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Das österreichische „Provinztheater gestern Und morgen

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In der letzten Zeit wurde sehr viel über den Neuaufbau der Theater in den österreichischen Bundesländern geschrieben. Berufene und weniger Berufene, Fachleute und Nichtfachleute sind mit Vorschlägen in die Öffentlichkeit getreten, ohne dem Ziel näherzukommen. Keiner konnte die Frage befriedigend beantworten: Wie wird es möglich sein, die Theater wieder auf eine künstlerische Höhe zu bringen, die der Tradition und dem Werte der österreichischen Kultur würdig ist.

Für den Fachmann und Liebhaber scheint diese Frage müßig. Und doch ist ihre Beantwortung wichtig, denn immer wieder werden Stimmen laut, die behaupten, das Theater sei Luxus, Vergnügen und sollte deshalb unsere letzte Sorge sein. Gewiß ist es ein „Vergnügen“, nach den Kantschen Worten: „Das unbekümmerte Anschauen des Schönen ist und bleibt das Ziel des Theaters; es braucht aber als notwendiges Mittel die sittliche Reinheit“. Damit ist schon die moralische Notwendigkeit des Theaters gegeben. Für die Menschen, die den Theaterabend als ein Genußmittel ansehen, das man sich „leistet“, und die in Zeiten des Geldmangels schreiben, „auf Theaterbesuch, Zigarren und dergleichen muß man verzichten“, für diese Sorte Menschen ist das Theater ein Luxus, und wir sehen sie lieber die Tingeltangel und ähnliche Unterhaltungsstätten bevölkern.

Wir Menschen sind gewöhnt, die Dinge ihrem Zweck nach zu beurteilen. Allein die Gegenstände der Kunst betrachten wir um ihrer selbst willen. Da geben wir uns allein dem Schönen hin. Wenn wir diese Erkenntnis auf das Theater anwenden, dann lehnen wir alles ab, was sich als Kunst ausgibt und doch nur ein eingekleideter Zweck ist, also jedes Tendenztheater, jede Kunst, die nicht ästhetischer Genuß ist. Aber Kunst, die uns rein vermittelt wird, gehört zu unserem Kulturleben und darf nicht als Ware behandelt werden. Darum muß die Sorge um das Theater an erster Stelle stehen und sie kann uns nicht ernst genug sein.

Beleuchten wir einmal die Lage der österreichischen Provinztheater vor dem Jahre 1938. Infolge der prekären wirtschaftlichen Situation Österreichs waren die Länder und Stadtgemeinden außerstande, die Theater zu unterstützen oder sie konnten nur mangelhafte Subventionen gewähren, die nicht ausreichten, einen geordneten Kunstbetrieb aufrechtzuerhalten. So drohte den meisten Theatern der Zusammenbruch, kleinere Bühnen mußten ihre Pforten schließen oder wurden in Kinos umgewandelt. Die Theaterdirektoren waren nicht mehr Hüter von Kunstinstituten, der Zwang des G e s c h ä f t e m a c h e n s drängte sie auf von ideellen Zielen weit entfernte Bahnen. Für Klassiker war keine Zeit und kein Geld mehr vorhanden, das österreichische Volksstück schien vergessen oder es wurde so schlecht vorbereitet herausgebracht, daß ein leerer Zuschauerraum scheinbar den Beweis dafür erbrachte, daß das Publikum sich für diese Kunst nicht mehr interessiere. Ungehört verhallten die Rufer in der Wüste, die immer wieder nach der „Schaubühne als moralischer Anstalt“ verlangten.

