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Das Reden von der Judenfrage war der erste Schritt zum Mord

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Der Nationalsozialismus gibt bis heute Rätsel auf. Eines davon ist die bis zuletzt vehement betriebene Vernichtung der Juden. Obwohl jeder Eisenbahnwaggon dringend für den Nachschub an die Front benötigt wurde, ließ Adolf Eichmann Hunderttausende ungarische Juden nach Auschwitz verschleppen. Ein Regime untergräbt durch Fortsetzung des Mordens seine eigene Rasis: Um solches zu erklären, muß oft der Irrationalismus herhalten.

Der junge amerikanische Soziologe Jonah Goldhagen, der in Havard studierte, liefert einfache, schlüssige Thesen, weist die Historiker auf vernachlässigte Gesichtspunkte hin und spaltet seit Monaten die deutsche Öffentlichkeit.

Sein Ruch bedeutet einen der beiden schweren Rüffel, welche die Zunft der Historiker in den letzten Monaten erhielt. Der andere kam von Rrigitte Hamann, die bei ihrer Forschung über Hitlers Wiener Jahre jede Menge von Ungenauigkei-ten und Schlamperei aufdeckte (Fl.'R-CHt: 43/1996). Rei Hamann ist man beeindruckt und fasziniert vom detektivischen Gespür und der scharfen Analyse, während Goldhagens Ruch lange vor der deutschen Ausgabe einen Aufschrei provozierte und auf gezieltes Mißverstehen stieß.

Kein Wunder, denn von seiner Analyse ist ein ganzes Volk betroffen. Sie läßt sich nicht mit dem Argument, es handle sich um eine Neuauflage der Kollektivschuldthese, einfach wegwischen.

„Es geht nicht um die Wahrheit von Verallgemeinerungen als solchen, sondern darum, ob man sie verifizieren und belegen kann.” Dies versucht Goldhagen in einem Stil und mit historischem Material, das beunruhigen muß: Der millionenfache Mord fand nicht nur in den Gettos statt und war nicht nur Anliegen einer kleinen politischen „Elite” von Weltanschauungskriegern, sondern stand auf einer guten, breiten Rasis, eben dem deutschen Antisemitismus. „Das Regime und die Täter entwarfen komplexe und manchmal scheinbar widersprüchliche Maßnahmen und Handlungsweisen gegen die Juden, gerade weil sie zwar in Übereinstimmung mit ihren antisemitischen Haßgefühlen handelten, dies aber in politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Zusammenhängen tun mußten.” Eine Kollektivschuld könne es - so Goldhagen - nicht geben, da nur Individuen schuldig werden können. Was einiges für sich hat. Man wird sich also noch länger mit seinen Ansich -ten beschäftigen müssen: Der Antisemitismus ist deutsches Allgemeingut und besitzt Eigenschaften eines „kognitiven Modells”, er ist gleichsam Teil der Identität, durch Jahrhunderte von den Kirchen geprägt, und weil das so ist und der Haß auf das Judentum eine Selbstverständlichkeit war, war es ein leichtes, ihre Vernichtung voranzutreiben. Adolf Hitler hat aus seinen Plänen kein Hehl gemacht und die Vernichtung des Judentums war das Ziel des Nationalsozialismus. Diese Ideologie war die Rasis für das Morden ”und die Richtschnur der Handlungen bis zum Mai 1945 und sie war stärker als die ökonomischen und militärischen Überlegungen. Doch der Nationalsozialismus hat nicht nur gemordet, son -dem seine Opfer gequält, gedemütigt und verhöhnt. Vor dem langen Schatten der Krematorien wird diesem Faktum nach Goldhagen zuwenig Re-deutung beigemessen.

Als Releg für seine Thesen wählt er drei Fallbeispiele: die Polizeibataillone, die „Arbeits”lager und die Todesmärsche. Damit soll gezeigt werden, daß keineswegs ideologisch geschulte und gedrillte Personen bei der Erfüllung der „Vorsehung” zu Ungeheuern mutierten. So zum Reispiel jene

Männer, die in den Polizeibataillonen systematisch an der Vernichtung der Juden in der Sowjetunion beteiligt waren und bei Massenerschießungen von Angesicht zu Angesicht Amateurfotos ihrer Taten „schössen”. Bei seinen Berechnungen kommt Gold-hagen auf einige Zehntausend Beteiligte, die vorher biedere Familienväter waren und nun offenbar nichts da bei fanden, jüdische Kinder per Kopfschuß zu ermorden.

