischen innerer Revolution erhalten wir aus der Biographie der Ehe Tolstojs. Bei allem Bedenken gegen Biographien und hier besonders, da eine puritanische, logisch denkende „moderne“ Engländerin den Versuch unternimmt, eine dunkel-temperamentvolle, russische Liebesehe und ihre Krisen nach Schuld und Mitschuld aufzuschlüsseln, erhalten wir Einblicke in Leben und Probleme jener letzten Jahre vor der Revolution 1917...... _u<mi &#9632; '

Ähnlich wie der schwächliche Zar Nikolaus II. in den letzten Jahren immer meh von den Einflüsterungen des sibirischei Bauern Rasputin und dessen Hintermänner; abhängig wurde, bemächtigte sich Tschert kow des greisen, idealistischen Tolstoj zwang ihn zur Aufgabe seines Privatver mögen&#171;, beschwatzte ihn mit seine; anarchistischen Theorien, veränderte nacl eigenem Ermessen Tolstojs Schriften uni Tagebücher. Graf Tolstpj, der enorm vie für seine Bauern, für die Armen und Hun gernden in Rußland getan hat und deshall vom Volk abgöttisch verehrt wurde, wa in den letzten Jahren seines Lebens eil lieber, aber gefährlicher Narr, der siel von seinen ,Jüngern“ ausbeuten ließ, zun Schaden seiner Frau und seiner zahlreiche; Kinder. Als Tolstoj 82jährig (1910) voi seinem Gut weg in den Winter hinau floh, erhob sich Empörung gegen die Frau die ihm nach einem reichen und glückli chen Eheleben genauso auf die Nervei fiel wie er ihr. Der böse Führer des altei Tolstoj, Tschertkow, brachte es auch fer tig, der Gräfin Sofja den Zutritt in da Sterbezimmer ihres Gatten zu verwehrei und die Öffentlichkeit durch den My.th&#171; einer zweiten Xanthippe zu narren.

Einundzwanzig Geschichten über Kinde erzählt von den bedeutendsten russischei Schriftstellern aus zaristischer wie au sowjetischer Zeit lassen uns erahnen welche radikalen Veränderungen Rußlanc erschüttert haben, hier widergespiegelt ii den Nöten und Sorgen der Jüngsten Durch Tolstoj, Turgenjew, Saltykow wer den wir nochmals zurückversetzt in da; Leben auf Schlössern und Gutshöfen. Abe< schon diese kleinen Herrensöhne fühler und begreifen die Ungerechtigkeit, als Bevorzugte neben Leibeigenen (Korolenko „Getaufte Knaben“) leben zu müssen. De: Pope spricht in der Kirche von Wahrheit doch wo auf dieser Welt ist Wahrheit, wc Güte, wenn der kleine Wanja aus Furch vor der Strafe der Herrin Sich das Leber nehmen muß? Noch stärker wird das ir Erzählungen über Kinder der unterer Schichten (Tschechow, Gorki, Andrejew' ausgesprochen, was dann in der stärkster und erschütterndsten Geschichte „Der klein&#171; Junge am Weihnachtsabend beim Herrr Jesu“ (Dostojewskij) zur schreienden Anklage gegen alle die Erwachsenen wird die das Unglück dieser Ärmsten heraufbeschworen haben und es mitleidlos untei sich dulden. Wie unglaubliche Zustände im zaristischen Rußland herrschten, erfahren wir auch aus dem Leben Tolstojs, der 1891/92 gemeinsam mit seiner ganzen Familie und einigen anderen durch öffentliche Aufrufe und tätige Mithilfe gegen eine ungeheuerliche Hungersnot im Bezirk Samara ankämpfte.

Während uns in den Kindergeschichten Immer wieder wärmere, versöhnliche Schilderungen begegnen, so in Tschechows „Die Kinder“, Tolstojs „Kinder sind doch klüger“, oder in jener, wo selbst ein Trupp Rotarmisten angesichts eines kleinen, verlassenen Offiziersjungen weich und barmherzig wird (Iwanow; „Das Kind“), waren die Gegensätze der Erwachsenen unter dem letzten Zaren Nikolaus II. so unerträglich geworden, daß es 1917 endgültig zur Explosion kam. Hatten die russischen Intellektuellen und Adeligen mit ihren oft bis ins Abstruse verstiegenen Reformgedanken (vor allem Tolstoj) wesentlich zum Ausbruch des Bürgerkrieges beigetragen, so waren es gerade diese Kreise, dje als erste unter dem Schlachtbeil der Revolution fielen. Dies hatte auch eine Zerstörung der großen russischen Literatur zur Folge. Zwar haben vereinzelt auch noch nach 1920 Schriftsteller gegen die neue Regierung und für das abermals geknechtete Volk einzutreten vermocht, so die „Chronistin der Revolution“, Sejfullina, aber das meiste ging durch die Zensur verloren, und was diese passieren durfte, war such dementsprechend.

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