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Den Problemen der Zeit' mitten ins Herz

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Gabriel Marcel, der Philosoph und Dramatiker der „Freiheit, die man sich erst erobern muß“, steht auch bei uns durch sein jüngst im Verlag Herold erschienenes Werk „Geheimnis des Seins“ im Mittelpunkt des Interesses. Ist er doch, ohne es beabsichtigt zu haben, durch seine Philosophie und Dramatik zum stärksten positiven Gegenpol Jean Paul Sartres geworden. Darum kommt der für sein Wollen aufschlußreichen Aussprache, die er unserem Mitarbeiter gewährte, besondere Bedeutung zu.

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Gabriel Marcel, der Philosoph und Dramatiker der „Freiheit, die man sich erst erobern muß“, steht auch bei uns durch sein jüngst im Verlag Herold erschienenes Werk „Geheimnis des Seins“ im Mittelpunkt des Interesses. Ist er doch, ohne es beabsichtigt zu haben, durch seine Philosophie und Dramatik zum stärksten positiven Gegenpol Jean Paul Sartres geworden. Darum kommt der für sein Wollen aufschlußreichen Aussprache, die er unserem Mitarbeiter gewährte, besondere Bedeutung zu.

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Es empfängt ein kleiner, in den Schultern etwas verwachsener Mann mit dichtem grauem Haar, einem Knebelbärtchen und sehr lebendigen Augen. Das Gesicht ist großflächig und eindrucksvoll. Man sieht ihm keineswegs an, daß er in den Siebzigern ist. Angesichts seiner Lebendigkeit wird man an jenes mit guten Wünschen und leichtem Bedauern gemischte Gefühl erinnert, das viele der „Jungen“ allen diesen so unverwüstlichen und immer noch produktiven „Grand old men“ der französischen Gegenwartsliteratur entgegenbringen, in deren Schatten sie schwer um ihre Geltung zu ringen haben.

Da er schon durch den Verlag „Plön“ gehört hat, daß ein französisch-österreichisches Schriftstellertreffen in Innsbruck für Pfingsten 1954 vorbereitet wird, ist der Kontakt sofort hergestellt.

„Man faßt Sie immer als Gegenpol Sartres auf, obwohl wir wissen, daß Sie schon viel früher als er durch Ihr Journal metaphy-sique' und Ihr Werk ,Etre et Avoir' eine Existenzphilosophie — jedoch christlicher Prägung — vertreten haben. Wie denken Sie selbst darüber: inwieweit war es Ihnen mit Ihrer Dramatik und deren Wirkung möglich, ein positiver Gegenpol zu Sartres Nihilismus zu sein?“

„Man betrachtet mich sehr oft als bewußten Gegenspieler oder, wenn Sie wollen, Gegenpol Sartres. Aber ehe noch Jean Paul Sartre ein einziges Buch geschrieben hatte, war mein philosophisches Werk schon längst gedruckt. Außerdem, jedes Gegenspiel setzt eine gleiche Ebene voraus. Eine solche existiert aber zwischen uns beiden nicht. Wir gehören grundverschiedenen Welten und verschiedenen Generationen an (Marcel ist ein Siebziger, Sartre ist in den Fünfzigern). Deshalb sind meine Stücke auch nicht Ausdruck einer unmittelbaren Gesprächspartnerschaft, sonst wären sie ,Tendenzstücke'. Dagegen nämlich verwahre ich mich. Sie sind keine ,Antworten' auf Stücke Sartres, dies kann man leicht an Hand ihrer Entstehung nachweisen. Gewiß, meine Stücke sind im allgemeinen beängstigend, beunruhigend, was die Problematik angeht. Zu brennend für träge, genießerische Seelen. Aber wohltuend für jene, die zum Kern der Dramen vorstoßen, denn diese bewegen sich in ,Richtung der Liebe', der Karitas. Natürlich nicht absichtlich, in kalt geplanter Tendenz, sondern aus der Grundstruktur meines Daseins heraus. Damit

aber bin ich mit meiner Dramatik ein absoluter Gegenspieler zu Sartres.“

„Was würden Sic als die heute vordringlichste Aufgabe der Literatur, der Schriftsteller und Dichter ansprechen?“

„Ich habe in einem Vortrag über ,Literatur und Leben' (den ich vielleicht im November im Institut Francis, Wien, wiederholen werde) ausgeführt: Im literarischen Schaffen müssen wir die Alternative zwischen Dilettantismus einerseits und Engagement anderseits ablehnen. Literatur von Rang darf weder ,engagee' noch dilettantisch sein. In diesem Zusammenhang beziehe ich mich auch auf das Werk Adalbert Stifters, das ich hochschätze, welches aber hierzulande leider zu wenig bekannt ist. Dieser Dichter ist in gewissem Sinne beispielhaft. In seinem Werk hat er — als den tiefsten Sinn unseres Daseins — die Notwendigkeit einer neuen Heiligung des Lebens erkannt und gestaltet, was auch ich als wesentlichste Aufgabe ansehe.

Als Beispiel für ein Werk, das mir im obigen Sinne gelungen erscheint, verweise ich auf den Roman Alan Patons ,Cry thy beloved Country', worin die südafrikanische Rassenfrage in unvoreingenommener und ergreifender Weise gestaltet wurde. Wir müssen uns bei der Behandlung eines Problems diesem gegenüber eine ,Ebene der höheren Gerechtigkeit' erringen, wo Gerechtigkeit und Liebe zusammenklingen und uns von der Parteilichkeit und Enge der verbrochenen Welt' befreien.“

Und dann berichtete Marcel vom Erfolg seiner letzten Stücke; von „Signe de la Croix“ (Zeichen des Kreuzes), einem Emigrantenstück, „Rome n'est plus dans Rome“ (Rom nicht mehr Rom), das das Problem der Europaflüchtigen aufgreift, die vor einem möglichen Einmarsch der Russen nach Amerika wollen; von „Le monde casse“ (Die zerbrochene Welt), das von der Schwierigkeit des Zusammenlebens der Geschlechter handelt und von der Comedie Franfaise aufgeführt werden wird, und von seinem letzten Stück „La vraie vie est absente“ (Grundthema: der Mann kann der Frau nicht wahllos Kinder aufbürden; es geht um Enthaltsamkeit und um ein stellvertretendes Mitleiden — mit dem schmerzhaften Akt des Mutterwerdens).

In der Tat finden Marcels letzte Stücke in Westeuropa und in England starken Wider-

hall ganz im Sinne seines Ausspruches: „Die Zeit der Ehebruchskomödien ist vorüber.“

„,Die zerbrochene Welt' wurde übrigens in Frankreich, Deutschland, England und Italien aufgeführt. Auch in diesem Fall (wie bei einer Reihe anderer wesentlicher Stücke) kann sich das Burgtheater nicht zu einer Aufführung entschließen. Das Problem ist scheinbar zu brennend: Man gibt bei Ihnen dem Publikumsgeschmack zu sehr nach. Man will sich nicht allzu sehr beunruhigen und aufregen.“

„Wir wissen, daß ein Kernstück Ihrer Existenzphilosophie das Postulat (nach richtig gehandhabter) menschlicher Freiheit ist. Wie grenzen Sie sich gegenüber dem Sartreschen Freiheitsbegriff ab?“

„Sartre sagt: Wir seien ,condamnes a etre libre' — verdammt, frei zu sein! Dies ist eine negative Konzeption. Ich sage dagegen: Für uns ist die Freiheit etwas, das man erobern muß. Sie ist kein ,Geburtszustand'. Freiheit ohne Bezug auf das absolute Sittengesetz ist undenkbar. Durchringen zur Freiheit der Wahl, das zu lassen oder zu tun — aus freiem Entscheid und Vermögen — was man nicht tun oder tun soll. Freilich ist es nötig, sich angesichts eines Problems die große Verantwortung und die Konsequenzen eines So-oder So-Entschidens zu erobern: Freiheit, in der Befolgung der Stimme des Gewissens, das sich, angesichts der vollen Schwere eines Problems, an Gott orientiert. Wer sich zu dieser Freiheit nicht durchringt, verstrickt sich mit seinem zügellosen Freiheitsdrang im Gestrüpp der Welt, wird letztlich selbstzerstörerisch. Empfindet Freiheit als Verdammnis — weil er längst unfrei ist und Leidenschaften, Vorurteilen, seinem Ego verfiel (von dem er sich nicht befreien konnte).“

Dann sprechen wir über Andre Gide und seinen unseligen Exhibitionismus. „Noch zuletzt hat er ,Corydon' als sein bestes Werk bezeichnet. Aber schon der russische Philosoph Solowjew schrieb: Scham ist in der Ethik etwas Lebenswichtiges, das in raschem Schwinden begriffen ist. Ihr Mangel heute ist ein verhängnisvolles Zeichen für unsere De-Zivilisation. Ehrfurchtslosigkeit ist ein Stigma unserer Zeit.“

