6546740-1947_19_09.jpg
Digital In Arbeit

Das Schicksal der Symphonie

Werbung
Werbung
Werbung

Auf keinem anderen Gebiet der Musik ist der Mangel an bedeutenden schöpferischen Persönlichkeiten während der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart so deutlich zu spüren wie im Bereich der Symphonie. Alle übrigen Gattungen konnten erneuert und oft in eigenartiger Weise weitergeführt werden; nur die Symphonie hat seit Brahms und Bruckner keinen allgemein anerkannten und gültigen Meister aufzuweisen. Zwar werden bei uns und im Ausland nach wie vor Symphonien geschrieben, aber es scheint wenig wahrscheinlich, daß die Namen ihrer Komponisten einmal neben oder im Gefolge der großen Meister genannt werden. Der Grund ist bestimmt nicht der, daß sie die Form gesprengt oder gar zerstört hätten. (Das haben die Zeitgenossen fast von jedem der großen Meister behauptet. Da die Musikästhetik nur aus bereits vorhandenen Werken ihre Formeln und Regeln ableitet, sind Einwände formaler Natur gegen ein neues Werk nicht stichhaltig und mögen daher außer Betracht bleiben.) Auch die „böse Zeit“ und die entwicklungsgeschichtliche Situation können' für diesen Mangel nicht verantwortlich gemacht werden. Erfindung, Formkraft, technisches Können und Klangsinn fehlen bei vielen modernen Komponisten nicht. Aber — so unentbehrlich diese Dinge sind — nicht sie, sondern die Eigenart und der Rang der Persönlichkeit bestimmen den Wert iines Kunstwerks, insbesondere das des Symphonikers.

Denn hier, in der Symphonie, zeigt es sich, ob der Komponist ohne Krücken zu gehen versteht: hier nützt kein handwerkliches Können, und hier gibt es keine außermusikalischen Hilfskonstruktionen, kein Progratkm. Eine geistvoll gelöste Kontra-punktaüfgabe ist ebensowenig eine Symphonie wie eine geniale Improvisation. Dies fühlt der Hörer und ist vom größten Teil der zeitgenössischen Symphonien nicht überzeugt, bleibt kühl. Von den beiden bedeutendsten modernen symphonischen Werken, welche wir in der letzten Zeit hören konnten, gehört das eine mehr zur akademischen, das andere mehr zur programm-musikalischen Richtung. J. N. Davids III. Symphonie verdient unsere Aufmerksamkeit und Achtung nicht nur wegen des bedeutenden kontrapunktischen Könnens, sondern auch wegen der zuchtvollen stilistischen Haltung und dem ehrlichen Ernst ihres Autors. Eine Beschreibung des. Werkes könnte nur an Hand einer genauen Formanalyse gegeben werden. Davon aber hätte der Leser ebensowenig wie der Hörer. Diese Partitur scheint — soweit nach einem ersten und einmaligen Hören geurteilt werden kann — mehr für das Auge als für das Ohr geschrieben. Von den vier Sätzen ist bezeichnenderweise das Adagio der schwädiste, das Scherzo der beste. Im ganzen drängte sich beim Hören das Bild einer Hügellandschaft auf, in der es wohl Steigungen und Erhebungen, aber keine Gipfel gibt. Vergleiche dieses Werkes mit Bach oder Bruckner können sich nur auf das Alleräußerlichste beziehen; wenn schon Vergleiche — dann Josquin Despris!

Das Erlebnis einer Notzeit und ihre geistige Überwindung will Schostako-witschts VII. Symphonie gestalten, die während der Belagerung von Leningrad entstanden ist. Programmatischen Charakter hat vor allem der überdimensionale erste Satz, in welchem, nach einer kurzen Einleitung, ein kurzatmiges Thema, das erst im Forte seine ganze Bösartigkeit enthüllt, in der Art des „Bolero“ von Ravel gesteigert wird: erbarmungslose, alles zermalmende Dampfwalze des schrecklichen Krieges. Den zweiten Satz könnte man überschreiben: „Das Leben geht trotzdem weiter!“ Derbes und unendlich Zartes, Geniales und Triviales stehen unvermittelt nebeneinander. Die beiden letzten Teile bilden eine Einheit; sie „verarbeiten“ nicht nur das Themenmaterial der vorausgegangenen Sätze (das wäre musikalisches Handwerk), sondern sie vergeistigen auch deren Stoff. Die persönliche Note des Autors ist, trotz spürbarer Beeinflussung durch Mahler, nicht zu überhören. Schostako-witschs Themenreichtum scheint unerschöpflich zu sein. Was ihm not tut ist: Konzentration, Auswahl, Zucht. Von der Improvisation bis zum ausgeformten Eigenstil ist ein weiter Weg. Keinem großen Symphoniker wird er erspart. (Der junge Prager Dirigent Rafael Kubelik leitete die Wiener Symphoniker.)

In dem gleichen Konzert, in welchem Hans Swarowsky mit den Symphonikern Davids III. Symphonie aufführte, erklang auch Bruckners Neunte. Sie schließt mit dem Adagio und gilt daher als unvollendet. Aber sie ist es ebensowenig wie Schuberts „Unvollendete“. Der Geist, der diese Werke eingab, wollte nichts Unvollendetes, und je öfter man Bruckners letzte Symphonie hört und sich darein versenkt, um so überzeugender offenbart sie sich nicht nur als Bruckners vollkommenste Schöpfung, sondern als absoluter Höhepunkt der symphonischen Musik. Vollkommen freilich nicht im Sinne von klassisch-klar und abgerundet: Beethoven und Brahms haben nach den Normen der klassischen Ästhetik Vollkommeneres, Bruckner selbst hat Prächtigeres geschaffen. Aber in keinem Werk offenbart sich die Person seines Schöpfers in ihrem Verhältnis zu Gott und Welt so eindringlich und ergreifend. Man folge einmal diesem letzten Adagio Bruckners, wie es, Schritt für Schritt, in immer tiefere Tiefen des eigenen Herzens führt. Glaubt man sich schon im innersten Raum — da tut eine neue Pforte sich auf, und so steigt diese Musik hinab, hinauf, bis sie

„sich zitternd neigt vor jenes Thrones Stufen, den Schweigen hüllt mit brausenden Akkorden, in denen Engel Seinen Namen rufen.“

So stellt die Symphonie nicht nur den Musiker als Künstler, sondern auch als Menschen vor letzte Fragen und Entscheidungen. Und nur wer uns hier etwas zu künden hat, ist ein echter Symphoniker — im Unterschied zum tüchtigen, achtbaren Musiker.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung