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Das Tagebuch Josef Redlichs

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„Schicksalsjahre Oesterreichs 1908 bis 1919“ — 1. Band (1908 bis 1914). Bearbeitet von Fritz Fellner, Verlag Hermann Böhlaus Nachf., Graz-Köln. 296 Seiten. Preis 110 S.

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„Schicksalsjahre Oesterreichs 1908 bis 1919“ — 1. Band (1908 bis 1914). Bearbeitet von Fritz Fellner, Verlag Hermann Böhlaus Nachf., Graz-Köln. 296 Seiten. Preis 110 S.

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Die österreichische politische Literatur über die ereignisschwere Zeit der ersten zwei Jahrzehnte . dieses Jahrhunderts hat durch die vorliegende Publikation eine ansehnliche Bereicherung erfahren. Das Tagebuch eines Politikers oder Staats- mannes wird, wenn es überhaupt diesen Namen verdient, in der Regel eine wichtige Geschichts- . quelle sein; freilich wird ihre Benützung mit dem Bedacht zu geschehen haben, daß die Aufzeichnung unmittelbar aus dem Tage, vielleicht aus dem flüchtigen Vergehen einer bewegten Stunde ge- ” boren ist. Sie ist in besonderem Maße der persönlichen Art des Autors, seiner Stimmung und seelischen, vielleicht sogar seiner physischen Verfassung unterworfen, was beim Niederschreiben zu gelten schien, gilt vielleicht schon morgen nicht mehr. Das Subjektive eines politischen Diariums wird um so mehr hervortreten, wenn der Verfasser ein so beweglicher Akteur war wie Josef Redlich.

Wer kannte im alten österreichischen Parlament den Professor Dr. Redlich nicht! Ihn, der 1907 von seiner mährischen Heimat in das Abgeordnetenhaus entsandt, ein liberaler Demokrat guten ■ Schlages, sich der liberalen deutschen Fortschrittspartei angeschlossen hatte, dann Politik auf eigene Faust machte, Mann der Gelehrtenstube und Mann des Salons, noch einem Zeitalter verhaftet, in . dem Politik als eine Funktion der gebildeten Gesellschaft geübt wurde und das Tischgespräch zwischen Politikern und Staatsmännern der verschiedensten nationalen und weltanschaulichen Herkunft zur Fasson des politischen Gedankenaustausches, zur unentbehrlichen Methode der friedlichen Auseinandersetzung über staatspolitische Probleme gehörte und die Staatskunst als eine Art Schachspiel gepflegt wurde. Der Typus des Parlamentariers von der Art Redlichs lebte stellenweise noch bis in die erste Periode des allgemeinen , Wahlrechtes hinüber. Heute ist er ausgestorben.

Josef Redlich hatte sich als Verwaltungsrechtler und Spezialist für englische Kommunalverfassung und Gemeindeautonomie schon vor seinem Eintritt in das öffentliche Leben einen Namen gemacht. Ein Charakter von ausgeprägtem Eigenwillen ging er als Parlamentarier seine eigenen Wege. Wie stark er der politischen Schablone widerstrebte, zeigte drastisch sein Verhalten gegenüber seiner Partei. Bald nach seiner ersten Umschau in seiner Umgebung konnte er, gewiß nicht zum Antisemiten geboren, niederschreiben, daß er „von dem Judenliberalismus ä la Hock" (des damaligen Wortführers des kulturkämpferischen Freisinns) immer mehr abrücke; noch böser verstieß er gegen Brauch und Sitte seiner Partei, wenn er das Gebaren der „jüdisch-pseudoliberalen Clique und Presse" tadelte (S. 77) und von den „Giftpfeilen der Wiener Zeitungswelt" sagte, fast jede Nummer sei „eine gefüllte Kasse voll von Ignoranz läppischen KirchturmpatÄotismus, Mangel an Weltkenntnis und vor allem voll von Fehlern, die gewissen Leuten zu eigen sind, die aus den mährischen und galizischen Ghettos nach Wien kamen … Man kann sich denken, wie beschaffen diese Produkte sind, wenn man die Produzenten kennt. Zehn Jahre lang hat Karl Lueger mit seiner ursprünglichen Volkskraft, die Hunderttausende von Wienern, die nur haltlos und unwissend, aber nicht bösartig und verlogen sind wie gewisse Pressegrößen, gegen diese Lügenfabrik geeinigt" (S. 78).

