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Das Leiden der Tiere

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Nachdem der Maler Gacougnol den Kutscher abgefertigt hatte, schlugen er und Clotilde Marechal die mutmaßliche Richtung nach dem großen Raubtierkäfig ein. Aber alle beide kannten den berühmten Zoo nicht, der nur von den in der Nähe wohnenden Parisern oder von Fremden besucht wird, und natürlich verirrten sie sich.

Unterwegs bewunderte Clotilde die Zebras und die Antilopen; sie blieb stehen und betrachtete sie verliebt.

„Haben Sie Tiere gern?“ fragte sie der Maler, als er sah, wie sie eines dieser bezaubernden Geschöpfe, dessen Augen ihren eigenen so ähnlich waren, zärtlich streichelte.

„Ich liebe sie von ganzem Herzen“, antwortete sie, „ich wollte, ich könnte sie pflegen und mit ihnen in einem der reizenden Pavillons wohnen, die man für sie gebaut hat. Ihre Nähe “wäre mir angenehmer als die des Herrn Chapuis.“

Dieses Wort machte Eindruck auf Gacougnol, der sich anschickte, etwas Gewichtiges zu äußern, als sich eine Hand auf seine Schulter legte. „Ach, Sie sind's, Marchenoir!“ rief er aus, als er sich umgewandt hatte. „Eben habe ich noch an Sie gedacht. Wie kommen Sie denn hie-her?“

„Ich birt fast alle Tage hier. Aber wi kommen Sie her? Daß Sie hier sind, wundert mich wirklich sehr!“

In diesem Augenblick trafen seine Augen Clotilde und nahmen einen fragenden Ausdruck an. Gacougnol reagierte sofort.

„Meine liebe Clotilde, darf ich Ihnen einen unserer gefürchtetsten Schriftsteller vorstellen: Cain Marchenoir. Unter uns nennen wir ihn den Großinquisitor von Frankreich. Cain, Ihrer Bewunderung lege ich Fräulein Clotilde ans Herz... Fräulein Clotilde Marechal, eine Freundin, die ich heute morgen getroffen habe, aber der ich im Jahre Tausend auf einer früheren Wallfahrt bereits begegnet sein muß. Sie ist die Dichterin der Demut “

Marchenoir verneigte sich tief und sagte zu Clotilde:

„Gnädiges Fräulein, wenn mein Freund sich nicht über mich lustig macht, dann sind Sie das Größte, was es auf der Welt gibt.“

„Dann macht er sich bestimmt über Sie lustig“, antwortete sie lachend, „und das wundert mich sehr, denn Sie tragen einen furchteinflößenden Namen ... Cain ...“, fügte sie in gleichsam träumerischem Schrecken hinzu. „Das kann doch nicht Ihr wirklicher Name sein?“

„Meine Mutter hat mich auf den Namen Marie-Joseph taufen lassen, aber der Name Cain steht tatsächlich im Register, und zwar auf ausdrücklichen Wunsch meines Vaters. Ich zeichne Cain, wenn ich gegen die Brudermörder Krieg führe, und ich behalte den Namen Marie-Joseph bei, um mit Gott zu sprechen ... Und nun, mein lieber Gacougnol, erklären Sie mir einmal Ihren Ausflug in den zoologischen Garten!“

„Ich bin der Löwen wegen gekommen“, sagte Gacougnol. „Ich habe ein paar Skizzen zu madien, und wir sudien gerade den Löwenzwinger.“

„Dann haben Sie mich nicht vergeblich getroffen, denn Sie scheinen hier gar nicht Bescheid zu wissen und hätten wahrscheinlich die halbe Stunde, in der es noch hell ist, mit Sudien verloren. Im Augenblick sind die Raubtiere der Allgemeinheit der Besucher nicht zugänglich. Ich werde Ihnen jedoch Zutritt zum Raubtierhaus beschaffen. Ich bin da fast zu Hause, wissen Sie ...“

Einige Minuten später betrat Marchenoir mit den beiden das Raubtierhaus; er hatte dreimal an die Tür geklopft, die sich geöffnet hatte, und nun befanden sie sich im Innern des Zwingers, wo die Raubtiere ihre Abendmahlzeit beendeten.

