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Das Neue in uns

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Chroniken unseres christlichen europäischen Mittelalters berichten für die Zeit siebenhundert und achthundert Jahre vor 1961: Kriege in allen Ländern Europas; Kampf zwischen Kaiser und Papst; Streit um die Besetzung von Bischofsstühlen; bäuerliche Erhebungen in Nordwestfrankreich, Flandern; Unruhen und Putsche, Kampf um das Regiment in vielen europäischen Städten; Ketzer gewinnen viel Volk in Italien, Frankreich, Westdeutschland; Seuchen, „Pest“ genannt, Erdbeben, Hungersnöte, Kometen, Weltuntergangsängste, Massenpsychosen.

Tatsachen dieser Art mag Papst Johannes XXIII. im Auge haben, wenn er gegen die schlimme Angst zeitgenössischer Christen in seiner Weihnachtsbotschaft 1960 betont erklärt: „Bei manchen… ist die Empfindung verbreitet, daß es ein schreckliches Zeitalter sei, durch welches die Welt hindurchgehe, doch die Geschichte der Vergangenheit hat noch viel schlimmere Stunden gekannt…"

Das gehört zum Kreislauf unserer Geschichte: Krieg und Kriegsgeschrei, Umsturz, Erdbeben in der Erde und in den Menschen. Gefährliche Selbsttäuschung aber wäre es für uns Europäer, Österreicher, Christen, neben diesen alten Elementen der Unruhe die durchaus neuen Elemente der Geschichte zu übersehen. Das „neue Jahr“ 1961 gehört sowohl der alten Kategorie alter „neuer Jahre" an, die im Kreislauf der Taten und Untaten, Aktivitäten und Passivitäten, Ängste und Hoffnungen das Tun und Leiden des Menschen seit Kain und Abel wiederholen, wie auch — und das ist für viele verwirrend — einer neuen

Kategorie neuer „neuer JahTe“: in diesen neuen Jahren am Beginn des kosmischen Zeitalters des Menschen wird erstmalig Weltgeschichte gemacht, wird vorentschieden, in welchen geistigen, seelischen, gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Formen die Menschheit in ihre Zukunft geht.

Die Zukunft der Menschheit werden jene bestimmen, die heute ihr persönlich Bestes und alle Potenzen ihrer Völker für sie investieren. Der maßlosen Unlust in der „freien Welt", an die Zukunft zu denken und für sie heute zu opfern, zu bezahlen, entspricht der harte Wille, in Peking, Moskau, bei den kommunistischen Führungskräften, riesige Einsätze für den Kampf um die Zukunft zu planen, zu wagen.

Ein führender amerikanischer Denker der Wirtschaft, Professor für Politik, Berater einiger der größten USA- Unternehmen, macht in seinen „Gedanken für die Zukunft“ auf die Wichtigkeit der Planung auf weite Sicht aufmerksam. „Wir brauchen eine Planung auf weite Sicht, gerade weil wir nicht prophezeien können.“ Planung auf weite Sicht befaßt sich nicht mit künftigen Entscheidungen, sondern „vielmehr mit der Zukunftsbedeutung gegenwärtiger Entscheidungen“. „Entscheidungen gibt es nur in der Gegenwart." In ihnen aber wird bereits Zukunft mit vorentschieden. Dieser amerikanische Fachmann, ein sehr nüchterner Mann, vermerkt: „Heute geht praktisch jeder Manager zehn- und zwanzigjährige Risiken ein, ohne mit der Wimper zu zucken; bei der Entwicklung von Erzeugnissen, in der For schung, in fast allen Dingen“, im Großmanagement in den USA. Die Aufwendungen für Industrieforschung sind in den USA von weniger als 100 Millionen Dollar im Jahre 1928 auf 7 bis 8 Milliarden Dollar 1958 gestiegen.

Als völlig unfähig, Gegenwart und Zukunft zu meistern, da sie die großen Probleme gar nicht sehen, erscheinen für diesen amerikanischen Experten die „reinen Praktiker". „Die am wenigsten brauchbaren Menschen, die ich kenne, sind die .reinen Praktiker’, die Menschen ohne allgemeine Ideen, ohne Allgemeinwissen und ohne grundsätzliche Vorstellungen, jene Menschen, die sich immer selber zu ernst und die Aufgabe nicht ernst genug nehmen.“

In Österreich wimmelt es von diesen „reinen Praktikern“; sie haben die führenden Positionen fest in der Hand. Sie verwehren unserem Lande den Schritt in die Zukunft. Diese „Realisten“ und „Realpolitiker" verstehen die Idee nur als Phrase, als Fassade, gelegentlich als Selbsttäuschung. Es wäre möglich, daß der amerikanische Experte hiebei an seine alte Heimat zurückgedacht hat: Peter F. Drucker wurde 1909 in Wien geboren und hat sich in Amerika zu seiner führenden Stellung emporgearbeitet. Er gehört zu jenem schöpferischen Potential Österreichs, das hierzulande seit Jahrzehnten ausgetrieben wird. Ihr hierzulande von den Positionsbesitzern immer noch geförderter Exodus verhindert den Anschluß Österreichs — den einzig wünschenswerten — an die Zukunft. Solang dieser nicht gewollt, gedacht, gewagt wird, schlittern wir weiter mit guten Neujahrswünschen und Silvesterräuschen in schlechte „neue Jahre" alten Stils. Die Weltgeschichte wird uns überrollen, wenn wir uns weiterhin in diesem Sinne leichtfertig „Prosit Neujahr“ wünschen, ohne wirklich ein neues Jahr zu wollen und aufzubauen: in uns, in einer erneuerten Gesellschaft, in Österreich.

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