Den Untergang im Koffer

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Die wundersame Wiederentdeckung der Erzählerin Irène Némirovsky (1903-1942)

Die Italiener sagen zwar: Erst die Musik, dann die Worte. Aber die Wiederentdeckung der großartigen Erzählerin Irène Némirovsky ist für sich schon ein solches Mirakel und der schicksalhaften Atmosphäre ihrer Prosakunst derart ebenbürtig, dass davon vorweg, noch vor den Werken, erzählt werden muss. Denn über sechzig Jahre lang schleppten die Töchter der 1942 in Auschwitz an Typhus gestorbenen Autorin in einem Koffer voll familiärer Erinnerungsstücke das letzte Romanfragment der Mutter, „Suite française“, mit sich herum, ehe sie es öffneten und seinen Wert erkannten. Nach der Erstpublikation 2004 wurde die vergessene Autorin prompt mit einer hohen französischen Literaturauszeichnung geehrt: Den „Prix Renaudot“ hatte man noch nie postum verliehen. Seither wird das verschollene Gesamtwerk von Irène Némirovsky nach und nach ans Licht der Öffentlichkeit gebracht; jüngst auch ihr letzter vollendeter Roman „Leidenschaft“.

Star am Literaturhimmel

Dabei war die am 11. Februar 1903 in Kiew geborene Autorin bis zum Einmarsch der Nazis in Paris bereits ein Star am französischen Literaturhimmel gewesen (der sich vornehmlich über die Pariser Salons spannte). Ihr Vater, ein reicher russischer Bankier, war 1917 vor der Oktoberrevolution in den Westen geflohen. Vorübergehend fand sich die Familie mittellos deklassiert wieder, ehe sie dank der internationalen Bankvernetzung des Vaters in Frankreich abermals zu Geld und Wohlstand kam. Im vornehmen 16. Pariser Arrondissement bezog sie eine herrschaftliche Wohnung. Irène, die in der Ukraine als von der Mutter vernachlässigtes Kind von der Gouvernante ihr perfektes Französisch gelernt hatte, vollendete mit Auszeichnung ein Literaturstudium an der Sorbonne und gründete mit dem jungen Michel Epstein, wie ihr Vater ein Bankier russisch-jüdischer Herkunft, eine Familie. 1929 wurde die erste, 1937 die zweite Tochter geboren: Denise und Elisabeth.

Kurz nach Kriegsbeginn 1939 wurden die beiden Mädchen von der Mutter in die südburgundische Provinz, nach Issy-l’Éveque, in Sicherheit gebracht. Dorthin kam Irène Némirovsky oft zu Besuch und studierte dabei das ländliche Leben. Und dorthin floh sie auch im Sommer 1940 mit ihrem Mann, als die Deutschen in Frankreich einmarschiert waren und über die Jüdin mit ausländischer Staatsbürgerschaft in Paris das Berufs- und Aufenthaltsverbot verhängt worden war. Ihre angestammten Milieukenntnisse über die französische Hautevolee und Bourgeoisie indes wurden durch den unfreiwilligen Einblick in die Sitten und Gebräuche der Landgesellschaft nachhaltig erweitert.

Der Leser kann das an ihren letzten Romanarbeiten mit bewunderndem Staunen feststellen. Die zugereiste Großstädterin entlarvt scharfäugig jede vordergründige Gutmütigkeit, Duldsamkeit und Verschlossenheit in dem herben bäuerlichen Milieu, indem sie unnachsichtig die dahinter verborgenen Leidenschaften – Habgier, Missgunst, Geiz, Härte gegen alle wie auch sich selbst – freilegt. In „Leidenschaft“, auf französisch treffender „Chaleur du sang“ („Hitze des Bluts“) benannt, wird am Beispiel eines alternden Paars die Wahrheit eines scheinbar vorbildlichen Ehelebens durch gleich zwei Generationen offengelegt: Ein Show-down der mitgeschleppten Lebenslügen im Umfeld von Bigotterie und falscher Scham. Ein Schaukampf verdrängter Leidenschaften, die todbringend krankmachen.

Großartige Beschreibungskunst

In „Suite française“ aber schildert die Autorin, gewissermaßen der erlebten Zeitgeschichte auf den Fersen, zunächst die Massenflucht der Pariser beim Einmarsch der deutschen Truppen am 14. Juni 1940 auf das Land, mit allen menschlichen und unmenschlichen Wirrnissen, Abtrünnigkeiten und Entgleisungen. Großbürger, Kleinbürger, Arbeiter, Bauern, Angestellte, dandyhafte Einzelgänger und ganze Familienclans: Alles ist, von Fliegeralarm, Truppenanmarsch, Deutschenfurcht aufgescheucht, auf den Beinen und strebt halb panisch, halb besonnen aus der Stadt.

