Das Leben verlängern

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Am 16. April feiert die Lyrikerin Sarah Kirsch ihren 70. Geburtstag. Eine Würdigung

Als zum ersten Mal der Lyrikpreis der Stadt Meran vergeben wurde, das war 1993, saß auch Sarah Kirsch inmitten der Jury. 15 Autorinnen und Autoren lasen neue Gedichte, die Jury analysierte und diskutierte und war sich trotzdem hin und wieder nicht ganz sicher, ganz und gar nicht. Nur ein Mitglied der Jury, Sarah Kirsch, bekümmerte das alles kaum. Es schien, als rede sie in Rätseln, ihre Äußerungen waren aber zugleich messerscharf. Es schien, als spiele sie mit ihren Sätzen, ihr Urteil war aber immer eindeutig und meistens unerbittlich. Es schien manchmal sogar, als wäre sie woanders, ihre Kritik aber traf jedes Mal ins Schwarze.

Kein Wunder, dass die Autorinnen und Autoren diese Kritik fürchteten. Was Sarah Kirsch gelten ließ oder gar hoch hielt, war jedoch, schon vor der Preisverleihung, so gut wie ausgezeichnet; wie die Gedichte von Kurt Drawert, Kerstin Hensel, Dragica Rajcic und Christoph Wilhelm Aigner: Es sind dies, man kann das noch immer nachprüfen, samt und sonders Gedichte, die von den uns allen vertrauten Formen der Wahrnehmung unserer Welt weit wegführen.

Wie die Gedichte von Sarah Kirsch.

Freie Verse

Rechtzeitig vor ihrem 70. Geburtstag, den die Autorin am 16. April feiert, legt die Deutsche Verlags-Anstalt "Sämtliche Gedichte" von Sarah Kirsch in einer preiswerten Neuausgabe wieder auf. "Sämtliche Gedichte"; zu ergänzen wäre (weil diese Edition keine editorische Notiz enthält), dass damit alle jene Gedichte gemeint sind, die der kritischen Nachprüfung der Autorin standgehalten haben, also (fast) alle Gedichte von der Sammlung "Landaufenthalt" (1967) bis zu dem Band "Schwanenliebe" (2001). Alle Verse eben, die Sarah Kirsch nach wie vor, statt sie wieder einzuschließen, als "Freie Verse" in die Welt hinaus lässt; sie "treiben sich draußen herum. / Wer weiß was aus ihnen noch wird. Eh sie / Zur Ruhe gelangen."

Letzteres dürfte so schnell nicht passieren. Dafür sorgt schon der Literaturbetrieb. Sarah Kirsch, die noch 1971 in der (ddr-)Zeitung "Sonntag" zu Protokoll gegeben hat, sie wolle nicht als "Dichterin" bezeichnet werden - "Das klingt so", hält sie im "Sonntag" fest, als ob man "nicht ganz Bescheid" wüsste, "was im wirklichen Leben vor sich geht" -, gilt inzwischen längst, spätestens seit der Sammlung ihrer "Zaubersprüche" (1973), weithin als die bedeutendste deutsche "Dichterin" der Gegenwart. Die Sammlung der renommierten Literaturpreise, die sie erhalten hat, ist wohl von niemandem mehr zu überschauen; der Büchner-Preis ist darunter, der Petrarca-Preis, der Hölderlin-Preis, auch der Österreichische Staatspreis für europäische Literatur.

Aufforderung zur Unruhe

In allererster Linie freilich sind es ihre Gedichte selbst, die dafür sorgen, dass sie nicht "zur Ruhe gelangen": weil sie Erfahrungen, die zunächst im Akt des Schreibens zu gewinnen sind, auch im Akt der Lektüre vermitteln. "Indem man schreibt", notiert Sarah Kirsch in dem eben erwähnten "Sonntag"-Protokoll, indem man "die Schicksale anderer Menschen, wirkliche und erdachte, aufschreibt, indem man über andere Länder, vergangene Epochen schreibt, verlängert man sein Leben." Ein Gedicht wie "Crusoe" ist in diesem Sinne eine einzige Aufforderung zur Unruhe:

CRUSOE

Es gibt ihn den

Charme hier der

Einsamkeit etwas

Wovon niemand mehr

Weiß der die Schreiberin

Aufs höchste ermutigt wenn die

Abnehmende Welt immer

Schneller versinkt deren

Verdienst es ist das

Grün zu verspotten.

Mein grün Gefängnis es schenkt

Außerordentlich Freude die

Füchsin fürchtet mich nicht

Vögel lachen wenn ich Crusoe

Meine eigenen Felder bestelle.

Oder die Eichen

Mit ihren Früchten mich wecken.

Indem die Versgrenzen einerseits strikt gezogen und andererseits durch die Syntax dauernd überspült werden, entsteht ein Sog, in dem die unterschiedlichsten Erfahrungen, Verlangen und Überdruß, Ermutigung wie Enttäuschung, durcheinander gewirbelt werden. Kaum setzt sich der Eindruck fest, das Ich, offenbar zugleich mit Crusoe und der Schreiberin identisch, hätte ein geschütztes Areal gefunden, eine einsame Insel, von keinem sonst erreichbar, tritt schon die eben abgedrängte Welt in Erscheinung, eine Welt, die ihrem Untergang entgegentaumelt. Sie ist nicht mehr auszublenden, auch wenn das Ich sich seinen autonomen Raum zu bewahren versucht; der ist ein "Gefängnis".

