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Das tagliche Brot im Mulleimer

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EIN BUTTERBROT IM RINNSAL, gab den Anstoß zu diesen Zeilen, und was hier gesagt wird, sind harte Worte, über die wir uns alle maßlos schämen müssen. Der Endeffekt sieht bei weitem trauriger aus, als das gefundene Butterbrot im Rinnsal. Denn während heute rund zwei Drittel der Weltbevölkerung unterernährt sind, wachsen die Hügel der Ablagerungsstätten am Rande von Wien um 800.000 Kubikmeter. Voriges Jahr war es ein Berg von 910.000 Kubikmeter, um 15 Prozent mehr als im Jahre 1960 und doppelt soviel wie 1945.

Vor der überhandnehmenden Verschwendung warnte in einer seiner Reden der Bürgermeister, was die Wiener, aber auch die Bewohner der anderen Landeshauptstädte, der Dörfer und Orte nicht hindert, weiter Brot und sogar Schnitzel in den Mülleimer zu werfen und dadurch — indirekt — die Rattenplage zu vergrößern. Die 195.700 je neunzig Liter fassenden Eimer Wiens, die ein- oder zweimal wöchentlich entleert werden, quellen langsam über. Die Gemeinde Wien hat in einem Zehnjahresplan festgelegt, sie durch größere, 110 Liter fassende, Tonnen zu ersetzen. 3500 neue Colo-niakübel, die durch Lift zur Müllschraube des Mistautos gehoben werden, hat man bereits in Betrieb gestellt. Die 43.400 kleinen, je 35 Liter aufnehmenden Mülleimer in den Klein-und Gartensiedlungen werden weiterhin die Abfälle der Siedler „sammeln“.

111 Müllwagen schlucken die Abfälle der Millionenstadt. Noch vor vier Jahren genügten hierfür bloß 70 Autos. Jedes „verdaut“ zehn Kubikmeter Kehricht. Täglich transportieren Fahrzeugkolonnen 3000 Kubikmeter Unrat vor die Tore der Stadt, wo er nach strengen sanitären Vorschriften von Planierraupen eingeebnet und mit einer pflanzentragenden Humusschicht überzogen wird.

DIE TROSTLOSEN ZEITEN DER ARBEITSLOSIGKEIT, haben wir sie schon vergessen? Haben wir schon die Kriegs- und die Nachkriegsjahre vergessen, in welchen wir uns in Kolonnen vor den Bäckereien anstellten, um unser Brot zu erhalten. Entsinnen wir uns nicht mehr, welche Unsummen wir mitunter auf den Tisch legten, um für uns und unsere Nächsten Brot im Schwarzhandel zu erstehen? Vor rund siebzehn Jahren stritten wir noch um das nicht besonders gutschmeckende Maisbrot, und heute? Es scheint, daß bei den meisten Menschen die Erinnerung an diese Zeit erloschen ist, denn Brot, das Grundnahrungsmittel, ist schon längst wieder — zumindest für uns — zu einer Selbstverständlichkeit geworden, zu etwas, das man eigentlich nur noch zu Wurst, Käse, Fleisch usw. ißt.

EIN ABGEMAGERTES, BETTELNDES KIND war auf Plakaten noch vor kurzem in allen Milchgeschäften zu sehen, erinnern Sie sich noch? Es war nicht unser Kind! Denn Gott sei Dank gehören unsere Kinder nicht zu jenen zahllosen Geschöpfen in den sogenannten „unterentwickelten“ Ländern, an deren Wiege bereits der Hungertod als Pate steht. Aber es gibt viele Kinder, die ihr dickbelegtes Butterbrot, ihr Jausenbrot, ungesehen in den Abfallkübel der Schule stopfen, nur weil so manche Eltern es vergessen haben oder es nicht fertigbrachten, den Kindern den wahren Wert der Worte des Vaterunsers „Gib uns heute unser tägliches Brot“ zu lehren.

„Was, schon wieder Wurst? Mag ich nicht!“ meint der kleine Franzi, nachdem er sein Jausenbrot besichtigt hat, das ihm von seiner Mutter liebevoll verpackt in die Schultasche gesteckt wurde, und wirft es in den nächsten Papierkorb oder Abfalleimer, wenn er es nicht sogar auf dem Schulhof liegen läßt. Leider ist das hier kein Einzelfall, denn gleich dem kleinen Franzi tun dies tausende Kinder.

VORWIEGEND SCHULKINDER sind es, die die ohnedies schon überfüllten Abfallkübel mit Jausenbrot füllen, dies teilte einer der zuständigen Magistratsbeamten mit. Allerdings wollen wir gar nicht in Erfahrung bringen, wie viele belegte Brote in den Laden von Schreib- oder Arbeitstischen, in den Büros oder Werkshallen vertrocknen.

Es sollte uns erfreulich ftimmen, daß es uns heute, 17 Jahre nach dem schrecklichen Krieg, schon wieder gutgeht. Aber geht es uns, bedenkt man die allgemeine Verschwendungssucht, nicht schon zu gut?

Wäre es nicht an der Zeit, den Kindern klarzumachen, was ein Stückchen Brot für viele Menschen doch bedeutet. Durch das in Wien fortgeworfene Brot könnten rund 500 Menschen vom Hungertod bewahrt werden. Das den Kindern beizubringen ist Aufgabe der Eltern, eine Frage der Erziehung. Es wäre vollkommen fehl am Platz, wollte man dieses Übel auf die eine oder andere öffentliche Stelle abwälzen.

