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Das Schöne als Idee fixe

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Ein Gang durch die Säle des Petit Palais ist zweifellos eine der erregendsten Promenaden, die man gegenwärtig in Frankreichs Hauptstadt machen kann. Es ist eine Wanderung durch die bewegten Lebensphasen des Poeten und Kunstkritikers Charles Baudelaire, dessen Todestag sich im vergangenen Jahr zum hundertsten Mal jährte. Mit Recht darf sich diese herrliche Ausstellung die „Krönung“ des Baudelaire-Jahres nennen! Pierre Emmanuel, der vor einem halben Jahr in die Academie frangaise gewählte Romancier, hatte als „Generalkommissar der Veranstaltungen“ ein reichhaltiges Programm ausgearbeitet, das zium Teil von den stürmischen Maiereignissen umgeworfen wurde, aber auch so unerwartet interessante Begegnungen wie die mit Charles Meryon, dem von Baudelaire bewunderten Aquafortisten, im Marinemuseum brachte. Die Ausstellung im Petit Palais unter der Schirmherrschaft von Premierminister Couve de Murville und Kultusminister Andre' Malraux ist bewußt hinausgezögert worden, um in erster Linie dem Kunstfreund Baudelaire zu huldigen: vor rund 100 Jahren erschien sein kunstkritisches Werk — das zu seinen Lebzeiten in Zeitschriften verstreut und nur vage bekannt war — als Band II und III des Gesamtwerks im Verlag Michel Levy unter dem Titel „Curiosites esthetiques“ und „L'Art romanti-que“. Wie die Bibliotheque Nationale vor zehn Jahren der ersten Veröffentlichung der ,31umen des Bösen“ gedachte, „einem der wichtigsten Ereignisse in der französischen Literatargeschichte“, so wird mit dieser großen Gegenüberstellung jener“ Kunstwerke, die Baudelaires kriti-: sehen Geist beschäftigt haben, an die Rolle der Salons in seinem Leben und an die Gültigkeit seiner Urteilskraft erinnert.

Mit Dokumenten und den verschiedensten Ausgaben seiner Bücher werden Person und Dichter beschworen. Die größere Attraktion, der sich immer wieder alle Blicke zuwenden, sind todessen die ausgestellten Gemälde — berühmt gewordene wie in Vergessenheit geratene —, aus denen dem Kritiker Baudelaire jedoch ausnahmslos die Fhantasietoraft der Künstler entgegenwehte.

Seitdem 1815 die „Fleurs du mal“ eine neue Epoche lyrischer Dichtung einleiteten, haben sich die nachfolgenden Generationen mit Baudelaire, dem intellektuellen Revolutionär, und dem ästhetischen Triumph, den er über alle Demütigungen hinweggetragen hat, auseinandergesetzt. Frankreich feiert ihn als „den unvergänglichen Poeten, der, lebendiger von Tag zu Tag, einer der sublimsten Leuchittürme bleiben wird, die die Wellt der Kunst, die Welt des Schönen und der Phantasie mit der Universalität ihres Geistes erhellen“. Baudelaire ist als Dichter der Modernität — so bezeichnete er sich selbst — in die Literatur eingegangen. Claude Pichois, Universdtäts-professor in Basel, spannt in seinem Katalogvorwort den Bogen ins Unbegrenzte: „Zu behaupten, daß Baudelaire der Vater der modernen Poesie ist, Ist wenig. Er ist in Wirklichkeit der große „Vermittler“ in der westlichen Literatur, der die Vergangenheit in die Gegenwart integriert hat und der Gegenwart den Weg in die Zukunft weist.“

