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Das Osterlidit

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Sterne. Was bedeuten uns noch Sterne? Himmelskörper, geballter Staub, fremde Welten, Licht aus geheimnisvoller Ferne. Wir schaffen uns die Sterne selbst. Jeden Tag können wir einen Stern aus Metall in den Weltraum schießen, und er leuchtet so schön wie die anderen. Sterne. Sie funkeln wie gestern und morgen, echte und falsche. Wer kann sie unterscheiden?

Die Augen der schwarzen Unendlichkeit blicken herab auf das Dort Und wir schauen hinauf über Bäume, Häuser, Türme, Berge... Auch hier auf dem Gräberfeld glitzern Sterne, sie sind uns näher als die Saphire des Himmels, ihr Licht wärmt und der frische Wind des jungen Jahres, der darüber hinwegstreicht, hat nichts gemeinsam mit dem eisigen Hauch des Alls. Eine kleine Flamme löst sich aus der flackernden Herde und irrt wie Elmsfeuer durch den Gottesacker. Am Tor des Kirchhofes hebt sich eine Frauengestalt ab, leicht gebeugt, den Kopf mit einem Tuch bedeckt. In der rechten Hand trägt sie das Osterlicht, die linke hält sie schützend darüber. Vorsichtig steigt sie die Treppe zur Straße hinunter.

*

„Schön hat er es sich gemacht, der Kirchenwirt! Das Haus, neu vom Keller bis zum Giebel. Fünfzig Fremdenbetten und alles komfortabel eingerichtet, von einem Architekten. Der Kirchenwirt kann es sich leisten. Mit diesem Geschäft! Kann mich noch gut erinnern an früher. Er war damals der einzige im Dorf. Aber von den paar Einheimischen hätte er nicht leben können. Die Landwirtschaft hat ihn gehalten, aber viel brachte auch sie nicht ein. Heute ist alles anders! Das ganze Jahr Saison. Kommen die Fremden nicht, kommen die Leute vom Dorf. Meistens kommen alle gemeinsam. Mein ,Alter“ sitzt auch immer drinnen, am Sonntag und sogar unter der Woche. Und der Wirt scheffelt das Geld, aber hergeben will er nichts für wohltätige Zwecke oder für die Verschönerung des Ortes. Für so etwas hat er nichts übrig. Im Winter läßt er den Drahtzaun stehen, damit die Skiläufer nicht über sein Feld fahren können. Ihr Geld nimmt er. Wenn alle so wären...“

*

Eine Staubsäule jagt über die Straße. Die Frau dreht sich vom Wind ab und drückt das Licht an den Körper.

Feuer und Wind. Freund oder Feind? Beides! Er aber ist der stärkere. Er facht an und löscht aus. Das Feuer kann ihm nichts anhaben. Der Schein der kleinen Flamme erreicht nicht den Weg, aber das Licht leuchtet nach innen. Und darum will es die Frau in ihr Haus bringen, und darum sucht sie Schutz unter dem Portal mit der Messingtür, als der Wind eine neue Attacke reitet. Doch er meint es nicht ernst. Er treibt nur ein übermütiges Spiel. Wenn er wollte, die Flamme hätte keine Chance, auch nicht in der Mauernische unter der kalten Flut der Neonstrahlen.

„Eine Goldgrube ist dieser Laden! Jeder im Dorf muß hier einkaufen, ob er will oder nicht. Wenn es keine Konkurrenz gibt, kann man sich alles erlauben. Man muß nicht viel bieten und kann viel verlangen, und trotzdem kommen alle. Sie hoben keine andere Wahl. Brot braucht jeder und Mehl und Zucker und Gemüse auch. Dafür lohnt es sich nicht, in die Stadt zu fahren. Also tragen sie alle ihr Geld dort hinein, die Leute vom Dorf und die Gäste. Kein Wunder, daß der Laden glänzt und spiegelt in Fliesen und Marmor! Das macht die Konjunktur, sagt der Herr Krämer. Einmal wird es ein zweites Geschäft im Ort geben. Dann muß er sich anstrengen.“

*

An der Dorfstraße scheiden sich die Jahreszeiten. An den Nordhängen klebt noch der Winter, die Sonnenseite hat schon der Frühling erobert.

Die Nacht bevorzugt den Winter. Der Mond legt einen geheimnisvollen Schimmer auf den weißen Samt, das junge Grün aber erstickt im Dunkel. Licht und Schatten im Tal der Nacht. Solange der Wind aus dem Osten kommt, gehört die Nacht dem Winter. Ostwind — Südwind, Winter — Frühling. Weiß und Grün, Tag und Nacht. Die Nacht ist weiß, der Tag ist grün. Es ist Nacht. Der Weg ist lang für eine kleine Flamme. Der Mondschatten des großen Hauses liegt auf der Straße. *

„Ein schönes Haus hat er sich gebaut, der Herr Doktor! Eine stattliche Villa. In wenigen Jahren verdient Am liebsten behandelt er Skihaxen. Das bringt Geld! Andere Patienten nimmt er nur, wenn es leicht geht. Ausreden gibt es viele. Man hat eben keine Zeit. Und Hausbesuche kommen gar nicht in Frage. Da muß es schon um Leben und Tod gehen. Und dann überläßt man den Fall lieber dem Kollegen vom Nachbarsprengel. Er kann ein Sonderhonorar verlangen. Gewiß, ein Arzt ist zuwenig für das große Gebiet! Aber warum einen zweiten herlassen? Man will doch verdienen...“