„Fürchten Sie nichts“, sagte Marchenoir zu seiner Begleiterin, die ein bißchen zitterte, „Sie befinden sich außer Reichweite, und außerdem ist dieser Tiger mein Freund. Er ist seit ungefähr drei Wochen hier, und es vergeht wohl kaum ein Tag, ohne daß ich ihn besuche und tröste. Ich bilde mir nicht ein, daß ich die Tigersprache fehlerlos spreche, aber man verständigt sich. Sehen Sie nur, wie liebenswürdig er uns empfängt!“

Der Tiger, der sich zunächst in ganzer Größe am Gitter aufgerichtet hatte, schien sich durch die Stimme seines Besuchers tatsächlich beruhigen zu lassen. Er fiel auf seine Vordertatzen nieder, dämpfte sein dumpfes Grollen und ging nun im Käfig von einem Ende zum andern; er machte stets auf def Hinterhand kehrt, um Marchenoir nicht einen Augenblick aus den Augen zu lassen: er sah ihn mit seinen Augen unablässig an, mit den Augen eines mißtrauischen Geizkragens, mit jenen Augen, die dieser Raubtierrasse eigen sind und die ihr zum großen Teil den Ruf besonderer Grausamkeit eingetragen haben.

Nach einem noch eindringlicheren Blick des „Dompteurs“ drehte er sich um, legte sich nieder und lehnte sich an das Gitter. Da legte zu Clotildes unsagbarem Entsetzen — sie hatte nicht einmal die Kraft, zu schreien — Marchenoir, der sich über die bewegliche Kette neigte, seine Hand auf den Rücken des gewaltigen Tieres, das sich wollüstig unter der Liebkosung streckte und ein langes, rauhes Brüllen ausstieß, unter dem die Wände erbebten.

„Sehen Sie“, sagte er nach dieser Höflichkeit, „man verleumdet diese herrlichen Tiere, und dabei würde ich es ihnen noch nicht einmal übelnehmen, wenn sie über ihr elendes Gefängnis empört wären. Glauben Sie wirklich, daß dieser arme Tiger schreckenerregend ist? Vor wenigen Monaten noch lebte er in seinem schönen Wald in Indien und jetzt stirbt er unter den Augen des Pöbels fast vor Kälte und Kummer. Deswegen lieben wir einander. Sicherlich sagt ihm irgend etwas, daß ich nicht weniger traurig und nicht weniger aufgeregt bin als er selbst. Aber wir haben noch andere Berührungspunkte. Sein schimpflicher Name entspricht dem Namen Cain, mit dem ich bekanntlich auch zu tun habe. Und erinnert mein anderer Name Joseph nicht an das schöne gestreifte Kleid des Patriarchenkindes, das dieser arme Gefangene hier vor uns trägt? Ich kann Ihnen gar nicht schildern, wie sehr ich mich mit fast allen Tieren, die hier sind, solidarisch fühle: sie sind mir tatsächlich viel näher als viele Menschen. Nicht eines von ihnen, glaube ich, hat mich in Herzenqualen oder in Geistesnöten im Stich gelassen. Man will nicht bemerken, daß die Tiere ebenso geheimnisvoll sind wie der Mensch, und man weiß gar nichts davon, daß ihre Geschichte eine ,Schrift' in Bildern ist, darin das göttliche Geheimnis ruht. Aber seit sechstausend Jahren ist noch kein Genie erstanden, um das symbolische Alphabet der Schöpfung zu entziffern ...“

Die sehr primitive Bildung der jungen Frau und die fürchterliche Geistlosigkeit ihrer Umgebung hatten sie auf die häufig unerhörten Abwegigkeiten dieses sehnsüchtigen Betrachters kaum vorbereitet, aber ihre gerade und klare Vernunft sagte ihr, daß sie einer Intelligenz begegnet sei, die sie nicht geringschätzen dürfe. Instinktiv ahnte sie Tiefe und Größe, obwohl sie ihn kaum verstanden hatte.

„Die Schöpfung!“ sagte sie, „ich weiß, daß der Geist des Menschen sie nicht begreifen kann. Ich habe sogar gehört, daß kein Mensch irgend etwas vollkommen zu begreifen vermag. Aber unter all diesen Geheimnissen ist vor allem eines, das mich verwirrt und entmutigt. Hier haben wir zum Beispiel ein schönes Geschöpf vor uns, das trotz seiner Wildheit unschuldig ist, denn es ist der Vernunft beraubt. Warum muß es dann auch seiner Freiheit beraubt werden? Warum leiden die Tiere überhaupt? Ich habe oft gesehen, wie Tiere mißhandelt wurden, und ich habe mich gefragt, wie Gott diese Un-gereditigkeit ertragen kann, die man armen Tieren antut, und diese Tiere haben doch nicht wie wir diese Strafe verdient!“

