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Das Verhängnis am Breitegrad

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Als vor mehr als drei Jahren ein kleines Sterngebilde aus dem Himmelsraum stürzte und zersplitternd seine Trümmer an den Hängen des ostsibirischen Sichota-Alin - Gebirges in hundert mächtigen Kratern eingrub, dauerte es viele Monate, bis die westliche Hemisphäre des Erdballs davon beiläufige Kunde erhielt und die Nachricht als astronomische Kuriosität mit gelassener Neugier zur Kenntnis nahm. Ein Zittern aber ging über den ganzen- Erdenrund, wenige Stunden nachdem im ostasiatischen Raum, in Korea, Menschen, bewaffnet mit modernem Kriegsgerät, aufeinander gestoßen waren. Ein großes Naturereignis war weniger aufregend und war weniger der eiligen Berichterstattung wert gewesen als der irgendwo an dem Fleck, eines Kontinents vollzogene Rückfall der Menschen in die Leidenschaften des Krieges. Das war von Rechts wegen. Die Naturgewalten sind gehorsamer der Ordnung des Universums und selbst in ungeheuren zerstörenden Geschehen barmherziger als der Mensch, der die Ordnung seiner Gemeinschaft, das Familiengesetz der Menschheit, den Frieden, zerbricht. Und so donnern abermals Geschütze, rollen die Tanks, brausen die stählernen Vögel der Luftgeschwader, wälzt wieder die Propaganda ihre Lügen zwischen den Völkern. Ferner Osten? Es gibt heute keine Fernen mehr, was immer geschieht, geht alle an.

Der Ausbruch des koreanischen Bürgerkrieges ist zum Alarm für die ganze Welt geworden, ein Ereignis, das unter anderen Gestalten und Umständen sich während der letzten 50 Jahre dutzende Male wiederholt hat — als europäische Ausgabe in Spanien —, ohne den Weltfrieden aus den Angeln zu heben. Aber das internationale Gefüge ist brüchig, und zerfiele es, müßte dem Schicksal des Völkerbundes auch die UNO folgen, die Frucht der teuer erkauften Erkenntnisse aus Katastrophen, dann verschwände mit ihr auch das letzte Auskunftsmittel, das noch in einer Ubereinstimmung der Mächte gefunden werden konnte, um die Menschheit am Rande des Abgrundes zurückzureißen. Uber allem, was jenseits dieses Randes ist, liegt nur ein unermeßliches Dunkel.

Aber es ist, als ob auch diese schreckliche Gewißheit des namenlosen Ungewissen ihre Bestimmung hätte; als ob sie vor die Völker hingestellt wäre, um sie in den Stunden der Entscheidung zur Besinnung zu rufen und warnend zu sagen, daß je kritischer die Stunde ist, desto unratsamer und unbrauchbarer die eingebürgerten Schablonen sind, die alles Geschehen in der Welt nach simplen, unveränderlichen Formen messen, und so tun, als ob in den Gegensätzen zwischen Ost und West in keinem Augenblick andere Kräfte wirken könnten als nur vernichtungbrütende Pläne. In diesen gefahrvollen Augenblicken ist es aufschlußreicher, die logischen Zusammenhänge und die Handlungen der vor und hinter der Szene Agierenden zu kontrollieren, als dem Parteiengerede zu folgen.

Bis heute ist die diplomatische Verbindung zwischen hüben und drüben aufrecht geblieben, bei keinem der beiden ist ein vorbereitetes Kriegskonzept sichtbar geworden. Eher war Korea einen Augenblick lang beiden eine Überraschung. Das Bestreben, den koreanischen Brandherd abzudämmen, ist erkennbar. Selbst die amerikanische Besetzung von Formosa, die von den Gegnern der Vereinigten Staaten als die gravierendste Handlung betrachtet wird, ist für eine objektive Beurteilung ein Bemühen, den Privatkrieg, den Tschiangkaisehek von dieser seiner letzten Zuflucht aus gegen das kommunistische China des Festlandes führt, mit energischen Maßregeln abzustoppen und einer bedrohlichen Vermengung der chinesischen und der koreanischen Bürger-kriegsaffärec vorzubeugen. Unzweideutig hat Washington erklärt, daß seine Maßnahmen auf Formosa der künftigen staatsrechtlichen Ordnung für die Insel nicht vorgreifen sollen. Andererseits: Auch der Skeptiker, der noch untersucht, was an Stelle der behaupteten reinen Liebe der mit größtem Kraftaufwand betriebenen Friedenspropaganda in Wahrheit zu setzen sei, kann der Moskauer Politik nicht eine Planung zutrauen, die selbst dem primitivsten Gefolgsmann der sowjetischen und volksdemokratischen Staatskunst zu seinem Schrecken dartun müßte, daß die schön ausstaffierte, durch die ganze Welt spazierengefährt“ Friedenstaube in Wirklichkeit ein Lämmergeier oder ein gefräßiger Kormoran war. Auch das Erscheinen von Flugzeugen und Tanks russischer Herkunft vermag nichts anderes zu beweisen, denn man konnte nicht erwarten, die Truppen des unter russischem Protektorat stehenden Nordkorea mit Waffen amerikanischer Armatur ausgerüstet zu finden. Mit so simplen Merkmalen zeichnen sich nicht die Probleme ab, die heute die Sorgen der Menschheit darstellen. Freilich, noch ist die durch Korea geschaffene Gefahrenzone nicht ganz durchschritten, noch sind Weisheit und Verantwortungsbewußtsein der mächtigen Staatslenker auf große Probe gestellt, noch können unberechenbare Zwischenfälle störend in den Ablauf der Ereignisse eingreifen, aber die Hoffnung, daß Korea eine isolierte ostasiatische Angelegenheit bleibe, hat heute sachliche Berechtigung.

Eine undankbarere Aufgabe, als die, den siedenden koreanischen Hexenkessel vom Feuer wegzurücken, wäre für Washington nicht leicht zu ermitteln. Nicht nur, weil der Koreaner niemanden liebt, der von den japanischen Inseln kommt. Das im Bürgerkrieg befindliche 20-Mil-lionen-Reich zu pazifizieren, wird mehr verlangen als eine kurzfristige Polizeiaktion. Für die Vereinigten Staaten, vor allem ihre Stellung in Ostasien, steht viel auf dem Spiele. Viele mißgünstige Zaungaste verfolgen das Schauspiel mit hämischen Erwartungen. Wieder einmal rächt sich eine der leichtfertigen Flüchtigkeiten, die Kriegsgewinner im ersten Uberschwang öfter als einmal in diesem Jahrhundert mit verhängnisvollen Folgen begangen haben. Als die Sieger im September 1945 einfach unbehindert einen über Stock und Stein laufenden Breitegrad als Abgrenzung der amerikanischen und der russischen Interessensphäre in Korea auserwählt hatten, weil man sich in der Eile, den japanischen Gegner zu liquidieren, zu keiner anderen Lösung Zeit nahm, hofften Optimisten, eines Tages dieses Provisorium durch die Wiederherstellung der staatlichen Einheit Koreas ablösen zu können. Man hat also das Land entgegen seinen natürlichen Lebensgesetzen in zwei Teile gerissen, an deren lächerlicher Grenze zwei feindliche, von mächtigen Händen unterstützte politische Systeme sich aufzutürmen begannen; der nördliche Teil war zum Hunger verurteilt, weil er der Zufuhren aus den reichen Reisgebieten des Südens entbehren mußte, indes dem Süden die unentbehrliche Kohle und die Produkte der starken Bergindustrie des Nordens fortan versperrt waren.

Aber die Geschicke der Völker lassen sich nicht auf das Eis legen, sie kümmern sich nicht um die blutlosen Konzepte der Operationsbüros und Staatskanzleien und ihre papierenen Termine. Natürlich konnten die beiden kriegführenden Gebilde nicht gedeihen. Die einander bekämpfenden Polizeidiktaturen des Nordens und des Südens vollendeten nur das Elend, das schon die fast 40jährige verhaßte japanische Herrschaft über Korea gebracht hatte. Schon die bei der Annexion erfolgte Erhebung von 70 koreanischen Adelsfamilien in den japanischen Adelstand und ihre Beschenkung mit Millionenwerten japanischer Schatzscheine, die zwar unverkäuflich waren, aber den Familien eine fünfprozentige Staatsrente sicherten, bedeutete unverhüllte politische Korruption; sie wurde . fortgesetzt in einem japanischen Goldregen, der in allen Provinzen Koreas über diejenigen niederging, die sich von den Zerstörern des koreanischen Staates kaufen ließen. Die neuen Herren haben aber nicht vermocht, auch nur die bescheidene moralische Ordnung aufrechtzuerhalten, die der alte koreanische Kaiserstaat noch bewahrt hatte. Das Experiment, den naiven Feudalstaat durch einen modernen Industriestaat japanisch-kapitalistischer Fasson zu ersetzen, ging daneben: Japan vermochte nicht einmal den stummen Widerstand zu überwinden, der sich allem, was japanisch war, in Korea beharrlich entgegensetzte. In ihm wirkte die Hoffnung auf den Gegenpart Japans, auf Rußland, der bei dem Sturze des Kaisertums jener Prinz des gestürzten Dynastengeschlechtes Ausdruck gegeben hatte, als er, den Tod einem Leben unter japanischer Herrschaft vorziehend, noch zuletzt an Zar Nikolaus II. schrieb,

Korea könne nicht zugrunde gehen, solange es noch Erwartungen auf Rußland setze. Ein ähnliches Denken mag auch die jüngsten politischen Entwicklungen in Korea begünstigt haben.

Politisch und wirtschaftlich zerfetzt, in Not gestürzt, den Gegensätzen der zwei großen Weltmächte unterworfen, sind die beiden Landesteile die Opfer von Zuständen geworden, die in eine gewaltsame Lösung auszumünden drohten. Die Situa-tionsberichtedie lange vor dem jetzigen Ereignis aus den französischen, in Korea wirkenden Ordensgesellschaften eingingen, verrieten eine steigende Sorge um die Dekadenz der öffentlichen und moralischen Ordnung im südlichen Korea. Die düsteren Berichte waren unparteiische Feststellungen aus anderthalbhundertjährigen erfahrungsreichen missionarischen Stätten. In der widernatürlichen Trennung Koreas war für beide Landesteile nur ungeteilt das Schicksal verderbter öffentlicher Zustände und die Sehnsucht, irgendwie, jenen verwünschten Breitegrad als Grenze auszuradieren, und sei es auch mit Gewalt. Es bedurfte nicht viel, die geschaffenen Spannungen zur Entladung zu bringen. Was 1945 versäumt worden war, muß jetzt unter schweren Bußen und unendlidi schwierigeren Umständen nachgeholt werden.

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