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Das menschliche Antlitz

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Gesichter sind wie Bücher,

Wer ihre Sprache versteht, kann sie öffnen und darin lesen — Kapitel um Kapitel des Lebens. Nicht der Umfang entscheidet über den Wert, sondern der Inhalt. Es gibt Gesichter voller Nebensächlichkeiten und andere mit den markanten Zügen des Wesentlichen. In allen ist die Summe des Erlebten festgehalten. Nichts hat die Zeit vergessen, kein Jahr der Sorge und keine Stunde der Freude. Das edle Streben ist aufgezeichnet und das teuflische Drängen. Bildhaft wird das Dasein im Antlitz zusammengefaßt — so kann es Rechtfertigung sein und stumme Anklage. Zu jeder Stunde zeigt das Gesicht, was wir waren und was wir sind.

Gesichter können lehrreich sein wie das Werk eines Großen — dann sieht man zu ihnen auf und lernt davon. Sie können spannend sein wie ein Roman — dann hellen sie den Alltag auf. Sie können überschwenglich sein und billig — dann glaubt man ihnen nicht und legt sie unbesehen zur Seite. Ihres schönen Einbandes wegen behält man sie in der Erinnerung — Gesichter vergänglicher Jugend ohne gereiften Inhalt. Zerknittert, der Titel kaum noch lesbar — sind andere — doch ihre Zeilen sprechen für sich.

Gesichter sind wie Landschaften.

Als grauverhangene Ebene bieten sie sich dem Beschauer. Es gibt keine Erhebungen darin, kaum eine Belebung. Müde verliert sich der Blick in der Ferne und man weiß schon, daß jenseits dieser Ferne wieder Ebene ist. Zerklüftet sind andere, mit Höhen und Tiefen. Man kann ihnen nicht über die Gipfel sehen. Als nackter Fels ragt die Stirn empor. Jahrhunderte haben an ihr geformt, von einer Generation zur anderen. Die Zeit hat ihr das Profil gegeben: Bäche des Schweißes, die Kraft der Gedanken, die Sonne der Freude und die Stürme der Leidenschaft.

Die Ebene trägt die Ernte des Alltags — darin erschöpft sie sich. Mühsam muß man die Klüfte durchsteigen, um auf den Gipfel zu kommen. Dort oben öffnet sich der Blick in ein weites Land und auf einen fernen Horizont. Das Antlitz ist Landschaft mit Wachsen und Ernten.

Gesichter sind wie Bühnen.

Sie kündigen an, was gespielt wird, oder lassen es ahnen. Sie brauchen Applaus, um vor der eigenen Leistung bestehen zu können. Sie treten ins grelle Rampenlicht und haben andere Gestalt angenommen — erst nach der Vorstellung werden sie abgeschminkt und sind wieder wahr. Alle Regungen des Innern — Schreck und Verzweiflung, Liebe und Trauer, Haß, Gier und Eifersucht — tanzen als heimliche Komödianten über die Bretter, beleben die Szene und vollenden das Spiel, bis daß der Vorhang fällt. Das Innere souffliert, und wehe, wenn der Einsatz verpaßt wird, wenn das Stichwort ungehört verhallt.

Das Antlitz ist die Bühne des Lebens — doch ihre Ausstattung ändert sich nie. Nur das Spiel ist wechselvoll, so wie der Regisseur, der eigene Charakter, es will. Mitunter erfreut dieses Spiel die anderen, doch häufig klingen die Auspfiffe des Schicksals auf. Dann schließt die Bühne und träumt nur noch still von den Zeiten ihres Glanzes.

Gesichter sind wie -Masken.

Alle Menschen tragen diese Maske, glatt und schillernd. Lüge und Täuschung verbergen sich dahinter, Güte und Edelmut. Durch enge Sehschlitze beobachten sie den Nachbarn und versuchen, ihm hinter die Maske zu schauen. Wehe, wenn diese Maske fällt: furchtbar kann das menschliche Antlitz sein in brutaler Nacktheit; gelöst kann es sein und wahr, dann ist es beglückend — das Mißtrauen schwindet und man sieht sich von Angesicht zu Angesicht.