„Ach, da müßte man zunächst die Frage stellen, wo die Grenze des Menschen ist. Die Zoologen, die hier in unmittelbarer Nähe ihre kleinen Etiketts fabrizieren, werden Ihnen aufs genaueste sagen, weldie Eigenschaften alle niederen Rassen vom menschlichen Tiere unterscheiden. Sie würden Ihnen sagen, daß es außerordentlich wesentlich ist, nur zwei Hände oder zwei Füße zu haben und bei der Geburt weder Federn noch Schuppen zu besitzen. Aber das würde Ihnen nicht klarmachen, warum dieser arme Tiger im Gefängnis sitzt. Man müßte erfahren, was Gott niemand gesagt hat, nämlich welches der Platz dieses Raubtieres innerhalb der allgemeinen Verteilung des gemeinsamen Sündenfalles ist. Man hat Sie doch gelehrt — wenigstens im Katechismus —, daß Gott den Menschen nach seinem Ebenbilde geschaffen und ihm die Herrschaft über die Tiere gegeben hat. Und wissen Sie, daß Adam jedem von ihnen einen Namen gegeben hat und daß so die Tiere nach dem Bilde seiner Vernunft geschaffen wurden, wie er selbst nach dem Ebenbilde Gottes geschaffen worden war? Denn der Name eines Wesens ist das Wesen selbst. Unser Urahne hat dadurch, daß er ihnen Namen gegeben hat, die Tiere auf unsagbare Art zu seinen Tieren gemacht. Er hat sie nicht nur unterworfen wie ein Herrscher. Seine Wesenheit ist in sie gedrungen. Er hat sie für ewig an sich gebunden, an sich geheftet, indem er sie in sein Gleichgewicht mit einbezog und in sein Schicksal verflocht. Warum sollen die Tiere, die uns umgeben, nicht gefangen sein, wo doch die menschliche Rasse siebenmal gefangen ist? Alles mußte auf den gleichen Platz fallen, auf den der Mensdi fiel. Man hat gesagt, die Tiere hätten sich gegen den Menschen empört, wie sich der Mensch gegen Gott empört hatte. Fromme Rhetorik ohne Tiefe. Diese Käfige sind nur dunkel, weil sie sich unter dem Käfig der Menschen befinden, den sie stützen und der sie erdrückt. Aber, ob gefangen oder frei, ob wild oder gezähmt, ob ihrem kläglichen Sultan sehr nah oder sehr fern — die Tiere sind gezwungen, unter ihm, seinetwegen und folglich für ihn zu leiden. Selbst in der Ferne spüren sie das unbesiegliche Gesetz, und sie zerfleischen einander — wie wir selbst — in der Einsamkeit unter dem Vorwande, sie seien Fleischfresser. Die gewaltige Menge ihrer Leiden gehört zu unserem Lösegeld, und die ganze Kette der Tiere, vom Menschen bis zum letzten Vieh, ist der allgemeine Schmerz, ein und dieselbe Sühne.“

„Wenn ich Sie recht verstehe, Herr Marchenoir“, sagte Clotilde zögernd, „so sind die Leiden der Tiere gerecht und von Gott gewollt, der sie dazu verurteilt hat, einen sehr schweren Teil unserer Last zu tragen. Wie kann das sein, da sie doch ohne Hoffnung sterben?“

„Warum sollten sie dann überhaupt da sein, und wie könnten wir sagen, daß sie leiden, wenn sie nicht in uns litten? Wir wissen nichts, gar nichts, höchstens daß kein Geschöpf, ob unvernünftig oder vernünftig, außerhalb des Willen Gottes, und folglich außerhalb seiner Gerechtigkeit, leiden kann ... Haben Sie beobachtet, daß das leidende Tier für gewöhnlich der Widerschein des leidenden Menschen ist, den es begleitet? überall auf der Welt trifft man bestimmt einen traurigen Sklaven, der von einem trostlosen Tier begleitet wird. Der engelhafte Hund des Armen zum Beispiel, den romantische Gitarren nur zu oft mißbraucht haben — erscheint er nicht auch Ihnen als die Verkörperung seiner Seele, als eine schmerzliche Perspektive seiner Gedanken, gleichsam als das äußere Spiegelbild des Gewissens dieses Unglücklichen? Wenn wir ein Tier leiden sehen, so wird das Mitleid, das wir empfinden, nur deswegen in uns lebendig, weil es in uns die Vorahnung der Erlösung mitschwingen läßt. Wir haben den Eindruck, wie Sie eben sagten, daß dieses Geschöpf leidet, ohne es verdient zu haben, ohne irgendwelche Entschädigung, denn es kann nichts anderes erhoffen als das gegenwärtige Leben, und daß das eine entsetzliche Ungerechtigkeit sei. Es muß also wohl für uns, die Unsterblichen, leiden, wenn anders wir nicht wollen, daß Gott absurd sei. Er gibt den Schmerz, weil nur Er überhaupt etwas zu geben vermag, und der Schmerz ist so heilig, daß er die kläglichsten Geschöpfe verklärt oder erhöht! Aber wir sind so leichtsinnig und so hart, daß wir der fürchterlichsten Warnungen des Unglücks bedürfen, um seiner inne zu werden. Das Menschengeschlecht scheint vergessen zu haben, daß alles, was seit Beginn der Welt zu dulden imstande ist, ihm allein lausende Jahre der Qual verdankt und daß sein Ungehorsam das“ zerbrechliche Glück dieser Kreaturen zerstört hat, die es in seiner Anmaßung als göttliches Tier verachtet. Wäre es nicht sehr sonderbar, wenn die ewige Geduld dieser Unschuldigen nicht von einer unfehlbaren Weisheit berechnet war, um in der geheimsten Waage des Herrn das Gegengewicht zur barbarischen Unruhe der Menschheit zu sein?“

