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Digital In Arbeit

Das Wegsperren der Gefühle

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Die Werbung hat recht, es gibt keine Möglichkeit nicht hinzuschauen, doch über die Folgen schweigt sie sich aus.

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Du fragst, ob es wirklich darauf ankommt, daß man so viele Probleme kennt und unterscheidet, wenn man als Mensch mitwachsen und lebendig bleiben will, die Umweltzerstörung in unseren Breiten, die Hintergründe der Katastrophen in Afrika, die Arbeitsweisen der Mafia, der Atomschmuggler, das alles, was wir über die Medien erfahren. Du fragst also genaugenommen, da unsere Medienwelten und unser Bewußtsein so kompliziert geworden sind, ob wir nur dann etwas verändern können, wenn unsere eigene Kompliziertheit und Komplexität mit der von außen kommenden Schritt hält. Müssen wir wirklich so viel verstehen, von der Ozonproblematik über die Bedeutung des Forams Alpbach bis zur Wechselwirkung zwischen einem Höhentief über der Adria und atlantischer Kaltluft?

Ich sage: es kommt darauf an, worum es geht, es kommt immer darauf an, worum es geht. Solang du dir das Gehirn vollräumst mit dem Aktuellen, ist ununterbrochen etwas neu und interessant, also wirkungslos, du hast ja vom Verändern geredet, Sich-Umstellen, das eigene Leben, die Gewohnheiten ändern. Wenn es ums Handeln geht, laß dir nichts vormachen, ums Tun, nicht ums Wissen, Kennen, Hinschaun-Wegschaun, kannst du die Wort- und Bilderfluten vergessen, die bringen dir nicht den Zugang zu den ver- räumten, weggesperrten Gefühlen, die schütten ihn dir eher zu, wenn du sie läßt. Wer in sich selbst eigene Gefühle wegsperrt - und wer hätte das noch nicht gemacht! — hat nachher immer noch den Schlüssel dazu, allerdings kommt es vor, daß man den Schlüssel dann auch noch versteckt.

Du weißt nicht, was ich meine? Dann muß ich einen Vergleich riskieren. Stell dir vor, daß du einmal aufgeregt, zitternd auf die Nachricht gewartet hast, daß ein für dich sehr wichtiger Mensch noch lebt, daß er den Unfall überlebt hat. Er wird noch operiert, hast du erfahren, und später: Intensivstation, alle deine Gefühle waren dabei, und Tage später: Er ist gestorben. Du hast dich nachher oft darüber gewundert, daß du die Todesnachricht so ruhig aufgenommen hast und einfach weiterar- beiten konntest, manchmal war es für dich, als hätte er nie gelebt, merkwürdig, aber immerhin einfach.

Später hast du einen Sterbenden besucht, das war auch so einfach, und im Fernsehen verstümmelte Tote und verstümmelte Lebende gesehen, alles war irgendwie unangenehm und doch leicht. Du hattest eigene Gefühle weggesperrt, um nicht am Leben, am Glauben, an der Sinnfrage irre zu werden, der Tod des Freundes war Schloß und Schlüssel zugleich. Ich will damit sagen: wenn die vielen medialen Schlüssel, die uns ändern wollen, Appelle an die Vernunft, verzichten Sie aufs Auto, Warnungen, wir riskieren einen Umweltkollaps, Beteuerungen, im Stau lebt es sich ungesund und so weiter, viele Menschen innerlich nicht erreichen, liegt es nicht an diesen Schlüsseln, sondern an den Schlössern.

AUS DER UNTERSTEN LADE

Die Erfahrung, die das Schloß gesperrt hat, die schwierigen, peinlichen, schmerzhaften, unbrauchbaren Gefühle weggesperrt hat, war nicht ein elektronischer oder selbstdenkender oder sonstwie komplizierter Schlüssel, ein Sperrhaken war’s, aus der untersten Lade, ein schnelles Schlußmachen mit der Überforderung, verstehst du? Ohne die eigenen weggesperrten Gefühle kannst du nichts verändern, am allerwenigsten dich selbst.

Daß dieses Wegsperren selten vorkommt, meinst du? Das glaube ich nicht. Hunderttausende, wenn nicht Millionen Menschen in Österreich haben persönliche Gründe, um mindestens einen für sie ganz wichtigen Menschen zu fürchten, um ihn zu trauern, an seinem Schicksal mitzuleiden, vor seinem Unglück zu verzweifeln. Denk dir in eine Addition zusammen die Aidskranken, die Drogensüchtigen, die vielen Unfalltoten und Unfallkrüppel, die Opfer von Gewalt, Verantwortungslosigkeit, die Skinheads, Punks, Neonazis, die Strafgefangenen, die psychisch Kranken, die Behinderten, die krebskranken Neugeborenen, die Alkoholiker, die unheilbar Kranken, die meisten haben Angehörige! Nicht alle könnten ihre Gefühle wegsperren, aber manchen gelingt es, sich so unempfindlich zu machen, daß sie alles aushalten, indem sie es nicht mehr an sich heranlassen. Für diese Menschen wäre der ersehnte Schlüssel zum Leben nichts anderes als ihr eigener versteckter Schlüssel zu ihrem persönlichen Leid. Es geht in unsere Gehirne noch nicht ganz hinein, um welchen Preis wir so leben, daß wir nicht nur die Rand-Gruppen unserer Gesellschaft alleinlassen, sondern auch deren Angehörige, von denen viele im Entweder-Oder - Schief- Angeschaut und Gemieden-Werden oder nicht - sich für den Sperrhaken entscheiden. Es ist wie beim Fernsehen: den Apparat einschalten kann man allein, aber zum Abdrehen braucht man einen zweiten. Wer den Sperrhaken einmal versteckt hat, vor den anderen und vor sich selbst, macht sich allein nicht mehr auf die Suche und hält auch den optimal konstruierten medialen Schlüsseln mühelos stand.

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