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Das zwielichtige Wiederbeginnen

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Genau diese Tendenz aber, ein Mißverständnis um die eigene Position in Mitteleuropa, der Glaube, daß an allem nur der böse Hitler schuld sei (der natürlich an vielem schuld war) und daß man dort fortsetzen könne, wo man 1938 und 1939 aufhören mußte, führte am aller- schnellsten Weg zur Katastrophe, die schon 1945 mit Parteienverboten, mit Massenausweisungen, mit Zehntausenden von Volksgerichtsurteilen — insgesamt mit einer fiktiven Demokratie begann, die rascher zusammenbrach als die von 1918.

Mehr noch als nach 1918 waren jetzt, 1945, die Intellektuellen am Ruder. Die Links-Intellektuellen unterschiedlicher Nuance. Die bäuerliche Führungsschicht, durch zwanzig Jahre bewährt, verbraucht und kompromittiert, war rücksichtslos ausgeschaltet; die verbliebene katholische Führungsschicht war dürftig. Eine liberal-bürgerliche Führungsschicht war überaltert und durch Hitlers Maßnahmen der Sperrung der tschechischen Hochschulen eingeschüchtert. Fast waren die Slowaken jetzt mit der zwar auch immer wieder dezimierten, aber doch stark emporgeschossenen Intelligenzschichte günstiger gestellt.

Trotz dieser eher trostlosen Aus gangsposition der Nachkriegszeit spürte die studierende Jugend mehr als die alte Generation das, was der Kommunismus ihrem Land und ihnen bringen werde. Anläßlich der letzten Studen ten wählen im Jahre 1948, die den Kommunisten, nochmals — zum letztenmal — eine sehr drastische Niederlage brachte, ließ der damalige kommunistische Informationsminister Vaclav Kopecký gegenüber den überwiegend nichtkommunistischen Prager Studenten das bezeichnende Wort fallen: „Früher oder später werden auch Sie mit den Kommunisten gehen — nichts anderes wird Ihnen übrigbleiben!“

Gepreßt in neue Normen

Sehr vieles der jetzt folgenden 20 Jahre, der Jahre zwischen 1948 und 1968, hat Tschechen und Slowaken geformt und umgenormt — gewiß nicht immer so, wie es sich das Regime vorstellte: die Tatsache, daß jedem Familienmitglied acht Quadratmeter Wohnraum zur Verfügung stehen sollen und daß die Durchschnittsgröße einer Wohnung nach 20jährigem kommunistischem Wirken auf 38 Quadratmeter heruntergerutscht ist; der Zwang, daß durch 20 Jahre Auslandsreisen nur in Ausnahmefällen und da nur in

Ostblockländer möglich waren; eine Wirtschaftsplanung, die nicht im Traum daran dachte, auf die Bedürfnisse der Bürger Rücksicht zu nehmen; eine Kirchen Verfolgung, die an Rücksichtslosigkeit im Ostblock führend war und vieles andere mehr. Nichts aber war so radikal wie die Maßnahmen gegenüber der Jugend, die Zulassung und Nichtzulassung zum Hochschulstudium, die Förderung und Drosselung verschiedener Ausbildungsarten.

Bei aller gigantischen Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses durch die Kommunisten bedeutete die Nichtzulassung gewisser Jugendlicher zum Hochschulstudium (entsprechend dem unerwünschten Beruf ihrer Eltern) für die einzelnen praktisch dasselbe wie die allgemeine Hochschulsperre durch den Retichsprotektor zehn Jahre früher. Die unbeschränkte und zum Teil ganz außerordentlich beschränkte Möglichkeit, verschiedene Studienrichtungen zu wählen, führte zu einer Forcierung der technischen Intelligenz, wobei die Tschechen, entsprechend ihrer Begabung, vor allem auf dem Gebiet der Kybernetik vorprellten, während sie auf anderen Gebieten, wo sie bisher Ansehen und Gewicht hatten, eher zurückfielen. Das ist vor allem auf musischem Gebiet und hier speziell bei der Musik spürbar, während sie auf musischen Randgebieten, etwa beim Film, auch heute keineswegs schlecht abschneiden.

Besinnung auf eine demokratische Tradition

War diese Umformung der jungen Intelligenz vor allem eine interne tschechische Angelegenheit, so hat die Besinnung auf eine demokratische Tradition, der Versuch einer Redemokratisierung Wellen weit über die Tschechoslowakei hinaus geschlagen. Die weit schärfere Moskauer Reaktion gegenüber Prag als gegenüber Bukarest hat gewiß vorrangige strategische Erwägungen. Gleich dahinter rangierte aber sicherlich auch die Erwägung, daß sich auf dem Gebiet der Innenpolitik die Tschechoslowakei weit beunruhigender entwickelte, als Rumänien.

Das Bemühen im Prager Vorfrühling 1968, die innerparteiliche Demokratie der KPTsch auszuweiten, ist ganz einfach deshalb überrannt worden, weil tatsächlich in weiten Teilen des Volkes die Sehnsucht zumindest nach einer Teildemokratie übermächtig wurde. Mag man mancher tschechischen Geschichtsdnter- pretation auch nicht folgen können, die etwa die Hussiten als Vorkämpfer der ganzen Welt gegen überspitzte Autorität feiern wollen und die in einer merkwürdigen Verquickung mit Comenius und Masaryk eine — gewiß nicht immer vorhandene und sichtbare — Tradition einer uralten humanitären Demokratie oder eines demokratischen Humanismus konstruierten; fest steht, daß die Tschechen, im Unterschied zu den meisten slawischen und den meisten heute kommunistisch geführten Ländern eine rund 100jährige demokratische Tradition aus altösterreichischer Zeit her haben, sich an sie mit Freuden erinnern und sie gern, wenn auch in Grenzen, wiederherstellen möchten.

Spezialisten des passiven Widerstandes

Es würde ein dickes Buch werden, wollte man alle die Fakten aufzählen, die dazu beitrugen und beitragen, den Charakter der Tschechen, seine Eigenschaften und Interessen zu wandeln. Das im wesentlichen abgeschlossene Zusammenleben mit den Deutschen im eigenen Staat wird ebenfalls nicht spurlos vorübergehen, und vielleicht hat man künftig ein größeres Verständnis für den eigenen, großen Historiker Pekar, der im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen vor allem jene Epochen der böhmisch-mährischen Geschichte unterstrich, in denen das Zusammenleben von Tschechen und Deutschen zu einer besonderen kulturellen Entfaltung führte.

Heute plagen die Tschechen andere Probleme, die gewiß nicht geringer sind.

So ein Problem waren und sind die Besatzungsmächte verschiedener Provenienz, die natürlich in besonderem Maße Leben, Schicksal und Charakter der Menschen beeinflußten. Sie haben mitgeholfen, daß die Tschechen heute die vielleicht bedeutungsvollsten Experten eines passiven Widerstandes geworden sind, so wie der zweite Weltkrieg insbesondere in Jugoslawien den Typ der „Partisanen“ hervorbrachte und so wie die Vietnamesen Guerillaspezialisten wurden. Es bleibt dahingestellt, ob dies eine notwendige oder erfreuliche Eigenschaft darstellt — die Tschechen würden sich vermutlich anderes wünschen; es ist aber die gewiß bezeichnende Ausdrucksform des Widerstandes eines kleinen Volkes.

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