Kein noch so anschaulicher Film, keine noch so genaue Dokumentation, auch nicht ein noch so berührend privates Erinnerungsalbum kann das Aroma aus Erwartungsangst und Gegenwartsschrecken so umfassend und realitätsgetreu wiedergeben wie die Beschreibungskunst eines Untergangsepos, zu dem sich dieses Meisterwerk aufschwingt: „In jener Nacht hatte allein das, was lebte, atmete, weinte, liebte, einen Wert. Nur wenige Menschen trauerten ihren Reichtümern nach, man schloss eine Frau oder ein Kind fest in seine Arme, alles andere zählte nicht; es mochte in Flammen aufgehen.“

Auf dem Land angekommen, teilt die vertriebene Großstadtgesellschaft ihre Unterwerfung unter die deutsche Besatzung und die Rationierung der Lebensumstände notdürftig mit dem Landvolk. Auf engem Raum stößt der unterschiedlichste Menschenschlag aufeinander: Aufrechte Patrioten, die herbe Enttäuschungen mit ihren Landsleuten verbuchen, misstrauische Widerspenstige, eilfertige Kollaborateure, fraternisierende Frauen, die sich mit Essbarem, Krokodilledertaschen, Strümpfen und – gar nicht so selten – echten Gefühlen entgelten lassen.

Hier wird ebenso behände wie souverän auf der Klaviatur der klassischen, an Balzac und Tolstoi geschulten Erzählkunst gespielt: In der entscheidenden Liebesszene zwischen einem deutschen Offizier und einer Französin etwa wird raffiniert der Beobachterposten gewechselt, und der Leser belauscht die beiden aus der Wahrnehmung eines ungeduldigen kleinen Mädchens, das sich mehr für die Umtriebe der Maikäfer zu interessieren scheint als für die zwei verliebten Menschenkäfer. („Es gibt Fälle, wo man nicht zu wissen braucht, was Lucile im Herzen hat, sondern wo man sie mit den Augen anderer zeigen muss“, schreibt die Autorin dazu in ihren Arbeitsnotizen.)

Im Angesicht der Bedrohung

Man weiß nicht, was man hier mehr bewundern soll: Die unbändig selbstdisziplinierte Auflehnung gegen das Schicksal, mit der diese leidenschaftliche Menschen- und Milieuschildererin im Angesicht der Bedrohung von Leib und Leben und ohne Aussicht auf Publikation unermüdlich weiterschrieb –, oder die Weitsicht und Wertschöpfung ihrer Literatur. „Welche Bilder verdienen es, der Nachwelt überliefert zu werden?“, fragt sie sich ausdauernd in ihren begleitenden Notizen, um selbstbewusst festzustellen: „Man muss etwas Großes schaffen und sich nicht länger fragen, wozu.“

Auf alle Fälle erwies sich die Obsession, im vorübergehenden Refugium des entlegenen Provinznests jeden Tag stundenlang in den Wald zu gehen, um das kurz vorher in Paris Erlebte in einen Romanstoff umzuweben, als hartnäckigster Versuch, sich mit diesem epischen Rettungsring-Projekt schreibend so lange wie möglich künstlerisch am Leben zu erhalten. Er hielt bis zum Sommer 1942 vor, als erst Irene und später auch ihr Mann Michel ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert wurden – ohne Wiederkehr.

Für manches ihrer Frühwerke, insbesondere den Erstling „David Golder“ (1929), in denen sie das ihr familiär vertraute Milieu der (nicht nur jüdischen) Geldbourgeoise schildert, handelte sie sich den Vorwurf des antisemitischen Selbsthasses ein. Dabei übt sie darin stets nur ökonomische, nicht rassistische Kritik. Die gewissenlose Raffgier der Börsenspekulanten und ihre zynische Abkehr von sozialer Verantwortung und Solidarität werden angeprangert (und sind heute wieder ganz aktuell verständlich). Da wird kein Sippenpardon gegeben, ebenso wenig wie bei dem in vielen Werken wiederkehrenden Motiv der selbstsüchtigen, gefühlskalten Mutter.

Irène Némirovsky wusste offenkundig auch da genau, worüber sie schrieb: Als ihre Töchter nach dem Krieg, den sie mit Hilfe von Freunden halsbrecherisch überlebt hatten, bei der Großmutter Fanny Némirovsky in deren Appartement in Nizza vorstellig wurden, weigerte sich diese, die Enkel überhaupt zu empfangen. Denise und Elisabeth wurden schnöde ans Waisenhaus verwiesen.

Leidenschaft

Roman von Irène Némirovsky

Aus dem Französ. von Eva Moldenhauer

Knaus 2009

126 S., geb., e 15,40

Suite française

Roman von Irène Némirovsky

Aus dem Französ. von Eva Moldenhauer

btb 2009

727 S., geb., e 10,30

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