6651739-1959_05_08.jpg
Digital In Arbeit

Das neue Gesicht der Armut

Werbung
Werbung
Werbung

ICH FRAGE DIE HAUSBESORGERIN: „Wo wohnt hier die Armut?“ Sie antwortet: „In diesem Haus wohnt keine Armut.“

Erst ist sie böse, die Hausbesorgerin, dann meint sie, ich suche eine Familie namens Armut, aber zum Schluß versteht sie und bleibt dabei: „Reich ist keiner in diesem Haus, aber Armut, Armut wohnt nicht bei uns.“

Und dabei kenne ich doch diese Straße ganz genau. Hier wohnte Armut Tür an Tür mit Armut, sie floß aus den Fenstern und durch die großen Einfahrtstore der alten Häuser und stand auf der Straße wie Hochwasser, von dem manche glaubten, es könne zur Sturmflut werden. Sie war das Leben in diesem Stadtviertel des neunten Wiener Bezirkes, das Lichtental heißt. Jetzt wohnt keine Armut mehr hier? Ist sie den Kanal hinuntergespült wie der Kot, der früher von den Höfen auf die Straßen gekehrt wurde, ist sie mobil geworden, zog sie in eine andere Stadt, wurde sie delogiert, aus dem Lichtental verjagt oder verschwand sie wirklich aus dieser Stadt wie die Ratten und die feuchten Mauern? Ging die Armut im Wohlstand der neuen Häuser auf, die auf ihrer alten Stätte gebaut wurden oder wurde sie vom „Wohnungseigentum" und „Sozialem Wohnbau“ verdrängt?

„WO IST DIE ARMUT HINGEZOGEN?“ frage ich die Hausbesorgerin im Block des Wohnungseigentums in der alten berüchtigten Badgasse. Sie weiß es nicht. Niemand weiß es; das Lichtental hat sein altes Gesicht verloren; die Häuser wurden niedergerissen, in denen das Elend und die Tuberkulose romantisch verkleidet wohnten, die Ratten aus den Kanälen vertrieben, denn die alte Armut vom Grund im Lichtental vertrug sich nicht mit dem sozialen Bau und mit dem Wohnungseigentumswesen. Sie wohnt nicht mehr dort, sie ging nicht in der Hygiene des sozialen Bauens und des sozialen Grüns auf; sie wurde delogiert.

Wenn ich die Armut suchen will, muß ich von Straße'zu Äraße,'von BėMrk žn'Bezirk leKeh.'irgiÖtTarme finštkeff'V’įeftėL‘Äerf’ÄfiHä mehr. Die Armut wohnt nicht mehr in eigenen Städten und in Straßen, die man nach ihr nennt. Sie muß aber noch leben. In den Sammelstätten des Elends taucht sie auf, in den Spitälern, in den Obdachlosenasylen und in kleinen Kaffeehäusern, in denen man für 2.20 Schilling Wärme für den ganzen Tag kaufen kann. Ich weiß, die Armen sterben. Aber die Armut stirbt nicht. Sie wurde nur aus ihren Straßen vertrieben und hat sich über ganz Wien verstreut

Ich wußte, daß es im Lichtental noch die Armut geben müsse. Ich suchte sie nur an der falschen Stelle. In den Gemeindebauten und Eigentumswohnungen, die auf dem alteingesessenen Grund der Armen stehen, fand ich sie nicht. Dort kannte man sie nicht, und man wußte nicht, wohin sie gezogen sei. In acht neuen Häusern, auf drei Straßenzügen im Lichtental, in denen heute an 250 Familien wohnen, konnte ich keine Familie finden, die hier auf ihrem alten Grund wohnt. Hier ist die Kaufsumme das Entree, im nächsten Haus die Parteimitgliedskarte. Nirgends gilt es als Einweisungsschein, daß man hier eingesessen war und ge- r.erationenlang gegen die Ratten kämpfte und gegen die Feuchtigkeit der Mauern, die vorher dastanden. — „Wo ist die Armut hingezogen, die zwischen den gepölzten Decken wohnte? , frage ich immer wieder. Man sagte mir, sie sei fortgezogen, und man war überall sehr stolz, weil neue Menschen im Lichtental wohnen, nicht mehr die alten elenden Lichtentaler.