Was. sagen die Lehrer zu dieser traurigen Tatsache? Sie finden, daß hier alle Ermahnungen und Bestrafungen bisher ohne Erfolg geblieben seien. Der Grund dafür? Der liegt einzig und allein in der Unvernunft vieler Mütter verankert. Denn viele Kinder fürchten sich vor der Strafe, die ihnen daheim auferlegt wird* wenn sie einmal ihr Jausenbio't wieder nach Hause brächten. Gerade hier sollte nicht verabsäumt werden zu sagen: „Keine Angst, Kinder verhungern nicht so schnell, denn wenn die Kleinen Hunger verspüren, dann melden sie sich schon selbst!“

„NOT IST UNGEHEUERLICH -LAGE VERZWEIFELT - wenn keine sofortigen Maßnahmen getroffen werden, brauchen wir nur mehr Särge!“ Vor kaum einem Jahr sandte der Weihbischof von Leopoldville dieses Telegramm, diesen verzweifelten Notruf, in die freie Welt, der uns, die wir vor vollen Schüsseln sitzen, in Erinnerung brachte, daß es noch Menschen gibt, die Hunger leiden.

Nun sicherlich, vom Brot allein kann man nicht leben. Brot ist das Symbol für die Nahrung. Daher soll gar nicht davon gesprochen werden, von jenen zahlreichen anderen Lebensmitteln, wie Obst und Wurststücke, halb gefüllte Konservendosen usw., die Tag für Tag von der Müllabfuhr an den Stadtrand gebracht werden, um dort für Planierungszwecke Verwendung zu finden.

Auch nicht von jenen Gebrauchsgegenständen wollen wir sprechen, wie kaum getragene Schuhe, Kleider oder Hüte, die wir uns vor zehn oder fünfzehn Jahren nicht einmal hätten leisten können, die wir aber heute achtlos fortwerfen, weil wir keine Verwendung mehr dafür haben und uns genieren, sie jemandem, der ärmer ist als wir, anzubieten. Ja, dort, wo die großen Kippwagen der städtischen Müllabfuhr sich von ihrer Last befreien, dort läßt sich wohl das traurigste Lied des Wirtschaftswunders singen. Ein Lied, das uns allen klar und deutlich vor Augen hält, wie tief wir in unserer Achtlosigkeit schon gesunken sind.

Besonders nach den Feiertagen zeigt sich der volle Katzenjammer unserer Konjunktur in den Hinterhöfen. Nach jedem Sonntag oder Feiertag stinken verwesende Backhendel, Schnitzel und Tortenstücke, die der „Herr Karl“ nicht mehr „hinuntergebracht“ hatte, aus den Mülleimern. Kübel voll verdorrter Lebensmittel werden täglich auf die Ablagerungsstätten Laaer Berg,Bruckhaufen, Mauer und Vösendorf deponiert.

„DER MIST STEIGT MIT DEM WOHLSTAND, jährlich sind es fünfzehn Prozent mehr“, erklärt der Leiter der Städtischen Müllabfuhr, Oberbaurat Seitl. Durch die moderne Technik wurden die Koksöfen vielfach zum alten Eisen geworfen. Die Hausfrauen verbrennen den Mist nicht mehr in der Waschküche,' sie stopfen Plastikhüllen und Verpackungsmaterial in die Mülltonnen. An Stelle komprimierter Asche füllen jetzt Papier, Dosen und voluminöse Pappe die Abfalleimer.

Die Armen der Welt zählen Milliarden. Wer aber kann sich das schon vorstellen? Keiner von uns! Denn wir haben ja anscheinend total vergessen, daß ein paar Scheiben Brot die Erhaltung eines Menschenlebens bedeuten können. Dafür hat der Durchschnittsbürger etwas anderes im Kopf: Auto, Fernsehgerät, Urlaubsreisen an die Riviera. Der Rausch des Wohlstandes fat uns alle erfaßt und in einen Taumel versetzt, der uns sogar die Not am nächsten Nachbarn, der mit uns Tür an Tür wohnt, übersehen läßt!

„Kommen Sie einmal zu mir, und sehen Sie sich an, unter welchen Verhältnissen ich leben muß.“ — „Können Sie mir sagen, wie ich mit meiner Rente, mit diesen paar Schilling, auskommen soll?“ — „Fleisch kann ich mir höchstens ein- oder zweimal Im Monat leisten!“ Sagen diese wenigen Sätze, die wir aus Briefen entnommen haben, die sich täglich auf den Tischen der Fürsorgeämter sammeln, nicht genug? Klingen die Zeilen der Fürsorgebedürftigen nicht wie ein Hohn, erschütternd und beschämend für uns alle, vor allem dann, wenn man bedenkt, daß diese Zeilen von Menschen einer Stadt geschrieben werden und wurden, in welcher Lebensmittel tonnenweise weggeworfen werden?

NEIN, ES IST ZUVIEL! Diesem Zustand muß schleunigst abgehonen werden. Wäre es nicht endlich an der Zeit, sich der vergangenen Jahre zu erinnern, damit es uns allen wieder klar zum Bewußtsein kommt, daß jeder, der sein Brot achtlos wegwirft, sich schuldig macht, vor Gott und den Menschen. Wir sollten stets daran ( denken, daß es irgendwo in der Welt “Milfiorfeii Von Müttern •lihd^Vtltefn gibt, die unermeßlich dankbar für jedes Stückchen Brot wären, das bei uns auf den Ablagerungsstätten verfault wie jenes Butterbrot im Rinnsal der Straße.Und sollten wir selbst nicht daraufkommen, was Sparsamkeit heißt, so werden es die Ratten sein, die uns dies lehren werden, denn es gibt schon jetzt pro Kopf der Bevölkerung deren zwei...

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