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Das letzte Bollwerk

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Noch sind die wenigsten Wunden des letzten Krieges vernarbt, noch weilen Millionen in Kriegsgefangenschaft, noch sind die wichtigsten Entscheidungen der neuen Friedensordnung nicht gefallen — und schon wird aus echter Besorgnis wie aus gewinnsüchtiger Sensationsgier von den Waffen der Zukunft, von Todesstrahlen und Bakterienkrieg, von Giftwolken und Superatom- bomben gesprochen. In der durchaus verständlichen Angst vor den Mitteln der kollektiven Mordtechnik übersieht man dabei meist, daß der letzte Krieg nicht nur mit der Atombombe eine sdiauerlidie Vervollkommnung der Massentötung hervorgebracht, sondern auch eine andere, fast noch teuflischere Waffe zu einer kaum mehr überbietbaren Vollendung entwickelt hat: die „psychologische Kriegführung", die Propaganda, die aber mit dem Kriege nicht aufhört und auf um so höheren Touren läuft, je mehr die internationale Situation der Ruhe bedürfte.

Seit Jahren und Jahrzehnten sind die regsamsten Geister aller Nationen, die berufenen Diener am Geist der Wahrheit, im Dienst der Staatsraison, des Nationalismus oder einer Ideologie eingespannt. Wir haben die Göbbelssche Anti-England-Propaganda erlebt und zuvor schon auf der anderen Seite die Northcliff-Propaganda des ersten Weltkrieges, dieses Paradigma einer skrupellosen Beeinflussung der öffentlichen Weltmeinung. Sir Campbell Stuart hat in seinem berühmt gewordenen Buche „Secrets öf Crewe House“ die Apparatur und die Mittel dieser Propaganda vor achtundzwanzig Jahren erschreckend genug geschildert, und dennoch sagt er in seiner Vorrede; „Vieles, das interessant und sogar dramatisch wäre, kann niemals Jer Öffentlichkeit überleben werden.“ Seither ist die Angriffswaffe der Propaganda mit großem Raffinement noch außerordentlich verschärft worden. Presse, Kino, Rundfunk und Theater, auch jede Art von Unterhaltungs- und schöner Literatyr, ja selbst wissenschaftliche Veröffentlidiungen sind in Dienst gestellt. Wir stehen hier vor der vielleicht furchtbarsten Auswirkung der kollektivistischen Staatsallmacht, vor der Gleichschaltung und dem Mißbrauch des Geistigen, das mit Gewalt in eine der kämpfenden Fronten gepreßt und nun zur Unterordnung der erkannten Wahrheit unter das angeblich „höhere“ Interesse des Staates und Volkes, der Partei oder Ideologie gezwungen wird. Die Giftwolke der Propaganda dringt durch alle Fenster und Türen, und es gibt kaum einen Raum, der vor ihr sicher wäre. Die Sterilität unserer Gegenwartskultur, unserer geistigen und künstlerischen Produktion hängt eng damit zusammen.

Man kann sagen: Propaganda hatte es immer gegeben, es ist alles nur eine Frage des Maßstabs und der Mittel. An die Stelle der Ansprachen antiker Heerführer an ihre Soldaten, der Flug- und Kampfschriften früherer Jahrhunderte sind eben jetzt die modernen Propagandamittel von Presse, Rundfunk und Film getreten. — Der Einwand ist richtig, aber entscheidend ist die Tatsache, daß diese, wie jede Maßsubveränderung auch die Natur der Erscheinung selbst verändert. So wie Kain sidi noch im Dämmer der Menschheitsgeschichte als Brudermörder verewigte und nach ihm sich die Menschen seit Jahrtausenden gegenseitig umbringen, so daß, so gesehen, die Atombombe nur die bisher letzte Vervollkommnung einer Reihe darstellt, die mit der ersten Steinschleuder begann, so ist gewiß auch die „psychologische Kriegführung" uralt. Das Neue ist nur, daß die geistigen wie die materiellen Kampfmittel heute eben das geistige und materielle Leben der ganzen Menschheit in Frage stellen.

Ein kurzer Blick auf die Entwicklung der letzten zwei Jahrhunderte zeigt uns, welch tiefgreifende Wandlung sich hier vollzogen hat. G wiß gab es auch im 18. Jahrhundert, wie in den Jahrhunderten vorher, politische Publizistik und Propaganda. Aber sie blieb auf einen verhältnismäßig schmalen Abschnitt beschränkt. Der Krieg zwischen den kleinen stehenden Söldnerheeren der europäischen Mächte unterbrach kaum den geistigen und kulturellen Verkehr, er zog die schöpferischen Menschen höchstens durch äußere, zufällige Ereignisse, durch Einquartierungen, Brände und — nach unseren heutigen Maßstäben geringfügige — Verwüstungen in Mitleidenschaft. Der Siebenjährige Krieg fand in der deutschen Literatur seinen Niederschlag vor allem in Lessings „Minna von Barnhelm“, und man wußte Person und Sache noch so weit zu trennen, daß etwa, wie Goethe aus der Reichsstadt Frankfurt berichtete, die Anhänger des Preußenkönigs nicht preußisch, sondern „fritzisch“ gesinnt waren; was ihren Jubel bei den Frankfurter Krönungsfeierlichkeiten aber kaum beeinträchtigte.