Goldhagen fördert Unvorstellbares zutage, er betreibt Tätergeschichte und setzt sich mit den Beweggründen einer Gruppe auseinander, die bislang in dieser Form noch nicht beleuchtet wurde. Dabei räumt er auch mit der Behauptung auf, daß eine Weigerung, sich an Erschießungen zu beteiligen, lebensgefährliche Konsequenzen gehabt habe. Es bestand sehr wohl die Möglichkeit, Nein zu sagen, aber die wenigsten taten es, obwohl sie nach ihrer „Arbeit” mit Blut und Gehirnteilen bespritzt waren, wie jedenfalls zumindest die Aktivisten der Polizeibataillone.

Für die Exekutionen gab es immer genügend Freiwillige. Das Nein blieb eine seltene Ausnahme, denn, so Goldhagen, die Vernichtung des Judentums war allgemeines Übereinkommen. Dabei schließt er selbst kirchliche Widerstandskämpfer wie Martin Niemöller oder Pastor Heinrich Grüber ein.

Während im Falle der Vernichtung „lebensunwerten” Lebens der breite kirchliche Protest Wirkung zeigte und das Vernichtungsprogramm gestoppt oder unter anderer Bezeichnung im geheimen weitergeführt wurde, finden sich keine ähnlichen Aktionen zum Schutz der Juden. Kein Wunder, meint er, da es doch so etwas wie eine „Judenfrage” gegeben habe, die nun gelöst wurde.

Pastor Heinrich Grüber etwa, der 1940 verhaftet wurde, vertrat Ansichten, die jenen der Nazis sehr ähnlich waren: Es gehe darum, sich nicht durch Gefühle von Sympathie oder

Antipathie leiten zu lassen, „sondern vielmehr mit anderen Menschen guten Willens zusammenzuarbeiten, um die Emigration der Juden in jene Länder zu fördern, in denen diese s Menschen benötigt werden”. Wenn eine Gruppe zu einer „Frage” stigmatisiert, reduziert und schematisiert wird, ist der Schritt zur Eliminierung unter den geeigneten politischen Bahmenbedingungen tatsächlich nur noch eine Frage von Millimetern.

Trotz der expliziten Verneinung der Kollektivschuldthese unterlaufen Goldhagen jedoch Verallgemeinerungen genau jener Art, die gerade angesichts des scharfen Angriffs nicht akzeptiert werden können: „Als die Deutschen bereits die Mehrheit der deutschen Juden aus dem Land gejagt oder deportiert hatten ...” (die Deutschen? Oder eben doch die Nazis?), oder: „Alle wußten, daß diesen jüdischen Männern ... Schreckliches bevorstand”, um nur zwei Beispiele zu nennen. In diesen Fällen sind es eben nur Millimeter vom „kognitiven Modell” zur unzulässigen Verallgemeinerung, mit der Goldhagen es seinen Kritikern zu leicht macht.

Österreichische Leserinnen und Leser können sich beim Lesen in einer falschen Sicherheit wiegen, denn Österreich kommt nur als Schauplatz der massenhaften Demütigungen im November 1938 vor.

Das von Goldhagen ausgewertete Material zeigt, daß über 50 Jahre danach noch bei weitem nicht alle Aspekte der Greuel untersucht wurden, am wenigsten wohl die Psychologie der Täter. Und er ist beklemmend aktuell, wenn er schreibt: „Nicht der Antisemitismus selber nimmt zu und ab; es sind vielmehr sei * ne Ausdrucksformen. Wenn also der Antisemitismus zu irgendeinem Zeitpunkt in einer bestimmten historischen Periode weit verbreitet ist, dann ist dies eigentlich ein Hinweis auf seine, wenn auch nur latente Existenz während der ganzen Epoche.”

Daß der mörderische Antisemitismus nicht nur eine deutsche Konstante ist, sondern bei vielen Völkern nachgewiesen werden kann, rechtfertigt zwar einen weiteren Verallgemeinerungs-Vorwurf gegen Goldhagen, ist aber in der Sache kein Trost.

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