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Demokratie und Denunziation

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Die Gesellschaft in unserer jungen und unentwickelten Demokratie krankt an einer Krankheit, die sie von innen her zersetzt. Diese schleichende Inflation, die die Währung aller guten politischen Werte, der Freiheit der Person und der Menschenwürde zersetzt, ist die Denunziation. Dieses Krebsübel unserer jungen, noch nicht wirklich in der Freiheit integrierten Gesellschaft kann sich tief einwurzeln in sehr alten, man möchte fast sagen erlauchten Traditionen des Abendlandes, wie in spezifischen Traditionen der zunächst westeuropäischen Demokratie, und, zum Dritten, in der Wohlstands-, Konsum- und Unsicherheitssphäre, unserer Massen, deren Interesse für die Individualität durch Typen absorbiert wird: positiv „auffallen" dürfen nur einzelne, die sich vorgeboxt, vorgearbeitet haben oder einfach von dieser und jener Vergnügungsindustrie lanciert wurden, so daß sie zu repräsentativen Typen, zu „Sprechern“ und Erscheinungsbildern weit verbreiteter Ängste, Triebe und Bedürfnisse der Massen wurden. Positiv auffallen dürfen also Fußball- und andere Sportstars, Film- und Fernsehstars, Typen ä la Soraya, Politiker, Wirtschafter und Manager, die jeweils als repräsentativ gelten und es tatsächlich sind für weitverbreitete Konsumbedürfnisse, Ängste, Wünsche und Hoffnungen.

Unsere Massengesellschaft — wobei wir uns hier in die verwickelte Problemlage des Begriffs „Masse“ nicht einlassen wollen — ist, grob und klar ausgedrückt (und vielleicht bildet diese Tatsache eines der am stärksten bindenden Glieder der heute ineinander gewürfelten Reste und Residuen alter Stämme, Stände, Gruppen) am Schutz der Person, genauer, der Persönlichkeit des einzelnen, nicht vital interessiert. Ein Fall Dreyfus wäre bei uns undenkbar. Kein j’accuse, kein Ruf der Klage, Anklage und Verteidigung vermöchte in tiefere Schichten des öffentlichen Bewußtseins einzudringen. Die Masse geht über einen Angeklagten,- einmal „AbgesehösSentn", hinweg, sie, diese Gesellschaft unserer Zeit, die nicht vital interessiert am Schutze, an der Verteidigung seines Rufes, ja, sie wünscht bewußt und unbewußt, offen und insgeheim die Ausmerzung des unbequem und unangenehm „Auffallenden“. Das beste, was diesem zukommen kann, ist ein „großzügiges“ Vergessen und Übersehen eben dessen, was in aller Öffentlichkeit und unter lauter und schweigender Billigung derselben diesem an Rufmord angetan wurde.

In den Jahren um 1950 war „die reinste Stimme des deutschen Gewissens“, wie man sie vorher und nachher genannt hat, Reinhold Schneider, das Opfer einer Denunziationswelle, die den Dichter und Denker ins Mark der Seele traf. Dieser Mann, der, allein auf weiter Flur, als Stimme eines katholisch-deutschen, christlichen Gewissens in seinen Sonetten und Essavs im Dritten Reich und zweiten Weltkrieg die vielen zweifelnden und verzweifelten einzelnen und Einsamen in Hitlers Reichsraum ansprach, an den Fronten von Narvik bis zum Kaukasus, vom Atlantik bis Tobruk, wurde über Nacht das Opfer einer Denunziationswelle, die über ihm zusammenschlug. Der Wiederabdruck eines sehr eindeutigen, politisch in jeder Weise integren Aufsatzes über Friede und Friedensgesinnung in einer sowjetzonalen Zeitung und seine bekannte Auffassung über die Friedenspflicht des Christen heute bildeten den willkommenen Anlaß.

Und nun hatten alle jene Menschen, die ihn kannten und ihm irgendwie nahestanden, die Gelegenheit, zweimal eine beklemmende Erfahrung zu machen. Zum ersten die fast völlige Isolierung des Dichters und Menschen, inmitten des Strudels der Denunziationswelle. Übergehen wir hier die Anrufe aus einem bischöflichen Ordinariat, wann Herr Schneider denn endlich in die „Zone“ zu übersiedeln gedenke. Übergehen wir die Briefe und Sendschreiben katholischer Verbände, die mitteilten, daß sie nunmehr ihre Bibliotheken von den Werken dieses Mannes säuberten. Diese und andere Debilitäten wären zu übersehen. Nicht zu übersehen aber war der völlige Ausfall an Solidarität im christlichen, im katholischen Lager, dessen weit über Deutschland hinaus hörbarste und eindrucksamste Stimme Reinhold Schneider war. In Frankreich hätte sich ein Comitė gebildet, von Mauriac bis Sartre. In Deutschland fanden sich die wohlbestallten und prominenten Einflußreichen nicht. Keine Stimme, keine Hand rührte sich zunächst für diesen Mann. Nur eine Frau: Gertrud von le Fort. Wohl dann die Amerikaner (die ihm Gelegenheit gaben, Buchbesprechungen in der „Neuen Zeitung“ zu veröffentlichen). Wohl dann einige liberale Humanisten und Evangelische, nicht zu vergessen Theodor Heuss.

Nach einigen Jahren war dieser grauenhafte Spuk vorbei. Und nun begann das zweite, nicht weniger beklemmende Erlebnis, wiederum eine unvergeßliche Erfahrung dafür, wie wenig hierzulande der einzelne, die Person, ein geprägtes Gewissen und Wissen gelten, wenn sie nicht im Strom der breiten Konsumbedürfnisse, Interessen, Hoffnungen und Ängste mitschwimmen. Als Reinhold Schneider der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels in der Paulskirche in Frankfurt verliehen wurde, als, beginnend mit dem Bundespräsidenten, zahlreiche Prominente sich zu einer Ehrung fanden, als ein gewisser Buchhandel die Konjunktur nutzte und mit Schneider „überraschend“, wie man sagte, wieder ein Geschäft machte, geschahen zahlreiche Preisungen, Ehrungen und Preise des nunmehr wieder Hochgerühmten, nur das einzige, was bitter nottat, geschah nicht: die Wiedergutmachung. Die Entschuldigung der Täter, der Rufmörder, der öffentlichen und geheimen wirkenden Ankläger. Man tat so, als wäre nichts geschehen. Männer und Mächte, die kurz vorher noch sich am Rufmord, an der Denunziation fleißig und beflissen beteiligt hatten, beteiligten sich nun ebenso an der Ehrung.

Ein Studium des Falles Reinhold Schneider legt klar: Das Beste, worauf die reiiistė1Stimme eines Gewissens, einer Persönlichkeit hier hoffen kann, wenn sie der kalte Mord, der Rufmord, die Denunziation einmal getroffen hat, ist ein „großzügiges“ Übersehen, ein „Vergessen“ von Seiten eben der Gesellschaft, die den Rufmord billigte, mittrug, duldete oder direkt tat.

Wir sind heute um ein gutes Stück weiter auf dem Wege in einen Abgrund: in eine inflatorische Bewegung, die unsere junge Demokratie von innen her aushöhlt und zerstört. Hervorragende amerikanische Staatsmänner und Politiker zwischen Jefferson und Truman haben es wiederholt ausgesprochen: eine Demokratie, eine Gesellschaft freier Männer ist genau so viel wert, wie diese Gesellschaft bereit ist, zum Schutz der Freiheit des Einzelnen, des unbequemen Einzelnen zu tun. Wenn in den Jahren der Weimarer Republik manchen Gerichten und Richtern ein hohes Maß von Mitwirkung an der Zerstörung des Rufes aufrechter, freier Männer zufiel — Reichspräsident Ebert ist bekanntlich an einem solchen mörderischen Rufmordprozeß zugrunde gegangen —, dann ist es heute unsere „ganze" Gesellschaft, die in hohem Maße mitverantwortlich ist dafür, daß einzelne Personen und Persönlichkeiten, Männer und Frauen mit eigenständigem Wissen und Gewissen, mit ihrem freien Wort in der Zeit, ihrem Schwimmen gegen den Strom, wenn sie einmal eine Denunziation erreicht, „abgeschossen"

oder zumindest ausgebootet, ausgeschaltet werden.

Die politische, gesellschaftliche, staatsbürgerliche, religiöse und konfessionelle Denunziation in Deutschland vermag sich auf ein Fundamentaldogma zu stützen, das links und rechts, in Interesserivėrbąnden, Großparteien, Gewerkschaften, , Kirchen und Konfessionen gleichermaßen mit tiefer Inbrunst einbekannt wird, obwohl es ungern öffentlich eingestanden wird. Dieses tiefste Band, das sozialistische und bürgerliche Parteigremien, Gewerkschafts- und Kirchenführungen eint, ist die Überzeugung: Opposition ist nur legal, erlaubt, sinnvoll und recht, menschlich anständig und erlaubt gegen den gemeinsamen Feind und Gegner. Wer hier nicht mitsammelt, vereint, unifiziert, der zerstört, der ist ein Schädling der Partei, der Gewerkschaft, des Vereins, der Kirche.

Opposition in und innerhalb der eigenen Gruppe, Gesellschaft usw. ist ,,unfruchtbar“, illoyal, ist Verrat: Hochverrat, Landesverrat, Parteiverrat. Den Parteiführungen, und nicht zuletzt den Parteiführern, obliegt als erste Pflicht die Ausschaltung aller jener Einzelner, die sich eines „parteischädigenden“ Verhaltens befleißigen. Wobei es natürlich dem Führer und seiner Gruppe zukommt, zu bestimmen, wer als „parteischädigend", als „Verräter“, und was als „Verrat“ anzusehen ist. Formal besteht in diesem „Ausleseverfahren“, in diesem permanenten Prozeß der Gleichschaltung eine erschreckende Ähnlichkeit mit dem Säuberungsverfahren in rechts- und linkstotalitären Gesellschaften. Gute Bundesrepublikaner, die mit gutem Recht die Herrschaftsmethoden im Ulbricht-Staat als undemokratisch und freiheitsfeindlich an den Pranger der Weltöffentlichkeit stellen könnten, begeben sich faktisch dieses Rechtes, da sie selbst, je in ihrem eigenen Verbände, nach je eigenem Vermögen, sich derselben Methode der Säuberung und Gleichschaltung bedienen: wer nicht pariert, fliegt! Wer nicht mitmacht, hat bei uns nichts zu suchen.

Die Prozesse der „Säuberung" der Gleichschaltung, der Terrorisierung durch Denunziation, wobei sich eben die Denunziation, die Brandmarkung durch ein Schlagwort, ein Scheltwort, das den Betroffenen abstempelt und ihn der Verachtung, dem Abscheu, dem Haß der nach „Einheit“ und Sicherheit strebenden Mitgenossen preisgibt, sind nicht zuletzt deshalb so überaus erfolgreich, weil sie sich in altehrwürdigen Überlieferungen einwurzeln können und mit ihnen das Geltungs-, Gleichschaltungs- und Neidbedürfnis der Mitmasse verbinden. Das Denunziationswesen, dieses Krebsübel unserer jungen Demokratie, gehört in langen Jahrhunderten unserer deutschen und abendländischen Geschichte zu konstitutiven Elementen mancher Gesellschaften.

nsb 13 nrt-,w ,n * mnt . bruiM .tat keiner, der auf dem Kulturmarkt, auf diesem Sektor des Jahrmarktes unserer Eitelkeiten, die Verhältnisse kennt, wird behaupten dürfen, daß für wirklich bedeutende, reine Stimmen die Möglichkeit gesichert ist, zu Wort zu kommen und Gehör zu finden: bei einem Verlag, im Publikationswesen, ja auch nur auf den Tisch, den überladenen Tisch der überlasteten Kritiker, zu kommen. Selbst wenn dies gelingt und sich etwa hier und dort auch angesehene Persönlichkeiten dafür einsetzen, ist damit noch nicht gesagt, daß die Schallmauer des Schweigens, des Nichtinteresses der Öffentlichkeit durchbrochen wird. Wenn wir die falschen Etiketten und Flaggen eines modischen und snobistischen Nonkonformismus, Konformismus und Non-Nonkonformismus dort lassen, wo sie ihren Standort haben, nämlich auf dem kommerziellen Kulturmarkt und einem Nachtbarbetrieb unverbindlicher Unterhaltungen, und in die sich nichtgesellende Gesellschaft, in unsere Masse, sehen, werden wir unschwer einsehen, daß die Überwindung der Denunziation, die ja ebensosehr mit dem Wort, dem Schlagwort, dem Scheltwort, wie dem Nichtwort, dem Verschweigen arbeiten kann, in den Räumen des geistigen und kulturellen Schaffens nicht weniger leicht ist als in politischen und religiösen Bezirken.

Damit stehen wir vor dem inneren Bezug von Denunziation und Vermassung. Eine lebendige Demokratie, eine Gesellschaft, in der der Atem der Freiheit und Freizügigkeit weht und in ihm der dynamische Wille, Zukunft zu gestalten, entbunden wird, bedarf vieler eigenwilliger einzelner, die Mut zu neuen Wegen, zu wirklichen Experimenten besitzen. Auf die Ausschaltung eben dieser einzelner sind heute zu allermeist die jeweiligen Positionshälter in ihren Groß vereinen und Gremien bedacht. Sie stützen sich dabei auf die Denunziation, die eine riesenhafte Verbreiterung ihrer Bezüge und Funktionen erfahren hat. Ein Denunziant war in absolutistischen und patriarchalischen Regimen, wie etwa in der Metternich-Zeit, schlicht und schlecht ein Bürger oder ein bezahlter Spitzel, der einen anderen Bürger bei der Staatspolizei oder einer Kirchen-

behörde anzeigte oder als deren bezahlter Mitarbeiter hauptberuflich das Gewerbe der Aufspürung „staatsfeindlicher“, regimefeindlicher oder einfach verdächtiger Fremder ausübte. Heute arbeitet die Hydra der Denunzation viel weiter, weitmaschiger, undurchsichtiger und anonymer. Ihr Begriff und ihre Wirklichkeit ließen sich keineswegs erschöpfend erfassen, etwa durch den Blick allein auf V-Männer, die im Dienste eines Verfassungsschutzes, parteipolitischer und personalpolitischer Interessen die „Ostkontakte“ und Schlafzimmergeschichten unliebsamer Konkurrenten, vor allem auch von Männern in der eigenen Partei, erkunden sollen.

Denunziation, als Macht ersten Ranges und als eines der charakteristischen Phänomene unserer nicht in der Freiheit integrierten Gesellschaft umfaßt und umfängt weit mehr: vor allem die ganze Skala der sehr verschiedenen Arten des Rufmords, der Abstempelung, der Verächtlichmachung, der Schädigung des guten Rufes und der Glaubwürdigkeit, der Verdächtigung von „nichtrepräsentativen“, nicht ganz einwandfreien“, „gefährlichen“ Andersdenkenden. Wobei der Vielfalt ihrer Schlagworte, ihrer verdeckt und verhalten vorgetragenen Angriffe, in oft auf Jahre hin angelegten Rufmordkampagnen, die vielfältig ausgebildete Technik ihrer erfahrenen Praktikanten entspricht. Die Denunziation hat, so wie sie heute arbeitet, in den von ihr beanspruchten Arbeitsräumen und mehr oder minder geschlossenen Gesellschaften spezifische Techniken des Killens, des Tötens, entwickelt. Einflüsterung, gern über dritte, vierte Mittelsmänner vollzogen, Angriffe, in Reden in der Öffentlichkeit oder in kleinen, geschlossenen Zirkeln, Verdächtigungen, zunächst in obskuren, aus gewissen Fonds bezahlten Publikationen vorgetragen, später in aller Öffentlichkeit als erwiesen erachtet: So mancher weiß gar nicht sehr genau, wie sehr er selbst das Opfer jahrelanger Bearbeitungen geworden ist. Dies gehört ja wesentlich zum Janus- kopf der Denunziation: sie wirkt verheerend nach beiden Seiten. Ihr Opfer ist sowohl der Angegriffene wie der Auftraggeber. Eine Demokratie, die sich, wenn auch unbewußt und nichteingestanden, durch Denunziation behauptet, die das Klima der Denunziation duldet oder fördert, begeht Selbstmord, da sie mittels der Denunziation eine Massengesellschaft schafft, die den freien einzelnen ausrottet.

Pallas Athene, die Tochter des Zeus, die Göttin der Demokratie, trägt auf ihrem Schild das Haupt der Medusa. So steht sie etwa, steinern, vor dem Gebäude des Reichsrates der Vereinigten Königreiche und Länder, dem heutigen Parlament in Wien. Eben diese Medusa ist die Göttin, die heute mit tausend Schlangenarmen den Leib der jungen Demokratie umfängt: die Denunziation. Diese Göttin allein hat den fast sagenhaften Aufstieg zur Herrschaft dieser und jener Einmannsysteme ermöglicht. Diese Medusa ist die Göttin der Massen, die sich Sicherheit suchen im dunklen Getümmel, im Sumpf einer Wohlstandswelt; sie scheuen den hellen Blick, den Speer der Vernunft, der immer schmerzlichen Einsicht in die wahre Lage. Also folgen sie der Maxime der „Hohenpriester“: es ist besser, daß dieser da fällt — ist er doch nur einer und ein einzelner, als daß das Volk zu denken anfängt. Weg mit ihm.

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