Die Stimme dieses Anwaltes der Tiger bebte vor Eindringlichkeit. Die wilden Tiere sahen ihn aus allen Ecken neugierig an, sogar der alte kanadische Bär schien aufmerksam geworden.

Clotilde war tief erstaunt, ihre ganze Seele überließ sich den Worten, die in nichts dem glichen, was sie bisher gehört hatte. Von Kopf bis zu Fuß hörte sie zu, sie war keiner Entgegnung fähig, so gut sie konnte, paßte sie ihre Gedanken den Gedanken dieses pathetischen Erklärtes an.

Schließlich aber wagte sie es dennoch: „Mir scheint, Herr Marchenoir, daß Sie ?iemlidi selten verslanden werden, denn Ihre Gedanken gehen viel weiter als gewöhnliche Gedanken. Die Dinge, die Sie sagen, scheinen aus einer fremden Welt zu kommen, die niemand kennt. Deswegen fällt es mir sehr schwer, Ihnen zu folgen, und ich gestehe, daß mir das Wesentliche daran immer noch dunkel ist. Sie sagen, daß die Tiere das Schicksal des Menschen teilen, der sie in seinen Sturz mit hineinriß. Gut. Sie fügen hinzu, daß die Tiere, da sie unbewußt sind und von sich aus nicht zu leiden haben, da sie ja tjehorchen mußten, notwendigerweise durch uns und folglich für uns leiden. Das verstehe ich schon weniger. Immerhin kann ich das noch als ein Geheimnis gelten lassen, das für meine Vernunft nichts Abstoßendes hat. Ich begreife sehr wohl, daß der Schmerz niemals unnütz sein kann. Aber um des Himmels willen — muß er nicht auch dem Wesen zugute kommen, das leidet? Verlangt das Opfer, selbst das unfreiwillige, nicht eine Entschädigung?“

„Sie wollen mit einem Worte wissen, welches ihre Entschädigung oder ihr Lohn ist. Wenn ich es Ihnen sagen könnte, wäre ich der liebe Gott in eigener Person, denn dann wüßte ich, was die Tiere in sich sind und nicht in bezug auf den Menschen. Ist Ihnen nicht aufgefallen, daß wir Wesen und Dinge nur in bezug auf andere Wesen und Dinge begreifen können, und niemals in ihrem Grunde und ihrer Essenz? Kein Mensch auf Erden hat das Recht, mit aller Sicherheit auszusprechen, daß eine wahrnehmbare Form unauslöschlich ist und in sich den Charakter der Ewigkeit trägt. Wir sind nach der Heiligen Schrift .Schlafende', und die äußere Welt ist in unseren Träumen wie ,ein Rätsel in einem Spiegel'. Wir werden das .Stöhnen der Welt' erst dann verstehen, wenn alle verborgenen Dinge uns enthüllt sein werden als Erfüllung des Versprechens unseres Herrn. Bis dahin müssen wir mit der Unwissenheit eines Lammes das Schauspiel aller Opfer hinnehmen und uns sagen, daß, wäre der

Schmerz nicht von Geheimnis umgeben, er weder die Schönheit noch die Kraft besäße, um Märtyrer zu schaffen, und nicht einmal verdiente, daß Tiere ihn auf sich nehmen.

Da fällt mir eine sonderbare Geschichte ein, die ich Ihnen erzählen möchte, ein4 sehr sonderbare und sehr traurige Geschichte.. . Aber Gacougnol winkt uns.. Wenn er mir genau so aufmerksam zuhören will wie Sie, dann wird es auch für mich gut sein, wenn ich sie erzählen darf.“

Aus dem Roman „Clotilde Marechal“, Kompass-Verlag, Basel.

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