6586551-1951_50_06.jpg
Digital In Arbeit

Das Oute und das Böse im Film

Werbung
Werbung
Werbung

Von Zeit zu Zeit empfange ich Besuch von einem Freunde. Dieser Freund ist Filmkritiker, übrigens ist er ein netter Kerl. Er schreibt kleine Stücke, in denen er seine Leser auffordert, sich diesen Film anzusehen und sich andere Filme nicht anzusehen. Ich lese diese kleinen Stücke sehr aufmerksam. Denn die Filme, die man sich nicht ansehen soll, gefallen mir ausgezeichnet.

Sobald wir lesen, daß es sich wieder um einen »oberflächlichen Bildstreifen handle, der sich nicht über das übliche Happy-Ending erhebe“, ziehen wir alle unsere Mäntel an und rennen aus dem Hause. Wir werden nie enttäuscht. Neulich trat er lächelnd bei uns ein. Jetzt werde eine Stupidität vorgeführt, sagte er, deren Ende nicht abzusehen sei. Er habe überhaupt keine Worte mehr dafür. Er könne nur den Kopf darüber schütteln. Wir warteten nicht einmal, bis er ausgeredet hatte, und flogen mit bloßem Kopf auf die Straße. Es war ein herrlicher Film. Selten habe ich so genossen. Was sahen wir?

Ein Schiff, mit lauter edlen Matrosen bemannt. Sie bewegen sich in jener flotten, modischen Tracht, in die man Seeleute so oft gehüllt sieht: Seidenblusen mit geschlitzten Ärmeln und Spitzenkrausen, graue, an der Naht mit Flitterchen verbrämte Beinkleider, einen reich gestickten Gürtel um die Hüfte und ferner jenen leichten Hut auf dem Kopf, worunter gebräunte Gesichtszüge sich so vorteilhaft ausnehmen. Es ist reinlich an Bord, es herrscht eine muntere Stimmung. Sang und Saitenspiel klingen aus den Kombüsen empor. Alle sind in den Kapitän vernarrt. Kein Wunder: denn er ist der schönste, der schlankeste, der stärkste und dazu der nobelste Mann der Welt. So einem begegnet man nicht jeden Tag in der Kalverstraat.

Dennoch scheint er nicht glücklich. Hin und wieder sehen wir ihn das durch die Sonne bronzierte Gesicht zu den Sternen erheben und seufzen. Man läßt uns über den Grund seiner Kümmernis nicht lange im ungewissen: sein Mädchen wurde ihm entführt. Und zwar von einem Schurken. Ein anderes Wort gibt es nicht. Ein Elender. Auch dieser besitzt ein Schiff. Wir bekommen auch dieses Schiff zu sehen. Es ist kein Zweifel daran, daß lauter Elende dieses Schiff bemannen. Es ist eine schmutzige Schute, dürftig angestrichen, verfallen, verwahrlost, aber von Topp zu Kiel bewaffnet.

In der Kajüte sitzt ein bildschönes Mädchen, Backen wie Pfirsiche, Lippen von Blutkoralle und Augen wie schwarze Diamanten. Der Kapitän hält es dort gefangen.

Selten sah ich solch einen von Gott verlassenen Schuft. Auf dem linken Auge blind, auf dem rechten Bein lahm, wankt er, dauernd betrunken, über das Deck hin und her, tobend und wütend, einen kleinen Ochsenziemer in der Hand,

Das Angenehme dieser Filme liegt in der Deutlichkeit, womit Schwarz und Weiß hier einander gegenübergestellt sind. Man hat die Prämissen faßlich gewählt. Eine andere Begierde, als daß der Einäugige über Bord muß, kann in der Brust des Zuschauers nicht erwachen, es sei denn, er ist selber ein Taugenichts. Und wer hält sich für einen Taugenichts, wenn er gegen die Schurkereien... anderer Partei ergreifen muß? Folglich herrscht eine Stimmung kameradschaftlicher Einmütigkeit im Saal. Ein Gemüsehändler vor mir verdolmetscht die allgemeine Erwartung, indem er plötzlich ausruft: .Schlage darauf, Johann!“

Und sieh, da begegnen die Schiffe einander. Die Kanonen werden bereitgestellt, die Enterhaken ausgelegt, die Messer auf dem Anker gewetzt. Die Matrosen des noblen Schiffes stellen sich in tadellosen Oberhemden hinter der Verschanzung auf, das Messer zwischen ihren einwandfrei gebürsteten Zähnen. Das Gefecht ist entsetzlich. Eine volle Viertelstunde fürchten wir das Schlimmste. Werden die Proleten auf der anderen Seite doch siegen? Aber unser eigener Kapitän ist unübertroffen. Wie schmutzige Wäsche schmeißt er seine Gegner um sich her.

