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Das Leid

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Der folgende Beitrag ist aus der besonderen Geisteshaltung des christlichen Philosophen des Ostens, Nikolaj Berdjajew, zu verstehen, zu dessen Werk die „Furche“ wiederholt Stellung genommen hat.

„Die österreichische Furche“

Ich leide, also bin ich. Das ist richtiger und tiefer als das „Cogito“ Desoartes’. Das Leid ist dem Dasein des einzelnen verhaftet und dem persönlichen Bewußtsein. Nach J. Böhme ist das Leid die Quelle, aus der alles Schöpferische quillt. Das Leid ist nicht nur der Ausdruck der kreatürlichen Ohnmacht des Menschen, das heißt seiner- niedrigen, stofflichen Natur, sondern auch seiner Freiheit, seiner Persönlichkeit, also seiner höheren Natur. Der Verzicht auf Geistigkeit, auf Freiheit, auf Persönlichst kann wohl eine Erleichterung des Leides, eine Milderung des Schmerzes bewirken, doch käme dies einer Verleugnung der menschlichen Würde gleich. Es ist übrigens nicht gesagt, daß man dadurch seines Heils gewiß wird, daß man sich dem niedrigen, also animalischen Zustand überläßt; denn das Leben in dieser Welt kennt nicht Schutz noch Schonung. Grauenhaft ist die Mißachtung von Menschenleben auf dieser Erde und absurd die gewaltsame Unterdrückung zahlloser Individuen, die verurteilt sind, einen erbitterten Kampf um das Dasein zu kämpfen. Man kann aber dem Leid nicht entrinnen, indem man in die biologische Sphäre des Lebens untertaucht. Das Leid ist das Grundmerkmal der menschlichen Existenz. Jedes Leben, das in dieser Welt seine Individuation erreicht hat, ist dem Leid verfallen. Der Mensch wird inmitten von Leid geboren und stirbt inmitten von’ Leid. Die beiden wichtigsten Ereignisse des menschlichen Daseins sind von Leid begleitet. Die Krankheit, vielleichtdas größte Übel, lauert ständig auf den Menschen…

Buddha lehrte, daß alle Begierde Leid erzeugt. Doch besteht das Leben nur aus Begierden, also aus Leiden. Daraus ergibt sich, daß Leben hinnehmen auch Leiden hinnehmen heißt.

Jeder teilt oder sollte die Leiden anderer und der ganzen Welt teilen. Das Leid bildet das Hauptthema aller religiösen Erlösung und im allgemeinen aller Religionen. Dank dem Leid erlebt der Mensch Augenblicke der Entfernung von Gott; dank dem Leid gelangt er aber auch zur Kommunion mit Gott. Leid kann sjch auch in Freude verwandeln. Der Mensch ist sehr unglücklich auf der Erde, denn er ist von einer ewigen Furcht besessen, Schrecken und Agonie sind sein irdisches Los. Dodi ist allem, was lebt, das gleiche Los beschieden. Dafür besitzt der Mensch die Macht des Schöpferischen, vermag Heldentaten zu vollbringen und ist der Ekstase fähig. Er ist zugleich ein niedriges und höheres Wesen.

Die Unmöglichkeit, Begeisterung zu empfinden und ekstatische Zustände, ist eine Quelle des Leides, ist Ursache von Zerrissenheit, Schwächung des schöpferischen Lebens. Das Unglück kommt vor allem aus der Zerrissenheit, aus der Spaltung. Die Hauptfrage, die wichtigste, die sich dem menschlichen Dasein stellt, heißt: Wie kann man das Leid Kesiegcn? Wie es ertragen? Was tun, um von ihm nicht zermalmt zu werden? Was kann getan werden, um die Summe des Leidens für alle Menschen und für alles, was lebt, zu verringern? Religionen eines leidenden Gottes haben schon vor dem Christentum bestanden, wie die Religion von Dionysos, von Osiris. Es gibt ein Leid Gottes; es ist erlösendes Leid. Auf ihm beruht das Mysterium des Christentums.

Das Leid des Gottessohnes, des Gott- mcnschen ist unleugbare Gewißheit. In diesem Mysterium verschmelzen menschliches und göttliches Leid, die Trennung zwischen Göttlichem und Menschlichem. Die Entfremdung in der Beziehung des Menschlichen zum Göttlichen ist aufgehoben.