In dieser Situation fand der Nationalsozialismus 1938 das Theater vor. Ebenso geschickt wie man es verstand, die wirtschaftliche Notlage sich zunutze zu machen und durch ein scheinbares Aufblühen der Wirtschaft die Masse von den Segnungen des Dritten Reiches zu überzeugen, so riß der Nationalsozialismus auch die Kunst in all ihren Formen mit einer Totalität an sich, wie man es kaum für möglich gehalten hatte. Alle Bühnen Österreichs öffneten wieder ihre Pforten, Subventionen wurden gewährt, Häuser renoviert, Künstler engagiert, mit einem Wort: ein reiches Kunstleben schien wieder aufzublühen. Und alles dies, um dem österreichischen Volk seine Kunst wieder zu schenken und wieder zur Blüte seiner einstigen Kultur zu verhelfen? O1 nein, bald mußten wir erkennen, daß es die Goebbelsche Propagandatrommel war, die uns von den Schaubühnen herab neues Heil verkündete: das Theater wurde selbstverständlich zu einem der wichtigsten Machtmittel der nationalsozialistischen Staatsführung. Intendanten und Schauspieler aus dem Reich zogen in die renovierten Häuser ein, nationalsozialistische Tendenzstücke füllten die Spielpläne, Unter-hahungsstücke mit KdF.-Niveau sollten über die Leere und Langweile hinwegtäuschen. Vergebens wünschten wir uns das bodenständige Volksstück, das gute österreichische Lustspiel blieb verbannt, die ausländische Kunst wurde uns vorenthalten. Gewiß brachte der Krieg eine Scheinkonjunktur mit sich. Die ausverkauften Häuser zeugten aber nicht von Kunsthunger, wahllos nahm man hin, was geboten wurde, schlechte Kost verbildete den Geschmack des Publikums und man. mußte mit Besorgnis in die Zukunft des österreichischen Theaters sehen. Mit einem Federstrich war im September 1944 alles Kulturschaffen ausgelöscht worden. Die Theater wurden gesperrt, die Künstler zur Zwangsarbeit in die Rüstungsindustrie gepreßt und es schien, als ob auf Jahre hinaus jedwede Kunst tot sein würde.

Es war um so erstaunlicher, daß schon wenige Wochen nach der Befreiung Österreichs sich in allen größeren und kleineren Städten das Theaterleben wieder zu regen begann. Ensembles wurden zusammengestellt und Orte, die früher nie ein Theater besessen hatten, konnten Aufführungen von Großstadtniveau bringen. Natürlich lag in diesem „wilden“ Theaterspielen noch kein System, und es war jedem Fachmann klar, daß es so nicht bleiben konnte. Die Wiener Schauspieler kehrten allmählich an ihre Bühnen zurück, die Flüchtlinge, die oft das Vielfache der einheimischen Bevölkerung ausmachten und die die eifrigsten Theaterbesucher warer., fuhren in ihre Heimatorte zurück; es kehrte wieder ländliche Stille ein, und nur die Künstlergruppen, die für die Besatzungsmächte spielen, sind heute noch viel beschäftigt.

Wir müssen nach sieben Jahren des Stillstandes von neuem anfangen, eine Theaterkultur aufzubauen. Wie leicht ist dieser Satz hingeschrieben, aber wie unendlich schwer die Verwirklichung sein wird, können wir in diesem Augenblick noch gar nicht ermessen. Manche werden sagen, ja, wir müssen die nationalsozialistische Unkultur vergessen und dort anknüpfen, wo wir vor sieben, beziehungsweise vor zwölf Jahren aufgehört haben. Diese Lösung wäre zu einfach. Die ältere Generation wird sich an die Entwicklung des Theaters vor 1933 erinnern. Wenn wir heute die damals aktuellen Stücke lesen, so müssen wir feststellen, daß sie uns mit wenigen Ausnahmen entrückt sind. Stil und geistiger Inhalt sind uns fremd geworden. Um wieviel mehr noch muß dies bei der Jugend der Fall sein, die dieses Vorgestern nicht kennt. Das Feuer des furchtbaren Krieges hat die Menschheit gewandelt. Wir müssen Schritt für Schritt Anschluß finden an das Heute und uns auf uns selbst besinnen. Unsere jungen Männer, die durch fünf Kriegsjahre, aus ihrer natürlichen geistigen Entwicklung herausgerissen wurden, werden mit der Zeit den Abstand finden zu den jüngsten Erlebnissen. Im selben Maße, wie ihr Leben wieder in normale Bahnen gelenkt wird, vollzieht sich die Klärung, aus der der Berufene die Sammlung finden wird, ein neues Werk zu beginnen.