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Einer reitet. Die blonde Mähne fällt wie Frauenhaar vom Bug des Tieres. Zu hart klingelt auf dem Asphalt der exakte Rhythmus der Hufe. Der Mann hockt lässig auf dem breiten Pferderücken. Eine Decke ist sein Sattel. Er ist kein geübter Reiter, aber er reitet auf einem Pferd. Andere reiten auch — auf mehreren Pferden zugleich. Auf zwei Pferden, auf drei Pferden ... Sie reiten nicht im Schritt und nicht im Trab und auch nicht im Galopp. Ihre Pferde sind blind und haben Augen, die blenden. Oft sind auch die Reiter blind, blind für die Welt, blind für das Licht, blind für die Nacht. Wenn sie des Weges kommen, springen jene, die nicht reiten, zur Seite, und auch das Roß mit der blonden Mähne weicht aus. Es hat Angst vor dem Reiter auf drei Pferden. Manche lassen sich ziehen, und sie brauchen noch mehr Pferde: dreißig, sechzig, neunzig! Nicht, daß sie so schwer wären — ein einziges Pferd könnte sie ohne Mühe tragen — aber sie wollen etwas, wozu ihnen ein Pferd allein nicht genügen kann. Sie wollen die Zeit einholen. Sie wollen schneller sein als die Zeit! Auch dreißig, sechzig, neunzig Pferde genügen ihnen nicht. Doch sie genügen, um ein Licht auszulöschen, ein Osterlicht und ein anderes...

*

„Ein eleganter Wagen, ein Sport-modell. Der Mann muß Geld haben. Man sagt, er sei Millionär. Man weiß nichts Genaues über ihn. Auf einmal war er da, hat einen riesigen Fleck Grund gekauft. Jetzt steht die Villa dort — mit Gesindehaus. Er ist selten im Ort. Meist wohnt seine Frau allein in der Villa. Er bezeichnet sie als seine Frau. Niemand weiß, welchen Beruf er hat. Vielleicht hat er keinen? Er macht Geschäfte. Im Ort will er ein Hotel bauen, ein Luxushotel mit Hallenbad und Sauna. Früher war er in Spanien und in Brasilien. Einmal kam ein Fremder ins Dorf und sagte, er wisse etwas über ihn. Der Mann dürfe nicht mehr zurück nach Brasilien, und in Spanien sei er auch nicht gerne gesehen. Aber hier ist er der Millionär. Er ist sehr freundlich und großzügig.“

*

Das Osterlicht brennt noch. Die Pferde haben es nicht ausgelöscht. Einen Augenblick wurde die Flamme ganz klein, als die hundertfünfzig Rösser vorbeistürmten, aber in der schützenden Hand erholte es sich und wuchs wieder empor zu seiner naturgegebenen Größe. In der Kellerbar läuten die Osterglocken. Sie klingen anders als in der Kirche. Hart, schrill, brutal. Der Weihrauch strömt aus Pfeifenköpfen und Zigarettenhülsen. Und das Volk jubelt. Es ist ein junges Volk, Mädchen und Burschen mit Mähnen wie jene der einsamen Pferde, die Angst haben vor ihren metallenen Nachfahren. Vielleicht haben diese jungen Menschen Sehnsucht nach einsamen Pferden? Vielleicht aber träumen sie von dreißig, sechzig, neunzig Pferden?

Übermütig brüllen sie ihr Hosanna. Gilt es Gott oder den Götzen? Wahrscheinlich wissen sie es nicht. Ihre Osterglocken machen taub. Das Ohr schärft sich in der Stille...

*

„Hier zweigt der Weg ab. Es ist nicht mehr weit. An der Ecke steht das halbfertige Haus. Der Besitzer lebt nicht mehr. Eines Morgens fanden sie ihn. Der alte Vater löste ihn vom Fensterkreuz. Schulden, sagten die Leute.

Schulden haben sie alle. Er nahm es tragisch. Die anderen leben, und der am meisten Schulden hat, lebt am besten. Vielleicht schläft er nicht gut? Aber er lebt gut und viele andere auch im Dorf. Schulden? Das Berghotel ging dreimal in Konkurs, das Appartementhaus wechselte zweimal den Besitzer, die Sesselbahn schaukelt über unsichere finanzielle Stützen von einer Saison zur anderen. Der Moorbauer hat seinen Hof verpachtet und betreibt seine Alm als Skihütte, der frühere Besitzer der alten Kantine baut sein drittes Hotel, der Kerl aus der Großstadt sieht am liebsten weibliche Gäste in seiner Nobelpension, und einer im Dorf produziert neue Pläne. Bauen, bauen — Betten, Betten! Es geht allen gut. Eine aufstrebende Gemeinde, stand in der Zeitung.“

*

Die Bäume im Anger sind noch kahl. Wie vom Frost geschüttelt zittern die bemoosten Äste. Das kleine Licht brennt immer noch, flackert, zuckt, duckt sich nieder und strahlt wieder auf, sobald der rauhe Atem des Winters stockt.

Das alte Haus verheißt Frieden und Geborgenheit. Auf dem rohen Gebälk liegt das Braun der Jahrhundertwende. Es sind nur noch wenige Schritte bis zum Tor. Hastig drückt die Frau die Klinke. Die schwere Eichehtür knarrt, fällt ins Schloß. Die kleinen Fenster der Stube schimmern wie Augen auf. Ihr Blick ist warm und versöhnlich.

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