Das nackte Entsetzen

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Ein großer Kriegsroman: Die Wiederentdeckung des Buches "Die Stalinorgel" von Gert Ledig.

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Ein großer Kriegsroman: Die Wiederentdeckung des Buches "Die Stalinorgel" von Gert Ledig.

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Der Obergefreite konnte sich nicht mehr in seinem Grabe umdrehen, da er überhaupt keines besaß." Mit diesem Satz beginnt einer der bedeutendsten deutschen Kriegsromane. Ein Buch, das man in einem Atem mit "Im Westen nichts Neues" und "Das Boot" nennen darf. "Die Stalinorgel" war aber, anders als die beiden Klassiker, bis vor kurzem völlig vergessen. Ebenso wie der Autor Gert Ledig. Man findet ihn in keinem der bekannten großen Literaturlexika.

Es geht weiter mit der Beschreibung, wie der Obergefreite von einer Werfersalve in die Äste eines Baumes geschleudert, wie eine halbe Stunde später der verstümmelte Baumstamm von einer Maschinengewehrgarbe eine Handbreit über dem Boden abgesägt und wie das, was vom Obergefreiten dann noch übrig ist, von einer Panzerkette plattgewalzt wird, worauf auch noch ein Schlachtflieger seine Sprengmunition in ihn hineinjagt. Die Soldaten des Leutnants Dotojew, ein schon sehr zusammengeschmolzener Haufen von Schülern der Stalin-Akademie für bildende Kunst, kann nicht einmal mehr die Taschen des deutschen Obergefreiten durchsuchen.

Zwei Tage und zwei Nächte später kündigt sich Herbstwetter an. Die Deutschen haben ihre Toten zusammengesucht und ein Feldgeistlicher, "der vor Tagen noch in einer richtigen Kirche gepredigt" hat und mit einer frischen Truppe an die Ostfront gekommen ist, waltet ausführlich seines Amtes. Ein paar Wochen später wird er solche Pflichten einem Laien überlassen. Ein Major, der keine Stiefel trägt, weil seine Füße in Säcken stecken, unter denen weiße Verbände zu sehen sind, verlässt frierend das Begräbnis, bevor der Prediger noch geendet hat, gestützt auf einen Unteroffizier: ",Es plätschert einem so wohltuend in den Ohren. Ist mal was anderes. Außerdem ... heimlich hoffen wir, dass es wahr ist.' ,Ja', sagte der Major. ,Nicht auszudenken, wenn wir auch noch darum betrogen würden.'"

Damit endet "Die Stalinorgel". Davor hat ein Ortskommandant einen Rittmeister, der ihm ausgeliefert ist, weil er sich etwas zu schnell vor dem Feind zurückgezogen hat, erpresst, einen Feldwebel zu erschießen, der sich seinerseits eigenmächtig aus der Feuerlinie zurückgezogen hat. Er erschießt ihn von hinten, denn er kann ihm nicht in die Augen schauen, "er wandte sich um und taumelte davon. ,Ein Bad', flüsterte er. ,Ein Bad nehmen!' schrie er plötzlich und kehrte mit diesen Worten nie wieder in die Wirklichkeit zurück. Bis zu seinem Tode hieß es, er sei im Trommelfeuer irrsinnig geworden."

Dazwischen 200 Seiten nackten Entsetzens. 200 Seiten Todesangst und sinnloses Sterben auf beiden Seiten. Schon in der dritten Zeile gibt Ledig mit einem einzigen Wort seinen Blickwinkel bekannt: Der deutsche Obergefreite ohne Grab ist "etwa vierzig Werst südlich von Leningrad" in die Salve des Raketengeschützes geraten. Werst, nicht Kilometer. Auch hinter der deutschen Front ist Russland also Russland. "Stalinorgel" war übrigens die gängige Bezeichnung der Raketenwerfer. Daher der Titel des Buches.

Dieses hat, wie jeder große Kriegsroman, selbstverständlich auch eine politische Perspektive. Es ist freilich die des ersten Weltkrieges: Der Krieg als ein auf beiden Seiten gleich sinnloses Gemetzel für nichts und wieder nichts. Abgesehen davon, dass es damals noch keine Stalinorgeln gab, könnte "Die Stalinorgel" auch 1917 in den Gräben vor Verdun spielen. Ledig nimmt mit keinem Satz Bezug darauf, dass die Deutschen in Russland eingebrochen sind. Dass es eben doch nicht dasselbe ist, ob man in der Armee eines wahnsinnigen Eroberers oder als Verteidiger seiner Heimat mit viel Glück nur die Gesundheit, viel eher aber gleich sein Leben verliert. Dies hat die Literaturkritik der DDR Gert Ledig - der zeitweise in Ostdeutschland anzuschwimmen versuchte - nicht ganz zu Unrecht vorgeworfen. Ledig war freilich nicht der einzige deutsche Autor, der in den fünfziger Jahren noch in den Denk-Klischees der zwanziger Jahre verwurzelt war.

