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Das Paradies hat sich sehr verändert

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„ABER DER NAME DES DRITTEN FLUSSES IST TIGRIS, der geht gegen Assyrien. Der vierte Fluß aber ist Euphrates. Also nahm Gott der Herr den Menschen und setzte ihn in den Lustgarten, auf daß er ihn bebauete und bewahrte …” Nur mit Wehmut betritt man den Boden des Landes, in dem die Bibel einst das Paradies sah und in dessen Städten vor mehr als 5000 Jahren unsere Kultur ihren Ursprung nahm. Es gibt kein Land, das sein Antlitz erschreckender gewandelt hätte als Mesopotamien. Wo einst Felder und Gärten grünten, die mehr als 25 Millionen Menschen ernährten, dehnt sich heute eine gelbbraune Wüstensteppe, die sich nur im Frühling für kurze Zeit mit lichtem Grün und Blumen bedeckt und die hie und da dürre Felder und Dattelpalmen trägt. Das ist al’Iraq Arabi, der „Strand Arabiens”, eines der ärmsten Länder der Welt.

Ur und Eridu, die Städte, in denen die Schrift erfunden wurde, und Babylon, das ihre Nachfolge antrat, sind im heutigen Irak weniger als Erinnerungen: namenlose Schutthügel, die in das leuchtende Blau des wolkenlosen Himmels ragen. Angesichts der vielen Staaten und Kulturen, die einander in hunderten Kriegen im Lauf der Jahrtausende folgten, erscheinen einem die politischen Ereignisse der jüngsten Gegenwart im Nahen Osten als sehr unbedeutend. Aber man sollte nicht übersehen, daß die orientalischen Staaten im Begriff sind, ihre wichtige Rolle im politischen Welttheater zurückzugewinnen, von dem sie mehrere Jahrhunderte lang völlig ausgeschlossen waren.

TROTZ SEINER BEDEUTENDEN RUINEN und seiner großartigen Vergangenheit ist der heutige Irak ein Staat ohne Tradition und Geschichte. Vielleicht ist dieses Konglomerat von Landschaften, Völkern (vor allem Kurden und Arabern) und Kulturformen nicht einmal ein Staat, sondern nur das Uebergangsstadium zu dem halbmondförmigen Reich Großsyrien, von dem die Araber seit hundert Jahren träumen. Der Irak wurde nach der Eroberung Mesopotamiens durch britische und indische Truppen im ersten Weltkrieg gegründet, und zwar indem drei ehemals türkische Provinzen, die „Vilayets”, Mos- sul, Bagdad und Basra, vereinigt wurden. Die Tatsache, daß der Irak gewissermaßen eine britische Erfindung ist und seine regierende Dynastie, die Haschemiten (es sind enge Verwandte der Herrscher des gleichfalls von Großbritannien gegründeten Königreiches Jordanien), von den Engländern eingesetzt wurde, hat es bis heute politisch charakterisiert. Außenpolitisch ist der Irak noch immer das dem Westen am freundlichsten gesinnte arabische Land; innenpolitisch aber kam es immer wieder zu heftigen Krisen, die auf die Tätigkeit radikal antiwestlicher und vor allem antienglischer Gruppen zurückgingen.

DIE POLITISCHE UNSTABILITÄT DER NAHOSTSTAATEN ist sprichwörtlich; immer wieder wird der Orient als „Pulverfaß” bezeichnet. Man täte den Arabern jedoch unrecht, wenn man ihre vielzitierte „Unverläßlichkeit” oder ihren Fanatismus für diese Situation verantwortlich machen wollte. Die wahre Ursache ist vielmehr der Umstand, daß die Politik im Nahen Osten noch immer nur die Sache einer kleinen Oberschicht ist. Der Irak gehört zwar zu den verhältnismäßig demokratischen Staaten des Orients; deshalb darf man jedoch nicht glauben, daß die Wahlresultate tatsächlich die Meinung der irakischen Bevölkerung widerspiegelten oder daß die vielen Regierungen (allein zwischen 1930 und 1950 gab es 33 Regierungsbildungen, von denen sieben auf einem Staatsstreich beruhten) echte Repräsentanten des Volkes wären.

Auch auf sozialem Gebiet ist der Irak eine der fortschrittlichsten unter allen arabischen Nationen. Aber das hat gleichfalls nicht viel zu besagen. Von den fünf Millionen Bewohnern des Landes (das fünfmal so groß ist wie Oesterreich), leben 80 Prozent von Viehzucht und Landwirtschaft. Weitaus die meisten von ihnen sind landlose Bauern, die den fern von ihrem Besitz lebenden Grundeigentümern (die meist auch ihre Stammesfürsten sind) unvorstellbare Abgaben entrichten müssen, oder Hirten, die die Herden ihrer Scheichs betreuen. Es ist durchaus üblich, daß diese Scheichs bei den Parlamentswahlen mehrere tausend Stimmen en bloc im Namen ihrer Pächter oder Stammesuntertanen abgeben.