Solange die Stimme des Dichters in unserer Heimat noch schweigt, können wir mit den Aufführungen ausländischer Autoren unseren Spielplan bereichern, denn draußen in der Welt, von der wir nichts erfahren sollten, ist inzwischen das kulturelle Leben weitergegangen. Selbstverständlich sollen uns auch unsere Klassiker und das bodenständige Volksstück in würdigen Aufführungen wieder nahegebracht werden.

Aber nicht nur die geistige Führung der Bühnen muß sich wandeln, auch der wirtschaftliche Aufbau des Theaters wird von Grund auf neu begonnen werden müssen, damit wir nicht wieder unrettbar in die eingangs geschilderte Situation verfallen.

Es ist eine unbestreitbare Tatsache, daß jedes Theater, das als Kunstinstitut und nicht als reiner Wirtschaftsbetrieb geführt wird, finanzielle Unterstützung benötigt. Das ist eine Abc-Weisheit, die Gültigkeit hat, seit es Bühnen nach dem heutigen Begriff gibt. Einst waren es die Fürstenhöfe, die ihre Landestheater unterstützten, später übernahmen der Staat, die Länder oder die Städte die Verpflichtung, die künstlerischen Bestrebungen zu fördern und von den wirtschaftlichen Sorgen zu befreien. Im neuen österreichischen Staat werden sicher auch Regierung, Landesvertretungen und Stadtverwaltungen alles daransetzen, die bestehenden Theater zu erhalten und nach Kräften zu unterstützen. Wir wissen aber auch, wie sehr unser junger, schwerverwundeter Staat zu leiden hat, daß viele vordringliche Aufgaben warten, so rasch wie möglich gelöst zu werden, und daß die Theaterfrage nicht in der ersten Linie stehen kann, wenn es gilt, das nackte Leben der Staatsbürger sicherzustellen. Darum müssen wir versuchen, mit eigener Kraft neu aufzubauen. Wie bei vielen öffentlichen Gebäuden alle Beteiligten zusammenhelfen, Arbeiter und Angestellte den Schutt wegräumen, Ziegel für Ziegel sammeln und neue Mauern errichten, so müssen- wir aüe, Künstler und Publikum, eine Gemeinschaft bilden, die das neue Theater baut, das, der österreichischen Tradition würdig, richtungweisend für die Zukunft wird.

Zunächst sollten die finanziellen Möglichkeiten eines jeden einzelnen Theaters untersucht werden; denn ein hohes künstlerisches Niveau wird nur dann erreicht, wenn sich die Arbeit in den Bahnen bewegt, die den finanziellen Kräften entsprechen. Es wird einem Provinztheater kaum möglich sein, alle drei Kunstgattungen, Schauspiel, Oper und Operette, zu pflegen; die Erfahrung hat bewiesen, daß eine Kunstgattung — besonders das Schauspiel — auch mit ersten Kräften und höheren Gagen sich selbst erhalten kann, während alle drei Kunstgattungen auch bei mittelmäßigen Darstellern mit geringeren Gagen einen Etat erfordern, der zum unbedingten Ruin eines Theaters führen muß, wenn keine oder nur geringe Geldzuschüsse vorhanden sind. Manche Bühnen glauben, einen Ausweg darin gefunden zu haben, daß sie.in kleineren Städten und Orten gastieren. Das Ergebnis eines solchen Experimentes ist aber ein starkes Absinken der künstlerischen Leistungen. Durch ständige Umbesetzungen, die ein Dbppelbetrieb notwendig macht, verlieren die Vorstellungen an Geschlossenheit, Übermüdung der Darsteller verleiht den Aufführungen eine Unkonzentriertheit, die sich auf die Zuschauer überträgt und ihnen dt Genuß des künstlerischen Erlebens raubt