Die Ausstellung Ist chronologisch geordnet und beginnt mit Familienpapiere, die über Baudelaires Herkunft, die Kinder- und Jugendjahre Auskunft geben (1821 bis 1842). Sein Großvater schrieb sich noch Beaude-laire. An den Vater, der 60jährig die 26jährige Caroline Dufays heiratete und 8 Jahre später starb, erinnert sich der 6 Jahre vorher geborene Charles-Pierre kaum. Alphonse, der um 16 Jahre ältere Halbbruder aus der ersten Ehe seines Vaters, wacht über seine Jugendzeit, denn Caroline Baudelaires Wdtwenzeit ist nicht von langer Dauer. 1828 heiratet sie den Bataillonschef James Aupick, der fast 30 Jahre jünger als ihr erster Ehemann ist. Die zärtlichen Gefühle, mit denen Charles ein Jahr lang seine Mutter überhäuft hat, finden damit ein jähes Ende. Der anfangs gutartige, fleißige Schüler wird zum Sorgenkind, wird vom traditionsreichen Lyzeum Louis-le-Grand verwiesen und besteht das Abitur nur dank der Gefälligkeit seiner Professoren. Er fühlt sich zu keinem Beruf hingezogen. Vor dem ausschweifenden Leben, das er zu führen beginnt, sehen seine Eltern nur eine Rettung: ihn von Paris zu entfernen. Man schickt ihn auf eine Seereise nach Indien, doch Charles macht der Verbannung eigenmächtig ein Ende und ist im Februar 1842 bereits wieder in Paris. Mündig, kann er nun über 70.000 Francs, das väterliche Erbe, verfügen. Mit Entsetzen sieht die Familie, wie es ihm unter den Fingern zerrinnt, und zwingt ihm einen Rechtsbeistand auf. Der gedemütigte junge Dandy wiM seinem Leben ein Ende machten. „Ich töte mich, weil ich nutzlos für die anderen und mir selbst gefährlich bin.“ Doch er lebt weiter, bezieht drei kleine Zimmer im Hotel Pimodan am Quai d'Anjou. An den Wänden hängt die „Hamlet“ Lithographiensuite von Delacroix. Im Boudoir der zweiten Etage halten die „Haschischans“, dem Haschisch frönende Künstler und Dichter, ihre Sitzungen ab, unter ihnen Theophile Gauitier, der berichtet, daß Baudelaire nur selten, und dann nur als Beobachter zugegen war. Baudelaire hat indessen längst seine ersten Erfahrungen mit Rauschgiften hinter sich. Der angehende Dichter lernt Victor Hugo, Balzac und Nadar, den Schriftsteller, Zeichner, Photographen und Luftschiffer, kennen. Sein literarisches Debüt ist anfangs anonym, erst 1845 taucht sein Name in verschiedenen Zeitschriften — „Le Corsaire Satan“, „L'Esprit Publique“, „Le Magazin Litteraire“ — auf.

Im gleichen Jahr berichtet er über die Gemäldeausstellung im Louvre. Dieser erste kumtkritische Versuch erscheint, wie auch alle folgenden, als Broschüre. Baudelaftres bewußtes Binzelgängertum manifestiert sich von Anfang an. Er macht kein Hehl aus seiner rückhaltlosen Bewunderung für Eugene Delacroix, „den originellsten Maler der alten wie der modernen Zeit“, den Maler „mit dem größten Suggestionsvermögen“. Er ist der einzige, dem „La Fontaine de Jouvence“, der „Jungbrunnen“, von William Haussoulli er gefällt. „Da ist absolute Malerei, die ausruft: ich will, ich will schön sein?' Zum ersten Mal seit 1845 wird dieses Gemälde aus dem Besitz des englischen Sammlers Graham Reynolds wieder öffentlich gezeigt.

Auch der Salon von 1846 öffnet in einer mit Entrüstung geladenen Atmosphäre seine Tore; über 2000 Ablehnungen müssen hingenommen werden. Wenn Baudelaire im Jahr davor mehr oder weniger ausführlich ein Werk nach dem anderen beschrieben hatte — „unsere Methode besteht einfach darin, unsere Arbeit nach Historienbildern, Porträts, Genre- und Landschaftsbildern, nach Skulpturen, Gravierungen und Zeichnungen zu orientieren und die Künstler nach der öffentlichen Wertschätzung einzustufen“ —, so wählt er diesmal ein anderes Vorgehen. Er liefert keine Serie kritischer Bemerkungen, sondern neben der eigentlichen Kritik Betrachtungen über die zeitgenössische Kunst, über die Schönheit des modernen Lebens, dlie Farben, über Ingres und Delacroix. Bei alledem bleibt er und sieht er sich noch als zielloser Flaneur, erst allmählich nehmen seine Gedanken zur Kunst die zusammenhängende Form einer Philosophie an. In Ingres und Delacroix findet er die Bestätigung für die Vielseitigkeit der modernen romantischen Kunst. „Die Romanitilk ist die neueste Art, Schönheit auszudrücken. Der größte Künstler vereint Naivität mit möglichst viel Romantik... Diese Romantik liegt weder in den gewählten Themen noch in der exakten Wiedergabe, sondern ist eine Sache des Empfindens ... Wer kein Temperament hat, Ist nicht wert, zu malen.“ Im selben-Jah¥ flöde14m KläsÄscheh Museum des Bazars Bonne Nouvelle eine Gemäldeschau statt, deren Attraktionen zehn Bilder von Jacques-Louis David und dreizehn von Ingres sind. Unter Davids Gemälden erregt besonders der „Marat“ Baudelaires Aufmerksamkeit, dieses kurz nach der Ermordung Marats durch Charlotte Corday • gemalte Meisterwerk, das auch in der Ausstellung gezeigt wird. Baudelaires begeisterter Kommentar, der mit den Worten „Le drame est lä, vivant dans sa toute lamentable horreur...“ beginnt, ist schwerlich jemals übertroffen worden. In Ingres Malerei sieht er „strenge Lektionen der revolutionären Kunst, die fredwillig auf Charme und ungesundes Ragout verzichtet, vor allem aus dem Gedanken und der Seele lebt und bitter und despotisch wie die Revolution ist, aus der sie geboren wurde“.

