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DEINE LOCKUNGEN, APOLLINAIRE!

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Die Akelei und die Kornähre, das Stiefmütterchen und die weiße Lilie, die Rose und die Immergrünblume entsprießen dem aufwärts gehaltenen Füllhorn, und dahinter stehen zwei Figuren mit schönen Köpfen und ausgeprägten Gesichtern. Die weißen Tauben flattern und schauen aus, als ob sie mit segnenden Händen lateinische Texte hersagen würden, flattern durch die Farnkrauthaine, durch den Überschwang der Kürbisse und Weintrauben, alles in Farben, und darunter steht mit großen Buchstaben: Mille Francs.

Meinen Band Apollinaire auf den Knien, Pont Mirabeau aufgeschlagen; mein Herz schlägt am Brückenbogen des verheißungsvollen Pont Mirabeau; ich sehe grüne Hoffnungen, Osterblumen, einen französischen Frühling mit lila Blütenkerzen, einen Garten von Versailles, menschenleer, ausgespannt in ein großes, strenges Blattmuster, rein, entrückt, benetzt von natürlichen Tränen (als ich in Wirklichkeit dort ime, war dieser Garten anders: eine Auffahrt steiniger Katzenköpfe, Frühlingslaub auf nichtdressierten Bäumen, sanfte Gartenschönheiten, aus Nischen tretend, Hecken, Fontänen, Weitläufigkeit,

Ballspiele, Sand; trüber Tag, etwas wie Traurigkeit, müde Füße, Abschied, Vergleiche mit dem anderen Versailles).

Die Tour St. Jacques habe ich zu Hause auf einer Ansichtskarte; als ich in die wirkliche Nähe dieser Kirche geriet — ich näherte mich ihr mit Hilfe meines Stadtplans —, begann mein Herz zu hämmern; viel Gewinkel, unübersichtliche Gäßchen, eine graue, ganz ungewöhnliche Mauerfront. Darüber tauchte sie plötzlich auf: rätselhaft, grau, nah, atmend. Ich stülpte mein Auge über sie, wir nahmen voneinander Besitz.

Gründonnerstag in Notre-Dame de Paris. Orgeldröhnen, Lichter aus zweierlei Quellen, Rosetten und Kronleuchter; schreitend durch die Kathedrale. Ich werde vom Gottesdienst abgelenkt. Die drei zelebrierenden Priester fallen abwechselnd oder gemeinsam in die Knie, erheben sich, immerzu lächelnd, flüstern Gebete, sprengen Segnungen aus, verbreiten etwas Mahnendes, etwas Dringendes, etwas Besänftigendes. Im Windfang des riesigen Tores eine Nonne mit einem Opfersäckcheh... Paris ist eine schlanke hohe Säule; Paris ist im blau weißroten Fahnentuch, das von der Spitze des Eiffelturms weht; davor die reifenschlagenden Kinder; der schiefbemützte blasse Knabe beim Kugelspiel — im Gesicht hat er etwas von einem Familienvater; dieser andere Knabe mit dem schönen runden Gesicht, der wie ein Erwachsener spricht und mit großem Ernst seine Kugel schleudert, Grenzlinien durch den Gartensand zieht. Paris: Wenn die Lehrmädchen des Boulevard St. Michel ihre Stoffballen auf die Verkaufsgerüste legen, summend, seufzend, ein wenig fröstelnd im Morgenwind.

Frankreich: Das Innere der Kirche St. Etienne-du-Mont; die gewundene Treppe zur Empore; der Ordensbruder, aus der Kirche St. Augustin tretend; die kleine Französin auf dem Boulevard Beaumarchais, die so freundlich Auskunft gab; und die appetitliche Konditorin (Erdbeerschaum über duftendem Germkuchen, mausekleines Pomademündchen, lächelnd, Porzellanzähne; hinter der gepuderten, gepflegten Stirn das Bewußtsein eines wohlgeordneten Lebens; Eidotter und Golddukaten, Erbprinz und Lusthäuschen, Bürgerin einer Weltstadt). In der Auslage der Kuchenfrau liegen Ostereier und Hennen aus Schokolade, es ist Karsamstag, und überall steht: Joyeuses Päques.