DAS DURCHSCHNITTSEINKOMMEN IM IRAK beträgt heute pro Kopf und Jahr etwa 2300 S, aber viele der Bauern verdienen erheblich weniger. Selten nur können die Araber Fleisch essen; in der Regel bestehen ihre Mahlzeiten aus Datteln, Brot, Gemüse und Ziegenmilch. Man schätzt, daß in den Städten 15 von 100 Einwohnern lesen und schreiben können; auf dem Land aber beträgt die Zahl der Analphabeten 97 Prozent. Aerztliche Pflege ist für die meisten Bewohner des Irak unerschwinglich. Jeder fünfte leidet an Malaria: Millionen andere haben Tuberkulose, Bilharzia, Trachoma (eine Augenkrankheit) und Syphilis. Die nomadischen Stämme leben in schwarzen Zelten; die seßhaften in fensterlosen Lehmhütten

Der politische Ausdruck dieser sozialen Mißstände ist merkwürdigerweise ein extremer Nationalismus. Die herrschenden Landeigentümer und Adeligen, die sich zu keinen nennenswerten Reformen entschließen können, versuchen den Groll der breiten Massen gegen alles Ausländische zu lenken. Aber auch den politisch aktiven Intellektuellen und Offizieren bleibt nichts anderes übrig, als ihre Angriffe vor allem gegen „englandhörige” Politiker zu richten, und sogar die Kommunistische Partei, die im Irak eine rege Untergrundaktivität entfaltet hat, tarnt ihre Ziele mit nationalistischen Phrasen. Der gemeinsame Ausdruck dieses Nationalismus ist die glühende Feindschaft gegen Israel, zu der sich heute im Irak jeder bekennen muß, der irgendwelche politischen Ambitionen hat.

ALS SICH IM ZWEITEN WELTKRIEG DAS KRIEGSGLÜCK ZUGUNSTEN DEUTSCHLANDS ZU WENDEN SCHIEN, führte der irakische Nationalismus im April 1941 zum Staatsstreich des Ministerpräsidenten Raschid Ali el Geilani. Eine achsenfreundliche Regierung wurde ernannt, deutsche Flugzeuge kamen über Syrien nach Bagdad und die irakische Armee griff die britischen Luftstützpunkte an, wo sie freilich ernste Niederlagen einstecken mußte. Nach 30 Tagen war der Irak wieder im Lager der Westmächte.

Wenn ,der Irak seither treu zum Westen gestanden ist, dann ist dies vor allem das Verdienst eines Mannes: des Premierministers N u r i es Said. Dieser angesehene Politiker, der im nächsten Jahr seinen 70. Geburtstag feiern kann und bisher dreizehnmal Ministerpräsident war, ist nicht nur, wie oft gesagt wird, der „große alte Mann” des Irak, sondern auch sein starker Mann. Nuri es Said wurde an der Kriegsakademie des Osmanischen Reiches in Istanbul zum Offizier ausgebildet und war später Waffengefährte des sagenhaften Obersten Lawrence im großen arabischen Aufstand gegen die Türken. „Ich habe mein Leben schon für die Freiheit der Araber eingesetzt”, rief er kürzlich, „als Nasser noch in den Windeln lag,” Aber Nassers Popularität zwingt auch Nuri Pascha, Aegyptens Suezkanalmanöver zu unterstützen, und er bemüht sich, heftiger als alle anderen arabischen Politiker, gegen Israel und Frankreich zu wettern, um dadurch seine Freunde, die Engländer, schonen zu können. Als es im Gefolge des Suezkrieges im vergangenen Dezember zu schweren Revolten in Bagdad und An Nadschaf kam, verkündeten Radio Kairo und der syrische Rundfunk bereits triumphierend, daß Nuri es Said, „der alte Verräter”, erledigt sei. Aber der Ministerpräsident verhängte wieder einmal das Kriegsrecht über Bagdad, schloß Schulen und Basare, ordnete eine strenge Nachrichtenzensur an und ließ gegen hundert oppositionelle Politiker verhaften. Damit war die Krise beigelegt.

ÖL IST DER GROSSE REICHTUM DES IRAK. Unter seinem gelbbraunen Boden liegt ein Zehntel der Weltreserven an Erdöl. Insgesamt sollen die Länder des Nahen Ostens über zwei Drittel aller Oelreserven der Erde verfügen. Gute Beziehungen zu diesen Staaten sind also für Europa und Amerika von großer Bedeutung. Aber hier ist erst vor wenigen Jahren, hauptsächlich durch Vermittlung der Vereinigten Staaten, die entscheidende Wendung eingetreten.