Auch die napoleonischen Kriege kannten nAch eine weitgehende Freiheit des Geistigen. Dichtung und Philosophie blühten inmitten des Schlachtenlärms. Für Goethe war die Einquartierung nach Jena und Auerstädt nur eine kurze lästige Unterbrechung seiner dichterischen und wissenschaftlichen Arbeiten, und auch nach dem Ende der Befreiungskriege hat niemand daran gedacht, ihn etwa wegen seines Huldigungsgedichts an Maria Louise und wegen seiner sonstigen Haltung als „Kollaborateur“ anzuklagen. Immerhin beginnt in diesem Zeitalter der Volksbewaffnung die Propaganda schon stärker in den Bereich des Geistes und der schönen Künste einzudringen. Die Dichter und Denker, der Befreiungskriege und der Romantik stellen ihre Federn bewußt in den Dienst der nationalen Sache, sie verfassen, wie etwa die Brüder Schlegel, Proklamationen und Flugschriften, stellen Aktenpublikationen zusammen und werden so die Vorläufer der Kriegsberichter, der Spezialisten der „psychologischen Kriegführung" und der Propagandakompagnien.

Die Demokratisierung des öffentlichen Lebens, die Politisierung der Massen um die Jahrhundertmitte — für Mitteleuropa im Schicksals jahr 1848 schlagartig hervortretend —, bringt dann eine weitgehende Politisierung des Geisteslebens. Die politische Dichtung des „Jungen Deutschland" — die bezeichnenderweise für die reine Menschlichkeit Goethes keinerlei Verständnis besaß — ist der Ausdruck dieser neuen Geisteshal- tiing. Die Gestalt Grillparzers, des Dichters mit dem stärksten, hellwachen Verständnis für Politik und Staatlichkeit, offenbart die Problematik dieser Wende.

Die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht und der allgemeinen Schulpflicht hat die beiden Gebiete, Volksbildung, geistiges Leben einerseits, und Wehrgeist andererseits eng ineinander verschoben. Zuerst jeder gesunde männliche, dann in der Gegenwart überhaupt jeder Staatsbürger wird Soldat, ist vorher jedoch schon der staatlichen Erziehung und Propaganda unterworfen. Der Staat, der von dem Bürger das höchste Opfer fordert, kann ihn geistig und seelisch in der Schule darauf vorbereiten: eine ungeheure Machtfülle, Verantwortung und Versuchung zum Mißbrauch wird damit in die Hand der staatlichen Machthaber gelegt. Der „totale Krieg“ des 20. Jahrhunderts, der das ganze Volk, Künstler und Wissenschaftler, Frauen und Kinder, in einen Dienst zu einem Ziel zusammenfaßt, vollendet die „totale Erfassung" auch der menschlichen Gehirne und Gewissen.

So reicht der freie Raum, der heute dem sittlich verantwortungsbewußten, ehrlich nach Wahrheit strebenden Gedanken und Wort noch übriggeblieben ist, heute kaum mehr über den religiösen Bereich hinaus. Daraus erklärt sich die Bedeutung dieses Bereidis auch für jene dem Geistigen verpflichtete Menschen und Gruppen, die noch vor wenigen Generationen die Einordnung in das christliche Denken als Beschränkung ihrer geistigen Freiheit ablehnten. Selbst jene, die auch heute noch nicht zu einem echten, sakramentalen Glaubensleben gefunden haben, erblicken in der christlichen Tradition Europas das letzte Bollwerk von Menschenwürde und geistiger Freiheit.

Denn hier ist in der allgemeinen Umstürzung und Entwertung aller Werte tatsächlich der letzte, feste und sichere Halt, an den wir uns anklammem können, um nicht in den gähnenden Rachen des Nihilismus zu stürzen, der einzige Raum, in den wir uns vor der Giftwolke des modernen geistigen Bakterienkrieges zu retten vermögen: in der Liebe zu Gott und zum Nächsten, wie sie uns als oberstes und vornehmstes Gebot gelehrt werden. Allein in dieser höchsten Verantwortung können wir die natürliche und göttliche Wertordnung und damit jene geistige Freiheit wiederfinden, welche heute die Giftwolke der modernen Propaganda im Kampf der säkularisierten Ideologien und Egoismen zu verdunkeln droht.

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