Welche Erklärung gibt es für das Leid? Nach Ansicht des zeitgenössischen buddhistischen Philosophen Aurobindo wäre das Leid eine Reaktion des Alls, des Totalen gegenüber dem falschen Versuch des Egos, das Universum zu reduzieren, indem man es ausschließlich den Möglichkeiten individueller Freuden unterordnet. Nach Max Scheler würde der Sinn des Leides darin bestehen, einen Teil dem Ganzen zu opfern, einen niedrigen Wert einem höheren; kurz, das Leid würde Opfer erheischen. Das Leid kann auch die Folge einer Dissonanz sein, die, innerhalb von einander unabhängigen Gebieten hervorgerufen, auf das Ganze wirkt. Alle diese Erklärungen können jedoch den Menschen in bezug auf sein persönliches Schicksal nicht befriedigen. Sie beruhen auf dem Versuch, das Individuelle und Persönliche dem Universalen und Allgemeinen bis zur völligen Ausschaltung unterzuordnen. Kierkegaard schlug eine tiefgründigere Erklärung vor, wonach nämlich das Leid des Menschen die Folge seiner Einsamkeit wäre.

Man muß die Quelle und Ursache allen Leides in der Nichtanpassung der menschlichen Natur an das kosmische und objektive Milieu, in das wir geworfen werden, erblicken, in dem unaufhörlichen Konflikt zwischen dem Ich und dem fremden Nicht- Ich, in dem Widerstand gegenüber dem Objektiven, das heißt gegenüber der Objektivierung der menschlichen Existenz.

Der peinliche und schmerzliche Widerspruch des Menschen besteht darin, daß er in seinen verborgenen und unentschleierten Tiefen ein unendliches, dem Unendlichen zustrebendes Wesen ist, ein nach Ewigkeit dürstendes Geschöpf, gemacht für die Ewigkeit und gezwungen, ein endliches, zeitlich beschränktes sterbliches Dasein zu führen. Wie gelähmt befindet sich der Mensch vor einer unübersteigbaren Mauer, die allen seinen Anstürmen trotzt. Aus der Tiefe geschaut, zeigt es sich, daß das menschliche Leid durch das Unüberwindbare, Unaufhaltbare, Unwandelbare und Unwiderrufliche bedingt ist.

Wenn dem Menschen die innere Erfahrung des gesamten Kosmos als eines ihm nahen Kosmos zuteil wird, fühlt er sich in eine Welt versetzt, die ihm nicht mehr fremd ist, in eine „andere“ wirkliche, jenseits von dieser existierenden Welt. Die Loslösung des Menschen von den ursprünglichen Quellen des Lebens, von den Mitmenschen, vom kosmischen Leben ist die Ursache von Leiden. Das Verbundensein mit diesen Quellen, mit den anderen Menschen) mit dem kosmischen Leben ist das Gegenteil von Leiden. Daß der Tod das größte aller Leiden ist, kommt wahrscheinlich daher, daß er uns durch eine Phase führt, die ein Augenblick absoluter Trennung, Los- reißung und Einsamkeit ist. Das Gegenteil des Leidens ist ein harmonischer Zustand, den ein Gefühl der Nähe, der Vertrautheit, der Kommunion begleitet. Das Geheimnis der Kommunion ist tatsächlich das größte aller Geheimnisse. Sie ist nicht nur ein menschliches, sondern auch ein kosmisches Mysterium. Das Schicksal des Menschen von seiner Geburt bis zum Grab, das ihm aufgebürdete Leid bleibt uns unbegreiflich. Was wir von uns sehen, ist jedoch nur ein kleiner Ausschnitt seines Lebens in der Ewigkeit, seines Weges durch eine Pluralität von Welten. Wenn wir nur einen einzigen Tag aus dem Leben eines Menschen betrachten, aus der Reihe vorhergehender und nachfolgender Tage herausgehoben, so werden wir nicht viel von diesem Leben verstehen und was in ihm vorgeht. Nun ist aber vom Standpunkt der Ewigkeit das Leben jedes Menschen — von seiner Geburt bis zum Tod — nur ein kurzer flüchtiger Tag.