Ueber Redlichs Stellung zur Liberalen Partei vermerkt Fritz Fellner, der sorgsame Bearbeiter des handschriftlichen Tagebuchmaterials, Redlich habe bald „mehr Kontakt mit den führenden christlichsozialen Abgeordneten als mit den Führern der deutschliberalen Gruppen gehabt". In der Tat bestanden rege Beziehungen Redlichs zu Albert Geß- :mann und Weiskirchner, ohne daß daraus eine Freundschaft erwachsen wäre. Gegen den Verächter der Parteidisziplin vorzugehen, hielten die Autoritäten der Deutschen Fortschrittspartei zweifellos nicht am Platze. Man raunte ja doch nicht selten in den Couloirs, Redlich sei ein „kommender Mann”. Fast bei jeder Umbildung der Regierung ging von ihm die Rede. Daß er nie kam, sondern erst im Oktober 1918 zur Ministerschaft in der Achttageregierung Lammasch geholt wurde, an das Sterbebett des alten Reiches, war eines der Details persönlicher Tragik, die den Abschluß der historischen Katastrophe umschattete. Mit dem November 1918 verfallen denn auch, wie Fritz Fellner vermerkt, „nach dem Zusammenbruch der Monarchie Redlichs Tagebuchaufzeichnungen". Wiederholt, noch bis zu seinem 1936 erfolgten Tod, setzte Redlich zu einer Wiederaufnahme seines Diariums an, immer wieder brach er bald den Versuch ab, als hätte der Untergang des Reiches, dem sein Wille und der Traum seiner glücklichsten Zeit angehörte, auch seine Gestaltungskraft behindert Doch darf man sich des Erhaltengebliebenen freuen.