Doch gerade die totale Zentrierung auf das Jetzt und Hier des Schreckens macht zu einem guten Teil das Zwingende dieses Romans aus. Zum anderen Teil ist es die sprachliche Qualität. Ja, es ist vor allem die sprachliche Qualität. Die Technik der einfachen Sätze. Die Genauigkeit der Beobachtung äußerer wie innerer Vorgänge. Der radikale Blick auf die Einzelheiten. Sei es die Beseitigung von Fäkalien aus einem unter Dauerbeschuss liegenden Schützenloch, sei es das Vertiefen der Gräben in Stellungen, wo der Spaten überall auf Leichen stößt, sei es der Formenreichtum der Bauchschüsse, seien es die Gefühle der Sterbenden - und derer, die oft auf ihre Kosten überleben.

Wahrscheinlich dürfen die großen Kriegsbücher nicht zu kurz nach den großen Kriegen erscheinen, oder können die Autoren sie nicht früher schreiben. Ledigs "Stalinorgel" erschien ebenso wie Remarques "Im Westen nichts Neues" ein Jahrzehnt nach dem Krieg, Buchheims "Boot" gar erst nach 28 Friedensjahren. Nach zehn Jahren lässt man sich eventuell schon wieder etwas vom Krieg erzählen. Während die vielen Verlage, die Remarques Manuskript abgelehnt haben sollen, eine Legende ohne Realitätsgehalt sind, bekam Ledig seines, das er noch unter dem Titel "Inferno" anbot, tatsächlich von fast fünfzig Verlagen, also allen, die zählten, zurück. Doch der Lektor Hans Georg Brenner vom Claassen Verlag sah darin "für mein Gefühl das stärkste und unerbittlichste Kriegsbuch - das ich hierzulande gelesen habe". Der Verlag war entschlossen, es gegen all jene Widerstände durchzusetzen, die es dann nach Erscheinen gar nicht gab. Es wurde vielmehr von der Kritik mit Begeisterung begrüßt und ein in mehrere Sprachen übersetzter Verkaufserfolg, wenn auch bei weitem kein Bestseller wie "Im Westen nichts Neues".

Ledig verdankte den Erfolg wohl zu einem guten Teil seinem Lektor Brenner. Dieser redete ihm seiner Ansicht allzu überdrehte Gewaltdarstellungen ebenso aus wie die Rückblenden in den Ersten Weltkrieg, veranlasste ihn, eine Eifersuchtsszene in der russischen Kompanie zu streichen und erreichte auch die Kürzung all jener Stellen, "wo Sie eine Situation hart im Griff haben, sie aber dann ein wenig ,verschwatzen', wie es im Lektorenjargon heißt". Das Originalmanuskrikt ist allerdings verschollen.

Gert Ledig gelang nie wieder ein gleichwertiges Buch, obwohl noch etliches von ihm erschien. Sein nächster Roman hieß "Vergeltung" und handelte vom Luftkrieg gegen die deutschen Städte. Der Claassen Verlag fand, dass es "nicht gelungen ist und auch nicht gerettet werden kann, weil es Grauen auf Grauen häuft und keinen menschlichen Rest bestehen lässt, dem zuliebe der Leser all diese Grauen auf sich nimmt". Anders als Remarque war Ledig kein selbstkritisch an sich selbst arbeitender Autor. Außerdem setzte er sich, statt sich konsequent weiterzuentwickeln, konsequent politisch zwischen alle Stühle. Sein Lebenslauf ist nicht ohne starke Unsicherheiten rekonstruierbar, da er seine Selbstdarstellungen, wie Florian Radvan in seinem Nachwort mit feiner Ironie anmerkt, "sehr rezipientenorientiert" formulierte.

Ledig erlag, zurückgezogen und desillusioniert, am 1. Juni 1999 in Starnberg einer Herzattacke. Die Wiederentdeckung der "Stalinorgel" nach 40 Jahren als eines der bedeutendsten Bücher über den Zweiten Weltkrieg hat er nicht mehr erlebt. Doch bei dieser Bewertung dürfte es bleiben.

Die Stalinorgel Roman von Gert Ledig, Bibliothek Suhrkamp, Frankfurt/M. 2000 230 Seiten, geb., öS 204,-/e 14,80

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