Frankreich: Die Austern; der aufregende Film am Vorabend; die langsam sich ..bewegenden oder stehenden .Nachtfiguren imMontmartre-Viertel“; d'et napoleonische Sarkophag“ im blauen Steinbett und die mächtige Kälte, düe wie Eisblöcke her-

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Es war ein milder Tag im Park von Trocadero: Durch die Frühlingsbüsche sah ich die eisernen Füße des Eiffelturms.

Die große dunkelblättrige Linde vor der Kathedrale zu Chartres; der riesige Schlachthof von Vendöme, wo es Mittag läutete, und alle Knaben liefen heim. Ich stand plötzlich allein da, und ich war zugleich in England und Frankreich, ich verwechselte immer wieder die englischen Straßenöffnungen mit den französischen.

Vor Sacre-Coeur mache ich halt. Die Frau mit dem Andenkenkenladen hat ihre Waren noch nicht ausgebreitet. Ich starre sie an, und sie treibt mich mit einer verächtlichen Bewegung fort, ins Innere der Kirche, über Stiegen und Gänge, durch Hallen, Türme und Tore; und ich sehe, wie bleich dieser Stein ist, abgeschieden wie totes Gebein. Und ich versinke in das Gewebe dieser Stadt; aber es bleibt nichts bei mir; ich schaufle in mein Gehirn, Schichte um Schichte, aber es blättert ab, kaum daß ich es an mich gerissen habe. Es bewegt sich wie Staub in der Sonne, und es ist nicht zu greifen. Ich gehe durch besonnte Novizengänge, über Quader und Querhallen, Kreuzgänge und fliesenbelegte Höfe, und endlich werde ich selbst ein Stück Stein. Von oben neigt sich eine Schönheit mit Kinnbinde zu mir herab, blaue Dame mit Cape, ein Reis am Busen; Schleiertüchlein, Ring und Rohrdommel.

Behangen mit windsbräutlichem Spinngeweb (die glitzernden Durchblicke vom Ende der Champs-Elysees zum Triumphbogen; dieses meerfeuchte und tangtriefende, bespülte und grüne Sichverschieben der unerforschlich wandernden, ruckartig schnellenden Wagen, aufwärts und abwärts; der Triumphbogen aus nächster Nähe, zu sehr von traurigen Laternen verstellt, aus der Ferne des Sternplatzes geliebt, ein kraftvoll in die Erde gerammtes zärtliches Zeichen der himmlischen Geheimnisse), und zwischen den Fingern der rechten Hand noch immer das Spiel deiner goldenen und rötlichen Locke, o Guillaume Apollinaire; deine seidige Locke (wie erbebte ich, als ich zum erstenmal sah, daß sie rötlichblond schimmerteI): deine schönsten Rousseaus hängtest du für mich aus, und Rouaults heiliges Antlitz, das mir immerzu nachschaute. So kehrte ich aus Paris zurück und nährte meine Träume von den tränenfeuchten Verliesen der Untergrundbahn, vom rollenden Ball, der zugleich im Sand und in den Lüften sich bewegte, und schließlich als aprilschwebender Blütenball über den Büschen erschien, neben der tropfenden Sanftheit kleiner Goldregenbäume, unter dem ragenden Violett abblühenden Flieders; von der Kathedrale aus Zucker, die ich fast ohne Ende über Kirchenstiegen erklomm, das Gesicht der Kreuzspitze zugewandt; von jenem seltsam trichterförmig zulaufenden Stadtteil, dem ich wie ein verlorener Tropfen willenlos in seine Mündung — nämlich einen Fleischmarkt — folgen mußte, wo ich mich weiterfragte, ölige Oliven kaufte (aus Verlegenheit, in nicht absehbarer Zeit in mein Quartier in der Rue de Dame zurückzufinden).

Die Transparenz deiner Lockungen, o Guillaume Apollinaire, ist so immerwährend in meine Tage und Nächte verflochten, daß ich nun alles auf sie beziehe (die schöne Beschattung, die mir die Palmen im Jardin du Luxembourg einst spendeten; die palmenfingrige Beschattung des Vergessens, dem unsere Sinne ausgesetzt sein werden).

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