Ohne die Schmerzen und Leiden, die in der Welt existieren, würde der Mensch auf das Niveau des Tieres herabsinken. Seine tierische Natur würde dominieren. Wir dürfen daraus den Gedanken ableiten, daß das Leid in der Welt nicht nur ein Übel ist oder die Folge oder Äußerung eines Übels Es wäre ein Irrtum, anzunehmen — trotz allen Predigten, die über dieses Thema gehalten wurden —, daß der Mensch im Verhältnis zu seinen Fehlern und Sünden leidet. Das würde bedeuten, daß wir uns der gleichen Argumente bedienen wollen, der sich Hiobs Tröster bedienten. Nun hat aber Gott Hiob recht gegeben und nicht dessen Tröstern. Das Buch Hiob ist ein großer Beweis für die Möglichkeit unverdienten Leidens und der Existenz unschuldiger Märtyrer. In der griechischen Tragödie finden wir gleichfalls solche Beweise. Ödipus war nicht schuldig, sondern ein Opfer der Fatalität. Das unverdienteste Leiden aber war jenes des Gottessohnes, Jesu des Gerechten. Es gibt ein göttliches Leiden, das aus dem Zwiespalt zwischen Gott und der Welt und dem Menschen quillt. Es gibt ein dunkles Leiden, das dem Untergang weiht, und ein hell leuchtendes, dessen Ziel das Heil ist. Das Christentum macht aus dem Leiden den Weg des Heils.

Es ist unmöglich, vom sozialen Standpunkt aus den tiefen, tragischen Konflikt zu lösen, der darin begründet liegt, daß der Mensch als geistiges Wesen nach der Ewigkeit und dem Unendlichen strebt, während er den Bedingungen dieser Welt und ihren engen Grenzen verhaftet ist. Es gibt kein Regime, das imstande wäre, die Leiden ein für allemal abzuschaffen, deren Ursache die Liebe ist, oder der Konflikt zwischen Liebe und politischer oder religiöser Gesinnung. Der rätselhafte und geheimnisvolle Aspekt des Lebens, des eigenen Schicksals ist Ursache von Leiden; der böse Wille zur Macht und Gewalt; die Enttäuschungen, die der Mensch empfindet, wenn er konstatiert, daß er im Leben nicht die Rolle spielt, die er spielen möchte; das Bewußtsein, innerhalb der Gesellschaft eine demütigende Stellung einzunehmen; die Lebens- und Todesangst; die absurden Unfälle, denen die Menschen ausgesetzt sind; die Enttäuschungen, die sie anderen verursachen; der Verrat der Freunde oder ein melancholisches Temperament … Erst, wenn die soziale Frage gelöst sein wird, erst wenn allen Menschen Bedingungen zuteil werden, die mit einem würdigen Dasein in Einklang zu bringen sind, wenn man nicht mehr völlig unsichere Verhältnisse wird erdulden müssen und alle Leiden, die durch Hunger, Kälte, Unwissenheit, Krankheit und Ungerechtigkeit verursacht sind, verschwunden sein werden, erst dann, sage ich, werden die Mensdien zu einem intensiven Gefühl gelangen und die tragische Seite des Lebens wird ihnen tiefer ins Bewußtsein dringen, so daß sich eine große Traurigkeit nicht nur einiger Auserwählter, sondern der Mehrzahl bemächtigen wird.

Der soziale Kampf gegen die Leiden ist ein Kampf gegen die Leiden konkreter Wesen. Die von der Gesellschaft formulierten Gesetze können eine Garantie bilden gegen die sozialen Äußerungen der Grausamkeit. Aber keinerlei Gesetz vermag die Grausamkeit zu unterdrücken, die im menschlidten Innern ihren Sitz hat und die immer wieder Mittel finden wird, sich in antisozialen Formen zu äußern. Desgleichen wird ein soziales Regime, das dem Menschen und Bürger die Freiheit garantiert, niemals genügen, den Menschen vor jeglicher Möglichkeit von Sklaverei zu bewahren. Es wäre jedoch unrichtig, aus dem Gesagten auf die Unnützlichkeit sozialer Reformen zur Minderung menschlichen Leidens und menschlicher Sklaverei schließen zu wollen. Diese Reformen sind notwendig, und sie müssen 60 radikal wie möglich sein. Man muß alles daransetzen, die geistigen Aufgaben jenen sozialen Einflüssen zu entziehen, die geeignet wären, sie zu entstellen oder zu schädigen. Die optimistische Theorie des Fortschrittes des 19. Jahrhunderts war von dem Glauben an die Möglichkeit einer Unterdrückung aller Leiden durchdrungen und einer beständigen Steigerung des Glücks. Die katastrophalen Weltereignisse haben diesem Glauben ein Dementi zugefügt, das ihn stark erschütterte. Die alte Idee vom Fortschritt ist unannehmbar geworden. Dennoch enthält auch sie eine christliche Wahrheit: sie ist, ohne sich dessen bewußt zu sein, von der Sehnsucht nach dem Reich Gottes beseelt. Man muß unbedingt das Vorhandensein eines irrationalen Prinzips in der Welt annehmen, das sich aller Rationalisierung irgendwelcher Fortschrittstheorien entzieht.

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