Und plötzlich steht er vor dem Kapitän des anderen Schiffes. Die Musik schweigt. Eine Trommel beginnt zu wirbeln. Hoppla, da springen sie aufeinander. Unten, oben, unten, oben, wie Würfel rollen sie über das Deck. Der Einäugige greift eine Handspeiche und erteilt damit seinem Gegner einen Schlag auf den Kopf, der reichlich genügt, um den Schädel eines Büffels zu spalten. Aber er bekommt ihn mit Zinsen zurück. Unser eigener Kapitän reißt ein Stück aus der Verschanzung und prügelt den Elenden damit zum Hinterdeck. Aber dieser ist auch nicht von gestern. Er hebt eine Regentonne auf und wirft sie auf den Kopf des anderen. Das trifft.

Der Saal beunruhigt sich. Der Gemüsehändler vor mir steht auf, wird aber von den übrigen Anwesenden in kräftigen Ausdrücken gemahnt, wieder Platz zu nehmen. .Wir wollen alle gerne sehen“, erklärt der Mann neben mir. Sehr richtig. Und sieh, da bekommt der Elende einen Fußtritt gegen den Magen, so daß er hintenüber in dem Raum verschwindet. Der Mann neben mir seufzt befriedigt. .Der sitzt“, sagt er.

Die Musik bricht in lyrische Töne aus, jeder steht auf und zieht den Mantel an. Für das letzte Bild, das die zwei Geliebten in einer langsam verfließenden Umarmung darstellt, hat keiner mehr Interesse. Denn es ist nicht so sehr unsere Absicht, die Tugend belohnt, als wohl das Böse auf deutliche und schlagende Weise gestraft zu sehen.

Dieses letzte ist es nun eben, was mein Freund gegen derartige Filme hat. Das Leben ist anders, sagt er bitter. Richtig. Aber darum finde ich diese Filme so entzückend. Daß die Halunken auf Erden in Wirklichkeit ein angenehmes Leben führen, weiß ich auch schon. Ich sehe das täglich um mich herum. Darum ist es ein erquickender Anblick zu sehen, wie sie in unverkennbarer Weise ihr Jackenfett bekommen. .Illusion“, sagt mein Freund. Der Film soll das Leben wiedergeben, wie es ist.

Er nimmt mich mit zu solchen Filmen. Ich sehe Herrn Jean Gabin, der durch den Mist in einem Hafenviertel schlendert. Er sitzt in traurigen Kneipen, trinkt, raucht und geht zugrunde. Ich sehe Herrn Michel Simon in einem anderen Hafenviertel. Auch er trinkt, raucht und geht zugrunde. Ich sehe den illusionslosen Herrn Louis Jouvet, der die Menschen mit seinen glasharten Augen anguckt, als seien sie Kaninchen. All diese Leute sehen aus, wie wenn sie ihren letzten Heller ausgegeben hätten. Sie springen ins Wasser, werfen sich vor den Zug oder jagen sich eine Kugel durch den Kopf.

Nun bin ich kein Dummkopf. Ich sehe ganz gut ein, daß diese Akteure unendlich besser spielen als meine lebenslustigen Cowboys. Ich finde nur, daß sie im Unrecht sind. Ich begreife sie nicht gut. Ebensowenig sehe ich ein, welchen Reiz es hat, zwei Standen lang nach dem Leben von Menschen zu schauen, die ihres Lebens gründlich überdrüssig sind. Auch kann ich nicht unterscheiden, was für Erfreuliches in dem Schauspiel eines braven Rentiers steckt,, der keinem Hund etwas zuleide tut, doch trotzdem in einem kleinen finsteren Keller geköpft wird. Ich verstehe nicht, was für Ermutigendes, Erhebendes oder nur Geisterweiterndes darin steckt.

Wie oft sah ich einen schweigenden Menschenstrom das Kino verlassen, mit bleichen, starren Gesichtern, wie niedergeschmettert unter dem Druck des Abscheulichen, dessen sie eben Zeuge gewesen waren. Wie oft war ich selber unter ihnen. Wie häufig habe ich nach solch, einer Vorführung einen kleinen Rundgang gemacht, mich freuend an den Bäumen, den Sternen und den kleinen Hunden auf den Straßen, und wie lange dauerte es manchmal, ehe ich den bösen Traum abgeschüttelt hatte ...

Wir leiden an dem Entgegengesetzten dessen, woran im neunzehnten Jahrhundert vor dem Jahre 1880 die Kulturtreiber in unserem Vaterland laborierten. Damals versandete man im Klischee des Optimismus. Wir sterben an dem Gemeinplatz des Pessimismus. Die Munterkeit, die Freude, der Frohsinn des Lebens, der Humor, dies alles ist Bannware für denjenigen, der sich heute als Künstler respektiert. Der Frohsinnige ist verdächtig. Die göttlichste aller menschlichen Äußerungen: das Lächeln, ist auf dem Antlitz der Muse gestorben. Wir empfinden sogar ein instinktives Mißtrauen gegen ein Buch, in dem alles ins Lot kommt. Ein Gedicht munteren Inhalts erregt unseren Argwohn. Wir neigen dazu, ein Bühnenstück, in dem die Spieler das Leben eine recht gemütliche Angelegenheit zu finden scheinen, als oberflächlich zu verwerfen. Einen Film mit einem .Happy-Ending“ betrachtet mein Freund als .einen Bildstreifen, in dem der Regisseur sich auf bequeme Weise um das Wesentliche gedrückt hat“, damit die Meinung der offiziellen Kunstkritik wiedergebend.

Während ich dieses schreibe, fällt mir ein, wie kennzeichnend für diese Geisteseinstellung das Wort „Unterhaltungskunst“ eigentlich ist. Wir beabsichtigen damit, eine gewisse Geringschätzung zu erkennen zu geben. Diese Geringschätzung ist meistens gerechtfertigt; davon rede ich jetzt nicht. Aber es ist charakteristisch, daß wir unsere Ablehnung in diesen Ausdruck kleiden. „Don Quichotte“ ist nämlich Unterhaltungslektüre, ebenso wie die „Pickwickier“ von Dickens und „Gullivers Reisen“ von Swift.

Man hätte früher einem Schriftsteller ein Kompliment gemacht, wenn man ihm gesagt hätte, daß seine Bücher einem zu Unterhaltung gereichten. Voltaire würde einem gedankt haben, ebenso wie Herr Diderot. Die Gemälde von Watteau, die Musik Mozarts, die ganze Kunst des achtzehnten Jahrhunderts ist aus Divertissement geboren. Es wurde vorausgesetzt, daß man daran seine Freude hatte. Ich besitze eine gedruckte Einladung aus dem Jahre 1747, in der man höflich aufgefordert wird, sich bei Herrn A. Duyvis in Amsterdam einige Gemälde, Porzellanarbeiten und andere „Ergötzlichkeiten“ anzusehen. Auch Jacob van Lennep, dieser Spätling des aditzehnten Jahrhunderts, unterließ es nicht, in der Vorrede seines dief d'oeuvre „Ferdinand Huyck“ die Hoffnung zum Ausdruck zu bringen, daß sein Werk „ein Lächeln um den Mund seines geehrten Lesers zaubern würde“, dem hinzufügend, daß er sich dann „reichlich werde belohnt achten“. Welcher Schriftsteller macht da heute noch mit?

Wir brauchen die Gefahren unserer pessimistischen Literatur nicht zu überschätzen. Menschen, die düstere Gedichte lesen, besitzen gewöhnlich genügend kritischen Sinn, das Leben dennoch nett zu finden, sobald sie ihre Lektüre beendet haben. Die Kinos aber werden von den geistig Wehrlosen bevölkert. Der Film fordert ja vom Beschauer keine besondere Anstrengung. Zwischen ihm und der Absicht des Herstellers liegt nicht, wie bei dem Buch, ein Abstand, der von einer Kraftanstrengung des Lesers abgelegt werden muß. Bild, Ton und Bewegung gießen die Ereignisse fast direkt in den Geist des Zuschauers. Er sitzt da, passiv, und läßt mit sich geschehen. Seine wichtigste Funktion ist absorbieren. Nur ein Schafskopf „begreift“ einen Film nidit.

Daher gibt es nichts so Gefährliches wie eben diese moderne Erfindung. Durch sie sind wir imstande, Menschen, die gegen die Korruption jeder anderen Kulturform gefeit sind, bis auf den Grund zu vergiften. Ein „schlechter“ Film ist, meiner Ansicht nach, nicht an erster Stelle ein Film, der viele nackte Beine sehen läßt. Viel gefährlicher ist die fin-de-siecle-Atmosphäre dieser lustlos umherschlendernden Jouvets, Simons und Gabins, der zigarettenrauchenden, in Kneipen sitzenden, an den Häfen entlang schlendernden, durch den Mist umherirrenden, tödlich ermüdeten Menschen, kurz, der Staubregen einer unbegrenzten Schwermut, die auf die Köpfe Tausenden niedersinkt, die keinen Regenschirm haben zum Trockenbleiben.

Aufsicht über jene Erzeugnisse, die auch andere Kostbarkeiten als die Keuschheit antasten, und Sichtung derer besitzen wir nicht. Vielleicht ist das unmöglich. Ich kann es nicht beurteilen. Aber in Ermangelung dessen fühle ich eine warme Zuneigung zu den Besuchern jener obskuren kleinen Theater, wo die alte Wildwestromantik ihr letztes Bollwerk hat. Das Gute ist hier noch gut und das Böse unverkennbar böse. Hier werden beide Mächte nicht getrübt. Den Schuften wird das Fell gegerbt, die edlen Burschen bekommen das Mädchen. Hier ßchenkt man einen reinen Wein. Dies ist die wahre Avantgarde der Filmkunst. Man schaut hier wirklich auf den weißen Bildschirm und nicht auf die schwarze Fahne eines lächerlichen und durch nichts begründeten Pessimismus.

Aus dem Niederländischen übersetzt von A. F. C. Brosens

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung