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Den Grass in der Schlinge

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Kaum sind vier Wochen ins Land gegangen, hat Luchterhand das achtzigste Tausend gedruckt, hat die größte deutsche Wochenzeitung, „Die Zeit”, pflichtbewußt drei Wochen Jang Grass rezensiert, erscheint „örtlich betäubt” bereits auf den Bestseller-Listen, ist für Grass und den Verlag das Geschäft gelaufen, ist die Ware unter das Volk gebracht. Und alle Beteuerungen einschlägig belasteter Kritiker, daß dieser Roman nun wirklich schlecht sei, kurbelt die um Spektakularität bemühte Werbung nur stärker an — das schönste Beispiel seit langem, wie sich Kritik ad absurdum führen kann: Ob es Rolf Becker im „Spiegel” oder Marcel Reich- Ranicki in der „Zeit” ist, Horst Krüger oder Hellmuth Karasek, jeder fühlt sich bemüßigt, dem Grass eins auszuwischen: ein voller Schlag ins Leere, denn ausgerechnet bei Grass wird von allerorts geübter Praxis abgewichen, ein Buch, dessen Qualität nicht überzeugt (und darin sind sich ja alle Rezensenten einig), überhaupt nicht erst zu besprechen. Die Beständigkeit der Aureole dieses Dichters fasziniert; die Dümmlichkeit der Literaturmache verblüfft.

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Kaum sind vier Wochen ins Land gegangen, hat Luchterhand das achtzigste Tausend gedruckt, hat die größte deutsche Wochenzeitung, „Die Zeit”, pflichtbewußt drei Wochen Jang Grass rezensiert, erscheint „örtlich betäubt” bereits auf den Bestseller-Listen, ist für Grass und den Verlag das Geschäft gelaufen, ist die Ware unter das Volk gebracht. Und alle Beteuerungen einschlägig belasteter Kritiker, daß dieser Roman nun wirklich schlecht sei, kurbelt die um Spektakularität bemühte Werbung nur stärker an — das schönste Beispiel seit langem, wie sich Kritik ad absurdum führen kann: Ob es Rolf Becker im „Spiegel” oder Marcel Reich- Ranicki in der „Zeit” ist, Horst Krüger oder Hellmuth Karasek, jeder fühlt sich bemüßigt, dem Grass eins auszuwischen: ein voller Schlag ins Leere, denn ausgerechnet bei Grass wird von allerorts geübter Praxis abgewichen, ein Buch, dessen Qualität nicht überzeugt (und darin sind sich ja alle Rezensenten einig), überhaupt nicht erst zu besprechen. Die Beständigkeit der Aureole dieses Dichters fasziniert; die Dümmlichkeit der Literaturmache verblüfft.

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Worum geht es? West-Berlin, Anfang des Jahres 1967, Beginn der Minirevolution gegen Amerikas Kriegsführung in Vietnam, gegen hochschiuilpoli tische Versäumnisse, rechte Beamte und redliche Bürger: mitten darinnen der 40 Jahre alte Studienrat für Deutsch und Geschichte, Eberhard Starusch, der beständig Seneca zitierende Junggeselle, dem die Anpassung an das sogenannte Establishment aus allen Knopflöchern schielt. Ihm gegenüber der namenlose Zahnarzt, der die „Bißlage” des Studdenrats korrigieren möchte, unter der Hand aber dem Patienten Bekenntnisse entlockt, Erfahrungen und Geschichten, die, angeregt von dem als Spiegel wirkenden Bildschirm eines zwecks Ablenkung aufgestellten Fernsehapparates, tatsächlich erlebt wurden oder sich während der in Aktion tretenden Ritterbohrmaschine flugs bilden. Geschichten, bei deren Erinnerung aufkommender Schmerz dank brillianter Hilfestellung des Arztes „örtlich betäubt” (Seite 23) wird. Der Roman gliedert sich in drei Teile; eins und drei berichten über die Behandlung des Ober- und Unterkiefers, Teil 2, die Behandlungspause, erzählt die Geschichte des im Februar 1969 zur Uraufführung gelangten Stückes „Davor” (Berliner Schiller-Theater). Kurzum, Grass hat sich mit seinem neuen Roman auf etwas eingelassen, was vor ihm kaum einer fertigbrachte: erstens engagiert zu schreiben, zweitens das Reaktionäre und die Mittelmäßigkeit zu thematisieren und drittens noch einen Stoff zu nehmen, der seinen äußeren Fakten nach an Aktualität nicht mehr zu überbieten ist.

