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Das Zerbrechen einer Frau an der Zeit und der Familie

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Selten ist in einem Roman von Menschen die Rede, die, da sie nicht im grellen Licht der Öffentlichkeit standen und auch von der Geschichte nicht mit bedeutenden Rollen bedacht worden sind, heute vergessen sein würden, läge da nicht eine Anzahl von Briefen und Aufzeichnungen vor, von flüchtig beschriebenen Zetteln, Erinnerungen und Zeitungsberichten, gäbe es die Bildnisse nicht von wenigstens zweien von ihnen, welche studiert und interpretiert werden konnten. Indem sie aber noch einmal zu sprechen beginnen und ungezwungen, vielleicht zum Trost für uns alle, aus ihrem Leben erzählen, scheinen sie über die Zeiten gerettet worden zu sein.

Renate Welsh hat mit diesem ihrem Roman sehr deutlich bewiesen, daß sie den Mut, die Liebe und Ehrfurcht besitzt, vor allem die Kraft, den Schicksalen dieser ”Menschen, ihrer eigenen Vorfahren, vieler Verwandter auch, nachgehen und sie glaubhaft machen zu können. Dazu waren endlose Nachforschungen nötig, Gespräche mit Ärzten und Psychologen, ein bis in Kleinigkeiten vertieftes Studium der Geschichte; im vorliegenden Fall auch die Kenntnis anderer Länder und Sitten, bisweilen von Sprachen. Sie hinterfragt und beleuchtet jede auch nicht belegbare Handlung von den verschiedensten Seiten. Freilich ist viel Persönliches untergegangen. Dessen ist sich Renate Welsh bewußt, aber sie beherrscht ihren Stoff, als Schriftstellerin, Frau und mehrfache Mutter

Hinzukommen mag, daß sie ein aus ihrer Erbsubstanz stammendes Wissen einsetzen kann, welches ihrer Phantasie Exaktheit verleiht. Wenn nämlich die schriftlichen Quellen versiegen, dann überläßt sie die ihr vertrauten Gestalten ruhig sich selbst. Die bescheidene Art ihrer Sprache trägt wohl zum Rang dieses Buches wesentlich bei.

Die Hauptpersonen, um die es hier geht, waren direkt und indirekt in die Bevolution des Jahres 1848 verwickelt und ernsthaft bedroht. Da war der Steckbrief und die Verfolgung, die Flucht über Frankreich und England in die Vereinigten Staaten. Die Familien blieben daheim, Leidtragende natürlich auch sie, so-daß sich um Maximilian Joseph Gritzner, den Kärntner Ur-Ur-Ur-großvater der Renate Welsh, den Richter und nachmaligen Abgeordneten im Frankfurter Parlament, und dessen Sohn, welcher Pauline, die bildhübsche Tochter eines jüdischen Kaufmanns - ohne den Segen des strenggläubigen Vaters - geheiratet hatte, eine Vielfalt von Verwandten, Freunden, Bekannten, bewegt. Die Hauptfigur aber ist und bleibt die empfindsame, still dienende, hilfsbereite jüdische Frau des jungen christlichen, keineswegs allzu christlichen Gritzner.

Konflikte gibt es wohl viele in diesem Buch, nicht nur politische. Der größte ist geistig-seelischer Art und findet sein tragisches Ende im Wahnsinn Paulines, von der man schließlich nur noch erfährt, daß sie von ihrem Mann zeitlebens rührend umsorgt war. Man weiß aber nicht, wann und wo sie starb. Meisterhaft dargestellt sind der Ausbruch der geistigen Krankheit, nicht minder die März-, Mai- und Oktobertage der Revolution, die Wiener selbst in ihrer Differenziertheit, die Willkür verrohter Soldaten, die Schwierigkeiten, immer wieder, beim Aufbau einer neuen Existenz, sei's in Amerika, sei's in Europa, das Flüchtlingsleben überhaupt, der Alltag und das oft lange Alleinsein, die Geburten der Söhne Paulines, nicht zuletzt der das keimende Glück der Befreiung und Rückkehr erschütternde Wahnsinn.

Dazu der Kontrast des vitalen, unermüdlichen Vaters, des alternden Gritzner, vor allem auch die Sehnsucht Paulines nach festem Boden, nach einer Heimat. Was aber das Leben dieser noch jungen Frau so beklemmend macht, ist die Angst vor dem Scheitern ihrer, wie sie zu glauben beginnt, zu Unrecht geschlossenen Ehe und ihrer Liebe, demnach der ihr mangelnde seelische Friede, der Eindruck schließlich, in einem „Lufthaus” zu leben, wodurch dieses Buch einen starken Bezug zu unserer Gegenwart aufweist, was zu seinem großem Erfolg beitragen mag.

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