Das Ich wecken

Anders als in der Robinsonadenliteratur des 18. Jahrhunderts, in der nach Serien von Glücks- und mehr noch Unglücksfällen am Ende Ruhe und Frieden dominieren, also ein Ausblick geboten wird auf eine schönere neue Welt, wird in diesem Gedicht, trotz aller Lebensbejahung, die es ausdrückt, am Schluss Fortschrittsgläubigkeit nicht mehr gewährt; die Früchte der Eichen, traditionell Bilder der Frische und Gesundheit, Hauptnahrungsmittel in jenem goldenen Zeitalter, das Ovid in seinen "Metamorphosen" beschreibt, erfüllen nur mehr eine einzige Funktion: das Ich, Crusoe zu "wecken", aus den Träumen zurückzuholen in das wirkliche Leben.

Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass auch moderne Poesie durchaus verzaubern kann, verzaubern: in allen schillernden Facetten des Wortes, dann liegt der Beweis mit diesen "Sämtlichen Gedichten" auf dem Tisch.

Sarah-Sound

Der von Peter Hacks so genannte "Sarah-Sound" ist schon oft und oft charakterisiert worden. Zu diesem unverwechselbaren Sprachduktus gehören jedenfalls, neben vielem anderen, der nicht selten abrupte Wechsel von Stilfiguren einer archaisch oder barock anmutenden Rede zur gesprochenen, ab und an geradezu schnoddrigen Sprache, der abrupte Übergang von ungemein heiteren zu ungemein traurigen Passagen, innerhalb eines Gedichts wie zwischen aufeinander folgenden Gedichten, unerwartete Reime und unvergleichbare Vergleiche: "Alle Fontänen / Waren sichtlich betrunken", heißt es im Gedicht "Moskauer Tag", "sie schwankten im Wind wie Fontänen".

Zum "Sarah-Sound" gehört aber auch der Mut, die ältesten Themen der Poesie aufzugreifen, über die Liebe und über die Natur zu reden, als wäre darüber noch lange nicht alles gesagt. Es ist darüber noch lange nicht alles gesagt, verrät der Sprachduktus dieser Gedichte.

Zum "Sarah-Sound" gehört schließlich die ebenso spielerische wie kritische Auseinandersetzung mit literarischen Vorbildern und mit Zeitgenossen - von der Droste bis zu Ingeborg Bachmann, von Georg Maurer, Erich Arendt, Johannes Bobrowski, Peter Huchel und Günter Kunert bis zu C. W. Aigner, um hier nur einige wenige zu nennen.

Franz Fühmann hat schon vor Jahrzehnten in seinem Essay "Vademecum für Leser von Zaubersprüchen" auf ein weiteres Charakteristikum des "Sarah-Sounds" hingewiesen: dass das Zweideutige immer präsent bleibt, in einer ästhetischen Struktur, die alle Bemühungen um eine völlige Auflösung des Nicht-Trennbaren ins Rationale abschüttelt und gleichzeitig doch permanent zu solcher Auflösung anregt. Sarah Kirsch ist von ihrer Ausbildung her mit naturwissenschaftlichen Disziplinen vertraut, sie ist Diplombiologin, sie schätzt glasklare Texte über alles; aber was vieldeutig ist, das wird in ihren Gedichten als vieldeutig auch herausgestellt.

Das letzte Gedicht der Sammlung "Sämtliche Gedichte" ist eine Grabschrift:

Epitaph

Ging in Güllewiesen als sei es

Das Paradies beinahe verloren im

Märzen der Bauer hatte im

Herbst sich erhängt

Indem Sarah Kirsch in dieser Grabschrift auf jede Interpunktion verzichtet, so dass alles mit allem verbunden bleibt, auch wenn sich zwischen Güllewiesen und dem Paradies unübersehbar ein riesiger Abgrund auftut, lässt sie wenigstens für einen Moment noch den Idealzustand der Harmonie aufblitzen, das Paradies, "beinahe", "beinahe verloren". Aber kein Lied, kein Gedicht kann darüber hinwegtäuschen, dass das Licht ("im Märzen") von der Finsternis ("im Herbst") geschluckt worden ist, dass der Mensch (das lyrische Ich / der Bauer, wer auch immer in Güllewiesen gewesen ist) längst schon keine Brücke mehr zu finden oder gar zu schlagen vermag zwischen der erträumten und der realen Welt.

Unübersetzbar

Im Abstand zum Idealbild, zum Paradies, und deshalb wird es zitiert, erweist sich der Grad des Verfalls der Weltverfassung. Während diese konkret gezeichnet wird als die denkbar bedrückendste, in der selbst das Urbild des Naturverbundenen und Gesunden, der Bauer, elend zugrunde geht, bleibt das Paradies seltsam abstrakt: womit alle Bilder zugleich aufgerufen werden, die es veranschaulichen, alle einschlägigen Bilder aus der Welt der Literatur und der Kunst.

Der "Sarah-Sound" ist wohl unübersetzbar, wohl auch unnachahmbar.

Sämtliche Gedichte

Von Sarah Kirsch

Deutsche Verlags-Anstalt, München 2005. 560 Seiten, geb., e 20,50

"Als ich zum erstenmal vom Dach des Springerhauses auf den roten Sektor Berlins hinuntersah, wurde mir bange. Eine menschenleere Wüste, wie eine Mondlandschaft, durch Minenfelder, Hochspannungsleitung, Drahtverhaue, von dem wimmelnden Leben quer über die Straße abgesperrt. {...} Noch nie hatte ich eine so ausgestorbene Stadt gemalt {...} Es sollen 200 Menschen seit der Errichtung der Mauer ermordet worden sein, die lieber ihr Leben gaben, als die Freiheit zu vergessen." Fünf Jahre nach dem Mauerbau malt Oskar Kokoschka für Axel Springer das Bild "Berlin - 13. August 1966".

Quelle: Oskar Kokoschka. Leben und Werk. Von Heinz Spielmann. DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln 2003. 535 Seiten, geb, e 80,20

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