Grass hat den Roman eines „Scheißliberalen” (siehe Waschumschlag) geschrieben und dabei ganz nebenbei zu verstehen gegeben, daß er — sofern überhaupt der Autor, oder besser: Grass, im eigenen Werk greifbar ist — im Grunde nichts anderes ist, auch wenn andere Ambitionen der von außen aufgezwungenen Verhaltensweise Widerstand leisten. Das ist Grundtendenz des Buches, der nun aber eine zweite genau konträr entgegengerichtet ist und den Seilern landauf, landab aufs Schönste beim Schlingenknüpfen entgegenkommt: das betuliche Schulterklopfen, das Verteilen von Hausmütterchens Rezepten und die naive Sandkastenstrategie beim Angriff brennende: Probleme von einem selbstherrlichen Besserwisserstandpunkt aus. Der Unterschied der Generationen, das Aufbegehren gegen die Konvention wird altväterlich verharmlost, der Mißbrauch der Gewalt zugunsten der häuslichen Idylle ignoriert.

Zu solcherlei Hängevorrichtungen, die direkt dem Roman entnommen werden können, kommen schließlich noch jene, die den oben angesprochenen Seilern bei ihrer unermüdlichen Arbeit des Strickedrehens besondere Freude bereiten: Da gibt es einmal den Lautsprecher der ES-PE-DE, der aus dem sicheren Versteck der Parteilosigkeit gegen alle jene schnauzt, die klare Entscheidungen für Partei -und Regierungsbildungen getroffen haben, der dann wieder mit merkwürdigem Parteizugehörigkeitsgefühl für die SPD in Sachen Bundestagswahl (in der BRD am 28. September 1969) in der Hoffnung trommelt, den Tisch des Dichters eines Tages mit dem Stuhl des Politikers vertauschen zu können; da gibt es den romantischen Revoluzzer, der Linken zu liberal, der Rechten zu radikal, der bei den deutschen Bundestagswahlen 1965 recht eigentlich erfolglos blieb und dennoch unverdrossen 1969 mit eigenem Bonner Büro, Wahlhelferstab und Kampagne-VW erneut ins Feld zog; und da gibt es endlich das personifizierte Gewissen der Nation, das bei allerhand Partys pflichtbewußt in Ost und West photogen im Tableau der Buchmessen für die Freiheit lacht und trinkt, ganz zu schweigen vom „Schwein der Nation”, dessen „pornographische Ferkeleien” jüngst Gegenstand eines amüsanten Gerichtsverfahrens waren.

Diesem Grass nun, von der Gruppe 47 einst erhoben, nun von deren linkem Flügel scharf attackiert, für den Empfang diverser Literaturpreise aber immer noch äußerst prädestiniert, für jeden zweiten Bundesbürger in der BRD und jeden vierten im deutschsprachigen Ausland nach der Bibel und dem Kochbuch zur Markenbezeichnung (wie etwa Persil oder Sunkist) avanciert, diesem Grass, so denken die Seiler, gilt, es- nun mit Macht sein Image zu- stehlen, der Öffentlichkeit die Larve Grass in ihr Hosiannageschrei zu werfen, um den nackten Rest, Werke und Aktionen genüßlicher zerfetzen zu können. Welchem Literaturfreund da nicht die Geduld reißt, wird sich bald selbst verstrickt vorAnden: Denn, so fragen wir (wie unlängst an gleicher Stelle in der Besprechung Handkescher Frühjahrspublikationen), was hat eigentlich die Person Grass mit der Beurteilung des Romans „örtlich betäubt” zu tun. Autor und Roman sind zwei völlig verschiedene Dinge, die vermengt, weder über den einen noch das andere Zutreffendes aussagen. Zwei Dinge allerdings müssen hervorgehoben werden: einmal, warum mußte der jetzt um politisches Ansehen ringende Grass ausgerechnet zur selben Zeit den Blick auf den Dichter Grass lenken (was mindestens als „ungeschickt” zu beurteilen ist) und zum anderen zeigt sich in der Tat am Durchfall des Stückes „Davor” Symptomatisches, was auf Umwegen auch „örtlich betäubt” angelastet werden könnte; wir meinen den Weg von der Darstellung zur Argumentation, dem etwa der Weg von der Lyrik über den Roman zum Theater entspricht. Grass hat zwar immer schon Heimliches für das Theater gehegt — es seien nur die freien Stücke, wie „Hochwasser” (1957), „Onkel, Onkel” (1958) „Beritten bin und zurück” (1959) „Noch zehn Minuten bis Buffalo” (1959) und andere erwähnt. Doch schon mil den „Plebejer proben den Aufstand” kündet sich an, was in „Davor” deutlich zutage tritt, Grass stellt nicht mehr dar, Bilder und Situationen sollen nicht mehr für etwas stehen, sondern er argumentiert, das heißt, es gebt nicht mehr um ästhetische Verbrämung, sondern um Ausdrücklichkeit. Die köstlichen Sprachmätz- chen der „Blechtrommel”, die spröde Bildlichkeit, überhaupt, die ungeheure Lust, eine schier nicht zu bändigende Phantasie mit sicherem Sprachgefühl und wirklichkeitsnahem Zugriff zu gängeln, wird abgelöst von einem totalen Engagement, bei dem die literarische Form als Plattform für didaktische Vorhaben ausgemünzt wird. Dieser Weg von der Metapher zum Exemplum, von der Geschichte zu historischen Gegebenheiten, macht das Abstoßen von literar-ästhetischen Sprach- mustern, von hermetischer Fabulierkunst notwendig, um jener Direktheit willen, deren die von Grass aufgegriffenen Diskussionsgegenstände bedürfen. Das Theater bei Grass wird zum Projektor dessen, was sich an Entwicklungen von politischen und soziologischen Möglichkeiten ab- zeichnet, wird im -Gegfehsätz zum Brechtschen’lft dfe Zukufift weisenden Lehrtheater ein auf die Gegenwart zurückweisender Spiegel. Und genau dies wird in „örtlich betäubt” versucht: mit Hilfe auf rüttelnder Faktizität einen Spiegel der Gegenwart ohne einlullende Geschichten und ästhetische Formspielereien zu bieten.

Grass ist damit auf dem Weg zum sogenannten Pop-Roman, eigentlich zu einem Antiroman, in dem die Geschichte zu einem bloßen Vehikel degradiert wird, in dem von vorgegebenen Romanstrukturen bei einiger Böswilligkeit höchstens die mosaikartigen Fügungen eines Uwe Johnson oder der Telegrammstil eines Alfred Döblin wiederzuerkennen wären, im Grunde aber Grundstrukturen sind, die im Hinblick auf die hier häufig verwandten Rück- und Vorblenden, überhaupt der filmischen Technik sich einfach notwendig ergeben. Dazu gehören die weiten Passagen, in denen mit nicht aussetzender Monotonie Fachliches aus der Zahnmedizin und der Zementherstellung zum besten gegeben wird, welche auf arg intensive Studien Grass’ schließen lassen, für den Leser aber merkwürdig blaß bleiben und paradoxerweise nichts lehren; man weiß am Ende über Zahnmedizin und Zementherstellung genauso wenig wie am Anfang der Lektüre. Vielleicht sollten wir auch dies nur als wertfreien Befund notieren. Vielleicht reichen einfach unsere bisher angelesenen Maßstäbe nicht aus, diesen Roman sicher einzuordnen. Es ist leicht nach den bisherigen Versuchen um den modernen Roman, „örtlich betäubt” zu verreißen. Vielleicht ist es aber ehrlicher und richtiger, eine gewisse Hilflosigkeit vor diesem Neuansatz zu bekennen. Was sich da „schlecht” gibt, kann gewollt „schlecht” sein, und dann rutscht den Seilern der sicher geglaubte Grass doch noch aus der Schlinge. In jedem Fall aber wird der nächste Grass- Roman mehr über diesen sagen.

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