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Den Lech erhalten

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Der Lech ist im BewuBt-sein der Tiroler - und schon gar der Osterrei-cher - sicher schwach verankert. Er ent-springt in Vorarlberg, unter der „Boten Wand" in der Nahe des Formarinsees bei Lech. Die aller -ersten Kilometer kampft er sich durch ein System von Schluchten, wechselt inzwischen auf Tiroler Territorium und erfreut sich da bald eines er-staunlich breiten Tales, auf dessen ebenen Bbden er sich von den elf Zu-fliissen jeweils auf die andere Talsei-te drangen laBt. Ab Haselgehr gehort mehr und mehr der ganze Talgrund dem beachtlich wasserreich geworde-nen FluB. In seinem breiten Bett voll-er lockerer Gerblle schiirft er ein Geast von Graben aus und laBt da-zwischen Inseln entstehen.

Kommen die Schmelzwasser oder sornmerliche Unwetter, dann strbmt aus dem ganzen Einzugsbereich viel neues Geschiebe nach, das fiillt die Graben auf und zwingt die Wasser-laufe sich nach links und rechts an der Verstopfung vorbei neue Wege zu su-chen. So entstehen immer neue Ver-zweigungen - Vergabelungen - Fur-kationen. Insgesamt ist der FluB stark genug, die nachriickenden Gerbll-massen laufend wieder fortzuschie-ben, er tragt ganze Inseln ab und baut weiter unten wieder welche auf, reiBt Uferzonen weg und gestaltet sie neu.

Die Liebhaber natiirlicher FluBlaufe nennen diese FluB-Akti-vitaten „Umlagerung" und wissen, daB das unsanfte Gewasser gerade durch diese rauhen Methoden die Voraussetzungen fiir eine reiche Fiil-le untereinander sehr verschiedener FluBuferbiotope schafft.

Auf den eben neu entstandenen Schotterbanken siedelt sehr schnell eine Primarvegetation, die sogenann-te „Knorpelsalatflur". Andere Inseln und Ufer iiberleben etwas langer und

Noch nicht „gezahmt"

ist dieser letzte naturliche FluB der Nordlichen Kalk-alpen. Die Arbeitsgemein-schaft „Tiroler Lechtal" setzt sich fiir seine Erhaltung ein.

konnen durch haufige Oberschwem-mungen, Diingungen mit Sanden und Schwebstoffen, einer reicheren Vegetation Lebensraum bieten.

Auf hoher aufgeschobenen Boll-werken krallen sich Weiden und Ta-marisken fest und verankern sich mit tiefen Pfahlwurzeln, sodaB sowohl sie selbst als auch der ganze Schotterke-gel der Flut lange widerstehen konnen. Faktoren, die die Biotop-Diversi-vitat bewirken, sind auch die Berg-wasser. Sie sickern iiberall auch in trockenen Perioden aus geheimen Quellen, bilden sumpfige Ttimpel voll von Pflanzen- und noch viel mehr Tierarten. Nach einer Kette von Re-gentagen, wenn die Hange ganz auf-geweicht sind, schwappen diese Berg-

EsbestehtdieGefahr,da6 es bald keine Wildbache gibt

wasser allerlei erdige Materialien in die FluBuferzonen. Bescheidene Binnsale werden auf einmal freche Bache, die Schwemmholz und ganze Wurzelstocke anschleppen.

Der Grad der Uberschattung durch Stauden und Baume schafft verschie-dene Lebensraume und nicht zuletzt das Vieh: Schafe, Ziegen, Binder, Pferde, die in den Auen weiden diir-fen und im Hochsommer gem weit in den FluB hinaus waten, um in der Hit-ze Kiihlung zu finden. Da gibt es Moose, die konnen nur auf Kuhdung ge-deihen, der in seichte Wasserlacken gefallen ist.

Nach diesem Versuch, das natiirli-che FlieBgewasser „Tiroler Lech" ei-nigermaBen bekannt zu machen, be-kenne ich gem, daB ich kein Natur-wissenschaftler bin, sondern ein na-turschutzerisch tatiger Pfarrer. Meh-rere Pfarrer und Lehrer hauptsachlich - weil die ihre Stelle nicht so leicht verlieren konnen —, Hausfrauen und ein freischaffender Musiker als Ob-mann, bilden den „Arbeitskreis Lebensraum Lechtal". Mit der Zeit sind wir draufgekommen, daB es auBer dem Lech im weiten Bogen der „Nordlichen Kalkalpen" keinen ande-ren FluB mehr gibt, der durch die Gna-de des. Vergessens noch derart natur-nah erhalten ist. Wir sind auch draufgekommen, daB das Leben der Wildbache zwar von Jahr zu Jahr besser er-forscht wird, aber viele Ratsel noch nicht gelbst und manche wohl noch nicht einmal als Frage aufgetaucht sind. Die Bedingungen in dem ganzen Gefiige eines FluBsystems, der einge-spielte Rhythmus der Zufliisse und Abfliisse, die iibers Jahr hin wechseln-den Wasserstande, die Diinungen der

Gerblle und alle sich daraus ergeben-den Kausalitaten, Lebenschancen und Gefahren, sind eine nie versiegende Quelle fiir weitere Forschungen.

Es besteht heute tatsachlich die Ge-fahr, daB es, noch ehe man die Le-bensbedingungen der Wildbache ei-nigermafien kennt, keine mehr gibt. Sicher ein riesiger Schaden fiir die Wissenschaft, aber ein noch viel grbBerer fiir die Menschen, die in der Natur, in der Urnatur, unvergleich-lich mehr und tiefer als in einer aus zweiter Hand Anregungen iiber alle Sinne bekommen, einen reichen Schatz an Analogien zum Menschen-Leben, Bilder fiir die Sprache, Sym-bole fiirs Verstandnis, Empfinden fiir Zusammenhange. Moderne Kiinstler lieben es, ihre Werke als Installatio-nen auf die Zeitgenossen wirken zu lassen; niemand installiert seinen Schbpfungswillen eindrucksvoller als Gott in der wilden Natur.

Der Autor ist

Pfarrer in Steeg, Naturschutzbeauf-tragter der Diozese Innsbruck und Konrad-Lorenz-Preislrager.

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