Mit dem ersten ihrer zwei Bände umfaßt die musterhafte Edition Fritz Fellners die Aufzeichnungen Redlichs von anfangs November 1908 bis 9. Dezember 1914, beginnend mit dem Fortissimo der Aehrenthalschen Politik, dem Austrag der Annexion. Redlich, der Fünfundvierzigjährige, ist gerade rechtgekommen, um sich mit seinem ganzen Temperament zu Aehrenthal und seinem Unternehmen zu bekennen. Er ist Anhänger auch eines bewaffneten Vorgehens gegen Serbien, das ihm bei der gegebenen internationalen Lage die geringeren Risken zu enthalten schien, als die tatenlose Hinnahme der serbischen Herausforderungen durch einen Staat, der noch die Verpflichtung einer Großmacht gegenüber der Ordnung Europas hatte. Am 24. März 1909 verzeichnet Redlich: „Ich bin von dem Ausbruch des Krieges in längstens acht Tagen überzeugt." Doch fünf Tage später vermerkt er: „Gestern ist der Friede ,ausgebrochen.' Große Freude in Wien. Ich, bin nicht so begeistert.“ Gegen die Regierungsweise Kaiser Franz Josephs regt sich seine kritische Natur, am 1. Jänner 1910 findet er über den Kaiser, der das chauvinistische Begehren der magyarischen Unabhängigkeitspartei zurückweist, aber zu dem schönen Wort: „Hervorleuchtet unseres alten Herrn mächtige Kraft und Charakterstärke. In seinem Alter entwickelt er wahre Herrschergröße." Ein Urteil, dem widersprechende Niederschriften folgen. Aehrenthals Zeit ist Redlichs große Zeit. Er bosselt mit an der hohen Politik. Am 16. März 1910 verzeichnet er: „Gestern gab ich mein großes politisches Diner mit größtem Erfolg.“ Man kann die Genugtuung des Gastgebers verstehen: Seiner Einladung waren, obwohl er nur ein einfacher Abgeordneter war, der Minister des Aeußeren Graf Aehrenthal, der österreichische Ministerpräsident Baron Bienerth mit einer Reihe von Kabinettsmit- gliedem und eine sehr ansehnliche Zahl vornehmster Spitzen des österreichischen Parteilebens, angefangen von der rechten Seite des Parlaments, dem Polenklub, bis hinüber zur Linken, den verschiedenen Fraktionen des deutschen Nationalverbandes und den Christlichsozialen, gefolgt. „Zu meinem Diner", vermerkt Redlich am nächsten Tage, „wird mir vielfach gratuliert." Seine Absicht war zweifellos gewesen, dem Verhältnis Aehrenthals zu den Führern der österreichischen Mehrheitsparteien zu dienen. An Aehrenthal knüpften sich seine größten Hoffnungen. Zu keinem seiner bedeutenden Zeitgenossen fand er ein so warmes Verhältnis, wie zu diesem Staatsmann, dem er bei seinem Tode in seinem Tagebuch einen Nachruf widmet, der sowohl der politischen Aussage nach wie nach seiner Gemütstiefe die schönste Passage im ersten Band des „Tagebuches" bildet. Am 18. Februar 1912 — am Abend zuvor war Aehrenthal verschieden — schrieb er über Aehrenthal: „Er war das Beste, was ich in diesen sechs Jahren politischen Lebens erlebt und für mich gewonnen habe. Er war der Letzte, der die großen Zeiten des Altösterreichertums in sich verkörperte. Den Glauben an die Dynastie und ihre providen- tielle Sendung in diesem Reiche, den Glauben an die ,Monarchie', in der sich für ihn die höchste Lebensaufgabe darstellt… Mit ihm ist der letzte bedeutende Mann gestorben, der Franz Josephs Epoche auszeichnet… Von diesem Altösterreicher- tum muß eine Brücke zu dem neuen Oesterreicher- tum der nahen Zukunft geschlagen werden… Ich habe an ihm viel verloren", klagt der Tagebuchschreiber und es ist, wenn man seine Aufzeichnungen der Folgezeit liest, als wäre mit diesem Verluste etwas in ihm zerbrochen, das ihm bisher Rückhalt und Zuversicht geboten hätte. Die Umwelt verdunkelt sich für ihn in einem zunehmenden Pessimismus. Er wird fortan faSt keinem seiner Zeitgenossen öffentlichen Ranges gerecht. Sein Urteil wird merklich bitter und beeinflußbarer; Getratsch von der Bedientenstiege und giftiges Gerede kann zu ihm herangetragen werden, wenn es auch nach einiger Zeit wieder eine andere Wendung erhält. Den Thronfolger Franz Ferdinand hat er nie aus der Nähe kennengelernt, aber vom Hörensagen aus traut er ihm alles Schlimme zu. Als dann aber nach der Bluttat von Sarajewo ein Wiener liberales Blatt den Erfolg des mörderischen Attentates als „glückliche Fügung" bezeichnet, widerspricht Redlich: Denn Franz Ferdinand würde „das durch Schwäche und Planlosigkeit unhaltbar gewordene Regime auf jeden Fall beseitigt und eine wahre Existenzerprobung Oesterreich-Ungarns nach innen und außen durchgeführt haben". Aber noch in der Eintragung desselben Tages wird dieses .Urteil wieder umgestoßen, als ob der Schreibende selbst auffallend hätte zeigen wollen, daß Tagebuchaufzeichnungen um so sorgfältiger nach Urteilswerten geprüft werden müssen, je mehr ihre Entstehung von der Unruhe stürmischer Ereignisse und seelischer Bewegungen umwittert war. Aber zwischendurch blitzen oft und oft in Redlichs Tagebuch wichtige sachliche Aussagen, die Meinung eines vaterlandsliebenden Mannes auf, der auch durch die Ungeschminktheit seiner Niederschrift die Grenzen menschlichen eilig vorüberhuschenden Erkennens aufzeigen will.

Mit diesem Vorhalt wird der Leser aus dem Tagebuch mehrfachen Gewinn ziehen. Die saubere Bearbeitung macht auf eine verheißungsvolle junge Kraft österreichischer Geschichtsforschung aufmerksam.

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