Baudelaire hat nun seinen Stil gefunden, „Ich glaube aufrichtig, daß wahre Kritik die ist, die amüsant und poetisch ist, und nicht jene, die kalt und algebraisch unter dem Vorwand, alles erklären zu wollen, weder Haß noch Liebe kennt und sich freiwillig jedes Temperament abspricht.“

Die Weltausstellung von 1855, über die er nach einem kurzen Besuch von Honfleur aus berichtet, gibt ihm aufs neue Gelegenheit, seine These vom „Schönen, das immer bizarr, immer beunruhigend sein muß“, anzuwenden. Noch immer sieht er allein in Ingres, dem allerdings die Phantasie, diese Königin aller Fähigkeiten, fehle, und in Delacroix, den er seit zehn Jahren verteidigt, die wagemutige französische Malerei verkörpert. „Für Delacroix ist die Natur ein gewaltiges Nachschlagewerk, dessen Seiten er ohne Unterlaß wendet und betrachtet. Skeptisch und aristokratisch, sind ihm Leidenschaft und Surnaturalismus' nur durch den auferlegten Umgang mit dem Traum bekannt... Niemand hat nach Shakespeare so wie Delacroix Drama und Erträumtes zu einer mysteriösen Einheit zu verschmelzen vermocht.“ Delacroix antwortet verwirrt: „Sie behandeln mich, wie man einen .großen Toten' behandelt; sie lassen mich erröten und bereiten mir gleichzeitig Freude: so sind wir geschaffen.“

Seit mehr als zehn Jahren wartet Baudelaire bereits auf die Buchausgabe seiner bisher in Zeitschriften erschienenen Gedichte. Mehrfach hat er ihr Erscheinen angekündigt, anfangs unter dem Titel „Les Lesfoien-nes“, 1848 als „Des Limibes“. Als sich ein anderer diesen Titel sichert, entscheidet Baudeialire sich für „Des Fleurs du mal“. 1856 endlich kann er mit den Verlegern Foulet-Malassis und de Broise einen Vertrag abschließen, und im Juni 1857 liegt der Band vor. Kurz darauf müssen sich alle drei vor Gericht wegen Verletzung der öffentlichen Moral verantworten. Das Urteil (das zwei Jahre später aufgehoben wird) lautet auf Geldstrafen und die Konfiskation von sechs Gedichten.

Die Ausstellung führt uns die Inspi-raitorinnen der „Blumen des Bösen“ vor: Jeanne Durval, in die sich Baudelaire als kaum Zwanzigjähriger verliebt hatte, ein Mischling, deren Lebensdaten und wahrer Name unbekannt geblieben sind. Als „Mutter der Erinnerungen“, „Geliebte der Geliebten“ lebt sie in seinen Gedichten. Marie Daubrun, „die Schöne mit den goldenen Haaren“ inspirierte ihn zu „Chant d'automne“, „A une Madonne“. An Madame Sabatier, Freundin von Dichtern und Künstlern die sie „die Präsidentin“ nannten, hatte Baudelaire anonym Gedichte geschickt: „Confession“, „Que diras-tu ce soir?“ „Le Flam-beau vivant“. Sie entdeckte sie in der Buchausgabe und gab sich Baudelaire wenige Tage vor seinem Prozeß hin, ohne ahnen zu können, daß ihr Poet die platonische Liebe gemeint hatte.

In die Zeit der Revolution von 1848 fiel Baudelaires Entdeckung Edgar Allan Poes. Er begann ihn zu übersetzen und sich dessen Theorie von der Intellektuallsierung der Dichtung zu eigen zu machen. „A Philo-sophy of composition“ hat er vollständig, „The poetic Prinziple“ teilweise übertragen. Drei Jahre vor seinem Tod gesteht' Baudelaire:; „Wissen Sie, warum ich -so geduldig Poe übersetzt habe? Weil er miir ähnelte. Als ich das erste Mal ein Buch von ihm aufschlug, fand ich — mit Schrecken und Entzücken — nicht nur die von mir geträumten Themen, sondern von mir gedachte Sätze, die er 20 Jahre vorher niedergeschrieben hatte.“ Er begann seine Bemühungen um die Ergründung Poes allerdings erst nach dessen Tod. Delacroix, Poe und Richard Wagner waren zweifellos die drei Künstler, die Baudelaire ahne Einschränkung bewunderte. Als er 1860 den „Tannhäuser“ hört, dem die französische Musikkritik absolut nichts abgewinnen kann, vermerkt er: „Diese Musik ist eine der großen Freuden meines Lebens. Es ist wohl 15 Jahre her, daß ich kein ähnliches Davongetragenwerden mehr gespürt habe.“ Und an Wagner schireibt er: „Mir schien, daß diese Musik die meine war, und ich erkannte sie, wie jeder Mensch jene Dinge erkennt, die zu lieben sein Schicksal ist.“