Eine Lösung, die den wirtschaftlichen Erfordernissen und zugleich den künstlerischen Bedürfnissen entspräche, wäre in einem Austausch der drei Kunstgattungen Schauspiel, Oper und Operette zu finden. Ein Stadttheater zum Beispiel müßte sich entschließen, nur die Oper zu pflegen. Mit einem hochwertigen Orchester, einem gut geschulten Chor und erstrangigen Solokräften könnten Opernaufführungen geboten werden, die dem Zuhörer einen vollkommenen musikalischen Genuß vermitteln. Die Bühne einer anderen Stadt wurde in gleicher Weise ausschließlich für Operetten zur Verfügung stehen. Wenn sich nun drei Städte nach bestimmten Vereinbarungen zusammenschlössen und so ein regelmäßiger Austausch von Schauspiel, Oper und Operette zustande käme, würde den verschiedenen Kunstbedürfnissen der Theaterbesucher durch abgerundete und geschmackvolle Darbietungen entsprochen werden und der Etat durch volle Einsetzung des Ensembles gesichert sein.“

Nur eine Gemeinschaft der Künstler und des Publikums kann uns hoffen lassen, daß wir uns trotz jahrelanger Fesselung wieder zu einer wahrhaften Kunst emporschwingen Wie aber können wir diese Gemeinschaft ins Leben rufen?

Es sind schon in verschiedenen Städten Österreichs Ansätze hiefür vorhanden:Kulturausschüsse, Verbände für Kunst und Kultur wurden gegründet, die aber alle noch mehr oder weniger örtlichen Charakter tragen. Ein Verband österreichischer Bühnen als Dachorganisation müßte alle diese Ausschüsse und Organisationen unter einen Hut bringen, ohne ihnen ihren ortseigenen Charakter zu nehmen. Lediglich ein Ziel müßte gemeinschaftlich sein: die Unterstützung der Bühnen durch eine Erfassung aller Besucher zu einer Besucherorganisation, die den Theatern ein Stammpublikum sichert, mit dem sie rechnen können. Wanderbühnen unter künstlerischer Leitung hätten die Aufgabe, alle kleineren Städte und Orte, für die ein ständiges Theater nicht in Frage kommt, mit Vorstellungen zu versorgen. Die Besucherorganisation böte die Gewähr, daß die Theatersäle wirklich voll sind und die finanzielle Grundlage gesichert ist. Wenn ein und dasselbe Stück längere Zeit auf dem . Spielplan bleiben kann, werden “wirkliche Ensembleleistungen zustande kommen und in den kleineren Städten Aufführungen erreicht werden, wie sie unter anderen Umständen nicht möglich wären.

Eine andere wichtige Aufgabe erwüchse dieser Organisation in der

Damit sind nicht jene geschmacklosen Dilettantenvereine gemeint, die aus Langeweile oder Eitelkeit „Schauspieler“ spielen, sondern jene Menschen, die ursprüngliche Begabung und heiße Liebe zum Spiel hintreibt. Mysterien, Kirchliche Spiele und Volksbräuche können durch die Förderung dieser „kunstlosen“ Kunst der Vergessenheit entrissen, alte Dichtungen gesammelt und herausgegeben werden. Man darf aber hiebei nicht in den Fanatismus verfallen und das künstlerische Theater vom Laienspiel überwunden sehen. Das wäre eine Rückentwicklung, die nicht anginge; denn im Gegenteil, allesLaienspiel hat sich noch immer zum beruflichen Kunstspiel hin entwickelt. Man denke nur an die Münchner Studentenbühne um 1894, die Hauptmanns „Einsame Menschen“ und „Die Weber“ sowie Halbes „Jugend“ uraufführte.

Ein „Volksbund der österreichischen Bühnen“ über allen Parteien, nur der Wiedererweckung der österreichischen Kunst dienend, er könnte den sogenannten „Provinztheatern“ zu einer neuen Blüte verhelfen.

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