„Was verbindet Sie mit Oesterreich, mit seiner Literatur?“

„Was Sie vorhin von Thornton Wilder sagten, der den Geistesraum des kaiserlich-königlichen Ueberreiches' (siehe das Wilder-Interview in .Freude an Büchern', Juni 1953) als ein Strahlungszentum ersten Randes bezeichnete, unterschreibe ich aus voller Uberzeugung. Oesterreich ist ein Nervenzentrum Europas (centre nerveux). Wie sehr ich geistig Ihrem Lande verbunden bin, geht wohl auch daraus hervor, daß meine ersten beiden Artikel, die ich überhaupt schrieb, sich mit Schnitzler und Hugo Wolf befaß-

ten (1912). Ich bin ein alter Freund Oesterreichs und war oft in Ihrem schönen Land. Auch Innsbruck kenne ich sehr gut. Ich war 1912 längere Zeit dort. 1946 hatte ich nach dem Kriege meine erste Lesung in Wien. Ich bin auch heuer im November nach Wien eingeladen, werde dann in Salzburg lesen und nach Innsbruck kommen.

Der Bedeutung der österreichischen Literatur bin ich mir wohl bewußt. Rilke, Kafka, Stefan Zweig, Hugo von Hofmannsthal, Robert Musil (dessen Roman ,Der Mann ohne Eigenschaften' nun die Editions du Seuil übersetzen), Joseph Roth (dessen ,Radetzkymarsch' und ,Kapuzinergruft' wir nun betreuen) — alles Namen von großen Dichtern und Schriftstellern! Auch die Bedeutung Georg Trakls steigt, wie ich aus Deutschland erfahren habe. Man sollte mit den Editions du Seuil reden, daß sie sich der Lyrik Georg Trakls und Josef Weinhebers annehmen. (Anm.: Eine Teilübersetzung von Trakls Werk erschien in kleiner Auflage im Verlage ,Les Pas Perdus': ,La Vie et 1'Oeuvre du Chantre de l'Occident Georg Trakl', übersetzt von Viallet und Petit.)

Eben hat ja Ihr Dramatiker Fritz Hochwälder mit seinem ,Heiligen Experiment' (Sur la Terre comme au Ciel) mit fast 400 Aufführungen eine erste große Bresche für die weiten Kreisen unbekannte neueste österreichische Literatur geschlagen. Auch auf Ilse Aichinger ist man gespannt. Ich kenne auch Friedrich Heer, der als Historiker und Essayist Aufsehen gemacht hat. (Bei Correa erschien eben sein Roman ,Der achte Tag' — und ist schon bei den Bouqui-nisten an der Seine zu finden!)

Adalbert Stifter ist mir teuer. Besonders schätze ich als großen Dichter: Franz Werfel, dessen ,Stern der Ungeborenen' ein außerordentlich tiefes Buch ist, das vor einem Jahr in unserer Reihe erschien (in Feux Croises, Reihe ausländischer Romane bei ,Plon'). Ich will auch seinen ,Veruntreuten Himmel', den ich sehr schätze, neu übersetzen lassen. Uebrigens wird bei Calman-Levy in Kürze ein Roman von Alexander Lernct-Holenia erscheinen.

Wir brauchen Wien und Oesterreich als schöpferischen Gegenpol von Paris und Frankreich, diese Ansicht habe ich immer vertreten. Es war ein Verbrechen, daß man nach dem ersten Weltkrieg das alte Oesterreich zerstückelte. Man zerstörte dadurch das Gleichgewicht Europas. Und ich muß als Franzose leider sagen, daß wir an dieser Unsinnigkeit ein gerüttelt Maß an Schuld haben, Freimaurer waren bei uns am Ruder — Clemenceau etc. Aber man bereut es längst, das getan zu haben. Wir haben etwas gut zu machen.“

Es fügte sich in das Bild Gabriel Marcels

als eines alten und großen Freundes Oesterreichs, als er die Idee eines österreichischfranzösischen Schriftstellertreffens (ein Vortreffen in Paris aus Anlaß des Erscheinens eines Romanes von Alexander Lernet-Holenia im März 1954; ein Haupttreffen in Innsbruck zu Pfingsten 1954) sofort aufgriff und seine tätige Mitarbeit zusagte. Er ist sich

wohl bewußt, daß ein solches, natürlich reifr lieh vorzubereitendes Unternehmen den Auftakt für eine längst notwendig gewordene Intensivierung der kulturellen, insbesondere literarischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern bilden kann, wobei Oesterreich mehr als bisher wieder als Gebender auftreten sollte. Prof. Dr. Georg Wagner

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