1861 bewirbt Baudelaire sich um einen Sessel in der Acadeinie fran-caise und skizziert sein Werk: „Ein Gedichtbuch, das mehr Aufsehen erregte als es beabsichtigte, ein Ubersetzungswerk, das einen in Frankreich unibekannten großen Dichter bekannt .gemacht hat, eine strenge und sorgfältige Abhandlung über Genuß und Gefahr der Rauschgifte („Les Paradis artificiels“), schließlich eine große Anzahl Broschüren und Artikel über die wichtigsten Künstler und Dichter meiner Zeit.“ Er zieht seine Kandidatur bald zurück, als er die Utopie seines Verlangens erkennt. Besonders Sainte-Beuve hatte ihm abgeraten, Sainte-Beuve, der ihn kurz vorher den Lesern des „Constitutionner' folgendermaßen präsentiert hatte: „Herrn Baudelaire ist es gelungen, sich auf der Spitze einer als unbewohnbar geltenden Landzunge und über die Grenzen des bekannten Romantis-mus hinaus einen bizarren Kiosk zu errichten, der, reich verziert und gewaltig verwüstet, dennoch kokett und mysteriös ist; in dem man Edgar Poe liest, exquisite Sonette vorträgt, sich mit Haschisch berauscht, um anschließend darüber zu räsonieren, in dem man Opium und tausend gräßliche Drogen aus vollendeten. Porzellantassen nimmt.“

Baudelaire war ein chronischer Schuidenmacher. Sein Notizbuch aus den Jahren 1861 bis 1865 isit ein endloses Repertoire gescheiterter Unternehmungen und ständiger finanzieller Misere. Geldschulden, Briefschulden, versprochene und nicht gemachte Besuche, nie eingehaltene Termine für die Beendigung seiner literarisehen Arbeiten vergifteten sein Leben. Um seinen Gläubigern zu entgehen, flieht er 1864 nach Brüssel. Mit Vorträgen, „lecons publiques“, wie er sie nennt, hofft er, seine verfahrene Finanzlage aufzubessern, vor allem aber drei seiner Bücher denijVegLacEQJÄ: zu verkaufen. Den Mißerfolg dieses Projekts schiebt er auf die Ränke der „Hugo-Clique“ (Victor Hugo befindet sich im belgischen Exil). Baudelaire spricht über Delacroix, Gautier, über die Rauschgifte, und muß zusehen, wie sich die Bänke allmählich leeren. Sein Honorar beträgt ein Fünftel der erhofften 500 Francs. Er, der Anti-belgier, beschließt daraufhin, ein Buch über Belgien zu schreiben — „Pauvre Belgique“ — um damit einen Teil seiner Ausgaben zu decken. So weiden aus den geplanten wenigen Wochen zwei Jahre, in denen er jedoch nicht, wie angekündigt, „sorgfältig“ das Land bereist, sondern von Ort zu Ort hetzt um „dieses verfluchte Buch“ zu beenden. In Namur werfen ihn Nervenschmerzen, über die er schon lange klagt, zu Boden, bald darauf ein zweites Mal in Brüssel. Seine Mutter eilt herbei, holt ihn nach Paris zurück. Bin Jahr lebt er noch, halbseitig gelähmt und sprachgestört, doch nicht ganz vergessen. Täglich sieht, man seine Mutter am Bett dieses Sohnes, dessen Natur und Genie ihr unverständlich geblieben waren. „Wenn Charles sich von seinem Stiefvater hätte leiten lassen, wäre sein Name nicht in die Literatur ..eingegangen, das, ist wahr, ,doch wir drei wären um soviel glücklicher gewesen“, klagt sie nach seinem Tod. Im letzten Saal sehen wir jene Gemälde vereint, die Baudelaire geliebt hat, alle überstrahlen „La Mort de Sardanapale“ von Delacroix. „Wie oft haben sich meine Träume mit den herrlichen Formen gefüllt, die sich in diesem großen Bild, das selbst wunderbar wie ein Traum ist, bewegen.“ Wer solche Bilder lieben konnte, kann nicht nur unglücklich gewesen sein!

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