Als nach dem ersten Weltkrieg die ersten reichen Oelquellen bei Mossul und Kirkuk zu sprudeln begannen, wurde die „Iraq Petroleum Company” — die die „Turkish Petroleum” abgelöst hatte — zu je 23,75 Prozent auf Großbritannien, Frankreich, die Niederlande und die USA aufgeteilt. Die restlichen fünf Prozent erhielt der berühmte Milliardär Gulbenkian, der seinerzeit die „Turkish Petroleum” gegründet hatte. Die tatsächlichen Leiter der Firma waren die Engländer.

Die Organisation des Oelgeschäftes schien schlechthin ideal. Die Konzessionen liefen bis zum Jahre 2000, die Regierung war freundlich gesinnt, und im übrigen erhielt der irakische Staat nur 10 Prozent des Gewinns. Erst als sich die politische Situation im Nahen Osten komplizierte und Mossadegh zu seinem selbstmörderischen Schlag gegen die Engländer ausholte, wurde der Anteil des Irak im Februar 1952 auf 50 Prozent erhöht. Man folgte damit dem Beispiel der Amerikaner, die schon lange vorher ihre Oelabkommen mit Venezuela und Saudiarabien auf eine 50:50-Basis gestellt hatten, auf die Basis gleichberechtigter Partnerschaft. LInter den Staaten des Orients steht der Irak heute mit seiner Oelförderung (195 5: 33,7 Millionen Tonnen, das war ein Zehntel der amerikanischen Förderung) nach Kuweit und Saudiarabien an dritter Stelle. Als während des Suezkonflikts die Pipelines von den Syrern an drei Stellen gesprengt wurden, war diese ganze Produktion freilich wertlos. Man plant jetzt den Bau einer neuen Rohrleitung, die über das Gebiet der politisch verläßlicheren Türkei das Mittelmeer erreichen soll.

Gäbe es kein Erdöl, dann könnte der Irak heute seinen Export nur mit seinen Datteln bestreiten. Irak liefert neben Erdöl nämlich auch rund 80 Prozent aller Dąptelejtporte dęi Yįjelj- Das Land verfügt über 30 Millionen Dattelpalmen, auf denen 350 verschiedene Arten von Datteln wachsen. Auch das Wappen des Irak zeigt eine solche Palme.

WER DEM IRAK HELFEN und mit dieser jungen Nation wirklich Zusammenarbeiten will, muß zunächst einmal seiner Landwirtschaft helfen. Euphrat und Tigris sind die Schicksalsflüsse des „Zweistromlandes”. Man hat gesagt, daß im Irak immer entweder Dürre oder Ueberschwcm- mung herrsche. Im Altertum war das ganz anders. Erstens flössen die beiden Ströme damals enger nebeneinander (Babylon, einst eine Stadt am Euphrat, liegt heute weitab davon in der Wüste) und zweitens waren sie durch unzählige Bewässerungskanäle und Reservoire miteinander verbunden. Die letzten Betreuer dieser kunstvollen Kanäle wurden ausgerottet, als der Mongole Hulagu Khan, der Enkel Dschingis Khans, im Jahre 1258 das glänzende Bagdad eroberte und das letzte Zentrum der arabisch- persischen Kultur vernichtete.

MAN KANfl DEN IRAK NATÜRLICH NICHT VERLASSEN, ohne einen Blick auf Bagdad geworfen zu haben; selbst auf die Gefahr hin, daß dies ein recht enttäuschendes Erlebnis wird. Das heutige Bagdad hat mit der Stadt, die im 8. Jahrhundert vom Kalifen Al Mansur gegründet wurde, nichts mehr gemeinsam. Während all der Jahrhunderte der türkischen Herrschaft war Bagdad nämlich nur ein unbedeutendes Städtchen, ein Ort für Verbannte, gewissermaßen das Sibirien der Türkei. Auch heute ist die Stadt, über der ständig gelbe Staubwolken hängen und wo es im Sommer 40 bis 50 Grad Celsius hat, während die Temperatur im Winter mitunter beträchtlich unter Null sinkt, nicht viel freundlicher. Den Zauber von Tausendundeiner Nacht wird man vergeblich suchen; dafür sieht man viele Autos, viele Tankstellen, Reklametafeln und phantasielose Neubauten. An Harun al Rashid erinnert nur die Rashid Street mit ihren Hotels, Läden und modernistischen Amtsgebäuden. Die Abu Nuwas Street (die meisten Straßenschilder sind arabisch und englisch) ist die Kärntner Straße der Halbmillionenstadt. Am Ufer des schmutzigen Tigris sitzen dort jeden Abend Tausende von Männern auf den Cafeterrassen — nur Männer, denn wie in den meisten mohammedanischen Ländern ist die Frau auch im Irak ein Wesen zweiten Ranges, das sich vorwiegend zu Hause aufzuhalten hat.

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