ICH HABE DIE ARMUT DOCH GEFUNDEN, im Lichtental, wo sie meine alte Bekannte ist. Aber ich erkannte sie nicht wieder. Hier hatte die Armut Selbstbewußtsein gehabt, jetzt aber fand ich sie in einsame Ecken verkrochen. Ich traf sie in den dunklen Häusern, die man einstweilen nur stehen ließ, weil die Kredite für die Neubauten noch nicht bewilligt wurden. Versteckt, zurückgelassen wartet sie, daß die feuchten Mauern, in denen sie lebt, niedergerissen werden — morgen, übermorgen, spätestens in drei Jahren. Und sicher wie der Abriß der alten Mauern ist es, daß auf die Bewohner der alten Häuser nicht eine Wohnung im neuen Haus wartet, sondern irgendein Stall in irgendeinem Elendsviertel, das erst in fünf Jahren assaniert werden soll und aus dem sie dann nach diesen fünf Jahren in den nächsten Stall gewiesen werden. Fast 250 Familien wohnen in den Neubauten in den drei Parallelstraßen des Lichtentals, mehr als 200 wurden aus ihren alten Häusern vertrieben und wandern in ganz Wien von Elendsquartier zu Elendsquartier.

Vierzehn alte Häuser stehen noch in einer Reihe in der Badgasse; Restbestand aus dem alten Lichtental. In jedem Haus wohnen noch vier bis fünf Parteien, meistens alte Leute, rund dreihundert Menschen; Restbestand des alten Lichtentals ln drei Jahren wird keines der alten Häuser mehr stehen. — Drei Jahre noch kann der Schneider H. in seinem dunklen Gassenladen bleiben. — „In diesem Laden wohne und arbeite ich jetzt 60 Jahre lang. In Hunderten von kleinen Straßenläden im Lichtental wohnten Schneider, Schuster und Wäscher und hatten ihren Arbeitsschemel neben ihrem Bett stehen. Jetzt sind die meisten Häuser niedergerissen, in den anderen hat man die Läden mit Brettern vernagelt, die Katzen und Hunde aus dem ganzen Viertel kommen jetzt zu uns; weil sie übriggeblieben sind wie wir. Jetzt merken wir erst, wie dunkel der Laden ist, wie ein Sarg, den sie in drei Jahren zunageln werden."

„Hier waren alle arm und arbeitslos und das Haus gegenüber war ein übles Haus“, räsoniert der Wirt. „Das Glück der Armen war, daß sie hier zusammenwohnten. Dieses Lichtental war eine der untersten Stufen des Elends in Wien, mit allem, was drum und dran ist. Heute sieht es allerdings aus, als ob die Armut besiegt wäre. Aber in Wirklichkeit haben von den alten Lichtentalern die meisten nur das Dach über dem Kopf, keiner jedoch die Armut verloren. Sie sind nur verjagt, und vergraben sich wie die Ratten vor dem Sterben.“

„SIE MÜSSEN ENTSCHULDIGEN. Hier sieht es aus wie an einem .Tatort“. Aber fürchten Sie sich nicht, seit dreißig Jahren geschieht hier nichts mehr. Hier wurde die Armut auf Silbertassen von ‘Dienern hereiiigebracht. Zuerst die PöSf Mit “der Verstg ri d i gu rt g' ü b e r den Bankkrächv dann die Nachricht vom Tod des Vaters, dann langsam die Absagen unserer Freunde. Die

Diener gingen, die Silbertassen wanderten ins Dorotheum, aber die Armut blieb.“

Wer würde Armut in dieser Straße vermuten! Oder doch? Man merkt sie an der Fassade einiger Villen, wie man es an der Rinde der schönsten Buchen sieht, wenn ein Wald langsam abzusterben beginnt. Dabei ist es doch schon ziemlich lange her, daß die Armut in diese Straßen der Reichen des vorigen Jahrhunderts einzog, die ihre Villen nicht nahe genug beim Schloß Schönbrunn und beim Haus der Frau Schratt bauen konnten. Die Villa der Baronin N. wirkt tatsächlich wie eine Kulisse, die ein Meisterregisseur als scheußlichen Tatort setzte. Aber es gibt hier keinen Würger außer der Armut, und die arbeitet unsensationell und langsam. Zwei Frauen wohnen in diesem verwunschenen Schloß mit der zerrissenen Fassade. Die 92jährige Baronin G., Herrin über die Armut, über die 6Sjährige Tochter, über ein halbes Dutzend Hunde, die von der „Jungen“ gesammelt wurden. Hier wird noch Hof gehalten in ungeheizten Zimmern, Kammerzofe ist ein junger Schwachsinniger, den man aus dem Burgenland hereingeholt hat. Das Geld für die Hunde und für den Jungen wird durch Stundengeben verdient. Stunden in Sprachen, Stunden in Kultur, die „die .Baronin ,von, ihrem. Krank,en- SVSSet i“ė; Vtn'“ė1nem ThrofVäus HatlsmeistėV- kindem der Umgebung zelebriert, und Stunden, die die Tochter in- Singen und Klavier gibt.

DIE ARMUT WURDE AUS DEN ALTEN ELENDSZENTREN AUSGETRIEBEN, aber sie ist tief in die alten Nobelviertel eingedrungen. Während der neue Reichtum brandneue Stadtteile im Krapfenwaldl und hinter dem alten Döblinger Friedhof baut, geht die Armut in Alt- Hietzing von Haus zu Haus. In fünf Straßen gab es hier im letzten Jahr mehr Selbstmorde aus Armut als in drei Arbeiterbezirken zusammengenommen. In hohen kalten Zimmern, die nicht einmal Untermieter mehr nehmen wollen, sterben die Restbestände einer alten Hietzinger Bourgeoisie.

DER GERUCH VON HÄFERLKAFFEE führt mich weiter auf die Fährte der Armut.

In Wien gibt es einen Bezirk, in dem abends die Straßen vom Rentnerleben erzählen. Wenn man in die Häuser geht, bekommt man Sehnsucht nach Häferlkaffee. Durch diese Türen in diese Wohnungen geht man nur, wenn man Großeltern oder Großtanten besuchen will. Hier ist die Armut wohlig warm und ganz anders und gehört zur Tradition. Achthunderttausend Rentner leben in Oesterreich. Ich glaube, die meisten, die ruhigsten, die großmütterlichsten wohnen in Währing. Aber auch in Währing sind dreihundert. Schilling .Jjeirn Greißler nichl; rtiėfcftrts irt'Döbffiig bd'dr'lta der Inndrefi StSdt, und ich kenne Häuser in der Schulgasse und am Währinger Gürtel, wo siebenhundert Schilling Rente ein Höchsteinkommen sind und wo von fünfhundert Schilling Rente noch ein regelmäßiger Beitrag an die Caritas gesandt wird. Hier allein in Währing fand ich die Armut nicht immer so einsam, wie sie sonst überall in Wien geworden ist. — Und ich brauchte die ausgeglichene, die resignierende Armut in Währing, um mich von der Armut unter den Defekten, den Schwachsinnigen, Verkrüppelten zu erholen, die langsam die Majorität unter den Armen bilden.

ICH KENNE DIE ARMUT SEHR GUT wie sie früher war. Wo sie war, dort herrschte sie als ein Statthalter der Gesellschaft, zu der sie gehörte. An den Stätten der konzentrierten Armut war sie das Band, das die Menschen miteinander verband, Wohnung an Wohnung schloß, und aus dem Wohnviertel eine Burg machte. Sie konnte auf die Straße ziehen, und es gab Hungermärsche, wo es heute nur noch das Hungern des einzelnen gibt.

Die Armut ist aus ihren Wohnvierteln vertrieben. Sie hat ihre Geschlossenheit verloren, sie ist ohnmächtig geworden, ohne Sprache und ohne Vertreter in dieser Gesellschaft, in deren Gletscherspalten sie gedrängt wurde.

Die Armut hat kein Zentrum mehr, sie ist über die ganze Stadt verstreut. Wie Restvölker hat sich die Armut in die unzugänglichsten Schlupfwinkel der Stadt verkrochen. Restvölker aus vergangenen Zeiten, aus vergangenen Schichten, aus Emigrations- und Immigrationswellen. — Invalide, KZler, Restitutionsgeschädigte haben ihre Zentren, ihre Verbände, die auf ihren Platz innerhalb der Gesellschaft bestehen. Aber ich kenne keinen Verband der Schwachsinnigen, der Epileptiker, der Vorbestraften, der alten Lichtentaler. Die Armut gehört nicht mehr zu dieser Gesellschaft. Sie ist ausgesetzt auf Inseln außerhalb der festen Küste unseres Lebens, aber die Küstengewässer sind von Inseln übersät. Auf ihnen zeichnet sich das Cesicht der neuen Armut ab, das Gesicht des Ausgesetzten. Von der festen Küste aus sieht man mit Feldstechern auf das Meer hinaus und hofft, daß eine Springflut die Inseln überschwemmt und die Gewässer um unsere Gesellschaftsordnung klar und frei von Schiffbrüchigen macht. Hygienisch — wie der soziale Wohnbau und das soziale Grün.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung