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Das Wirkliche

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(J. Fortsetzung)

„Das Wirkliche“, flüsterte Herr Direktor Müller vor sich hin und ein leiser Schauer überkam ihn, denn er fühlte sich hineingezogen in die seltsamen Kreise des Mannes, der sein Leben mit ganz neuen Maßen zu messen genötigt worden war, damit er es überhaupt für sich zu bewahren und in jene höhere Wirklichkeit hinüberzuretten verstanden hatte, in der nidn eines Tages der „andere“ da war, derart, daß man aufbrechen mußte, um in die Jugendzeit zu fahren, in der es doch keine Landung mehr gab.

Herr Direktor Müller versuchte, sich abzulenken: Ob wohl die nach Budapest gegenlimitierten Ordres in Ordnung gingen? Ob die zur Arbitrage angemeldeten 300 Ballen der Firma Schuster und Co. mehr als um die freiwillig angebotenen 25 Punkte abfielen? Er hätte vielleicht das Angebot doch annehmen sollen! Und richtig, hoffentlich übersah der Prokurist Marsoner nicht, den Rembours für die 200 Ballen Goodmiddling 28/30 mm staple des Hauses Schmid Sc Co. bei der National City Bank of New York zu eröffnen!

Jetzt lachte der Besuch laut: „Ach was, man wird nur einmal verrückt!"

Und wieder schauerte es ihn leise.

Der Pfarrer erhob sich und durchmaß die Stube: „Das Leben ist trotz allem gut. Auch wenn man verrückt wird.“

„Sagst du das zu mir?"

„Das mußt du selbst wissen! — Soll ich Licht madįen?"

Herr Direktor Müller schob die Lampe noch weiter von sich, und man hörte wieder das Schleifen des Ständers über die Schieferplatte wie das Gewetz des zwischen Mühlsteine geratenen Sandes.

Mittlerweile schlug die Glocke vom Kirchturm eine späte Stunde, dennoch wollte der Gast die Erzählung weiter vernehmen, als ob es morgen schon zu spät wäre.

„Die beiden Liebenden bewahrten alles in ihrem Herzen, bewahrten es so zart, daß ich nicht genug staunen konnte. Hermann Waldner kam womöglich noch weniger als vorher, und wenn er kam, gedieh der beiden geschwisterliche Güte so selbstverständlich, wie man es bei diesem im Grunde ungestümen Manne nie hätte voraussetzen können. — Aber ein Zwischenfall zeigte doch wieder das Rätsel dieses Herzens, dem in Lust und Unlust (ich meine das im wahrsten Sinne dieser Worte) alle Gefahr drohte.

Ein befreundeter Geistlicher beabsichtigte, ein Marienbild in Auftrag zu geben; er hatte als Modell mein Bäschen vorgeschlagen: die Flut ihres Haares, natürliche Innigkeit und dazu die rechte Gesinnung, das könnte wohl nicht mißlingen. Ich war neugierig, die Ansicht des inzwisdien verständigten Künstlers zu hören. Der jedoch lehnte schroff ab, zuerst ohne jede Begründung, gestand er schließlich seine künstleri- sdien Bedenken und ergänzte diese, menschliche Gründe spielten ebenfalls mit, persönliche oder was idi wolle. Und auch seine geistige Haltung sei so, daß er sich zu wenig sicher fühle. Ich entsänne mich doch noch seiner Stellungnahme zwischen „Wirklichem" und Wirklichem, lachte er bitter.

Nun fuhr ich auf, dann begebe er sich überhaupt des Rechtes, je einmal noch etwas schaffen zu dürfen. „Man darf sich doch nicht seiner Verpflichtung dadurch entbinden, daß man die Bande zerschneidet!"

„Zerschnitten? Jawohl, es ist möglich", polterte er los. „Ich gehe mit Waffen um! Fleute aber ist meine einzige Waffe der Pinsel! Und mit der soll ich mich selber umbringen? Warum gönnt man mir nicht einmal meine Ohnmacht?! Aber .“

Sein Gesicht wurde rot, und ohne Versöhnung machte er sich fort. Nachdem sich sein Zorn und im Anschlüsse die Scham gelegt haben, dachte ich, komme er wieder. Aber ich täuschte mich und wartete eine Woche nach der anderen vergeblich.

Idi schrieb ihm einmal, es handle sich doch um eine Aufgabe, die ich gerade für ihn bereitzuhalten mich bemüht hätte. Im übrigen solle er alles andere bedenken: Verena härmte sich sehr seinetwegen. Darauf ließ er gerade so wenig hören als auf gelegentliche Nachfragen durch den Ortsgeistlichen. Meine Anteilnahme verbot mir, zu zürnen, ebenso aber, ihn aufzusuchen, denn ich kannte zu gut, wie er gerade jetzt Ruhe und Einsamkeit brauchte: Hinter diesem Ausbruch stand ja gewiß viel mehr als nur ein unbeherrschter Augenblick. Die Wunde, irgendeine Wunde schwärte und da konnte man nichts tun, als alles reifen lassen.

Von seinem Pfarrer erfuhr ich später, daß er wieder ein wildes Leben führe. Nächtelang streune er im Wald herum, fliehe Leute wie ehedem, betrinke sich öfter und vermesse sich zu verschiedenen anderen Tollheiten.

Da fand idi es an der Zeit, ihn zu besuchen. Sein Atelierfenster stand offen und spiegelte ein Bild her; die bunten Farben spiegelten sich im Glas, das sich leise hin und herbewegte. Es mußt also jemand dagewesen sein, auch die Tür stand halb offen. Ich rief seinen Namen. Aber nichts rührte sich und als ich ums Haus ging„ hörte ich, wie die Haustür aufgeriegelt und rasch zu- gemadit wurde — — er floh vor mir. Es tat mir bitter weh, nicht meinet-, abei seinetwegen: Wie konnte das wohl enden?

Ich hütete mich, Verena meine Wahrnehmungen mitzuteilen, aber eines Tages vermochte sie ihre rotgeweinten Augen voi mir nicht mehr zu verbergen. Eine ihrer Freundinnen war vor einigen Wochen in sein Dorf als Lehrerin versetz ; worden und hatte ihr geschrieben, wie es um ihn stehe.

„Daß er so sein kann!“

Ich versuchte sie zu trösten, wohl etwas unbeholfen, weil ich sozusagen selbst Partei war.

Einige Wochen danach schlugen die Wellen der Weltgeschidite plötzlich hoch. Sarajewo kam dazwischen, teilweise Mobilisierung, die ersten Kriegserklärungen, Aufregungen, Verfügung über Verfügung, dann Schlag auf Schlag die Einberufung der gesamten Streitkräfte, neue Kriegserklärungen, wilde Gerüchte und Militär- und Zivilbehörden nichts mehr als eine Geißel über der Bevölkerung. An einem solchen Tag läutete es heftig an meiner Tür. Meine Haushälterin war — zum Glück — nicht da. Hermann Waldner grüßte wie ein Fremder und drehte seinen Hut in den Händen. Er war sehr benommen, obwohl ich versuchte, frühere Erinnerungen auszulöschen. Und er trat nicht über die Schwelle.

„Bitte!“, lud ich ihn ein, aber er tat nichts dergleichen. Endlich vermochte er zu sagen, ich wolle mitkommen, er hätte etwas für mich unten. So stapften wir die Treppen hinunter. Vor der Haustür stand ein Gaal; in einem Baucrnwägelchen Schweine grunzten aus der Truhe, dahinter aber war ein Berg von Bildern und Skizzen aufgestapelt, nur notdürftig mit einem Jutesack verdeckt.

„Ich mödite dir das bringen“, sagte er rauh. Dann trug er sie schweigend in meine Wohnung. — Vier-, fünfmal hatte er die Stiege zu steigen, bevor das Bäuerlein auf den Schweinemarkt fahren konnte. Bis von seiner Seite einigermaßen ein Gesprädi gelang, dauerte es lange, dann preßte er heraus: „Ich muß einriieken! Und da hab ich an dich gedacht. Du bist ja der einzige Mensch, der dort hineinsieht, wo ich hinaussehe — oder wohl nicht mehr hinaussehe. Da sind meine Zeugnisse, verschiedent- liche Zeugnisse. Aber du sollst sie aufbewahren. Und wenn ich falle, denke daran, daß es ein Mensch war, nicht mehr, aber ein Mensch — ein schwacher, niederträchtiger, aber doch ein Mensch!"

Er hodete klobig am Tisch, die redite Hand schwer zur Faust geballt, Schatten im Gesidit. Unvermittelt stand er auf: „Jetzt geh ich."

„Du duldest wohl, daß ich dich begleite?“

So gingen wir miteinander. Es war ein Tag wie damals, als ich ihn kennengelernt hatte, heiter und die Milde der Morgensonne so bereit, daß man nicht an den Krieg denken wollte. In diesem sanften Aufgang des Tages löste sich seine Schroffheit und mählich geriet er ins Entschuldigen und dann ins Erzählen:

(Fortsetzung folgt)

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