Große Meister gibt es, die ihre Maske mit Vollendung tragen — bis sie das Schicksal doch herunterreißt. Das sind die Gaukler ihrer Seele, die Scharlatane des bewegten Seins. Mit Routine setzen sie die Maske auf und haben jede Wirkung ihrer Gesten kalt berechnet — sie wissen schon im voraus um das Echo ihrer Mienen.

Gesichter sind wie Häuser.

Das gotische Antlitz strebt zerklüftet und mit schlanken Säulen hoch empor, möchte sich noch über die Stirn hinaus ins Grenzenlose verlieren. In Stürmen schwankt und zuckt es, daß man bangt, es stürze zusammen. Vergangenheit ist fast alles in diesem Gesicht — man bewundert es und glaubt nicht mehr an seine Gegenwart. Das viereckige Antlitz gleicht einer freudlosen Kaserne — mit hohen Mauern und backsteinernen Wänden. Befehlen ist die Sprache des Alltags und Gehorchen ihr Gebot. Sie ducken sich und lehnen sich auf — in ewigem Widerstreit. Glänzende Fassaden, mühsam repariert, verdecken das dumpfe Elend ihrer Herzen, die Oede der Gedanken, die Unfruchtbarkeit der Seele. Der Anstrich des Gesichts ist brüchig geworden — wie der Verputz eines durch Generationen vererbten Hauses —, doch man ahnt noch sein ehrwürdiges Wachsen und den Geist, der darin lebendig ist. Gesichter sind Ruinen geworden — vernichtet und trostlos, in unaufhaltsamem Verfall.

Gesichter sind wie Gemälde.

Bei vielen schafft erst die Signatur den Wert. Dem Antlitz einer Frau hat die unbestechliche Künstlerin Zeit kluge Häßlichkeit verliehen. Mit knappen Pinselstrichen wölben sich die Brauen über leidenschaftslosen, forschenden Augen. Im Antlitz der liebenden Frau

leuchtet der Mund — alles andere ist nur so nebenbei. Dieses Mundes wegen begehrte man sie — dieses Mundes wegen wurde sie gemalt. Die übervollen Lippen zittern eben noch verlangend und werden schon hart, schmal in brutaler Forderung. Wer diese Lippen lösen will, zerstört die ganze Form.

Leinwand ist unter den Gesichtern — mit bunten Farben wirr bemalt. Rote Kleckse schreien aus getrübtem Weiß, und über allem hängt der Staub des Untergangs. Es ist das Gesicht ohne Tiefe — ohne schöpferische Gnade —, es lebt nur nach außen. Sein Gegenstück dazuj mit fast kantigen Strichen gemalt, das- kräftige Gesicht mit der kühnen Nase, sinnlichem Mund und wuchtigem Kinn. Das Antlitz der Renaissance, jenseits von Gut und Böse, brutal und schön zugleich, faszinierend in seiner alleinigen Wertung nach Kraft oder Schwäche.

Gesichter sind wie Blüten.

Wenn sie noch Knospe, ahnt man bereits die Entfaltung. Erblüht, ist das Antlitz des jungen Mädchens ein geöffneter Kelch, voll der leuchtenden Farbe schamhafter Erwartung. Die Haare umschließen wie Blätter das feine Oval; die Zeit, Erfahrungen und Irrtümer haben es noch nicht mit dem Filigran von Runzeln und Falten überzogen. So weist dieses Antlitz zum Menschen; er möchte sich schenken und sich doch nicht verlieren. Es ist noch ein wenig ängstlich im Frühlingswind und verströmt doch freudig den Duft seiner Jugend. Klar und schön sind die Linien - noch der Erde verhaftet, doch schon himmelwärts strebend.

Längst sind die Blüten verwelkt, der Herbst ließ sie fallen. Das Antlitz der alten Frau hat Früchte getragen. Einen ganzen Sommer, ein ganzes erfülltes Dasein lang. Die Augen sind müde und still, nach innen gerichtet — auf die eigene Welt der Erinnerung. So wird es in seiner Vergänglichkeit unvergänglich für jene, die darnach kommen und gleiche Züge tragen.

Gesichter sind ein Spiegel der Seele. Wer hineinschaut, erblickt das kleine bißchen Ewigkeit menschlichen Lebens mit all seinem Hoffen und Drängen und still sich Bescheiden. Was einmal Dasein war, wird nie zerstört — und nach Jahrhunderten taucht es wieder auf, steht vor uns, den späten Söhnen einer entgötterten Zeit.

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