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Denken mit dem Herzen

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Das Herz des Menschen ist für viele nur eine mehr oder weniger gut funktionierende Pumpe. Verdrängt wird, daß es auch ein Organ des Fühlen, Denkens und der Orientierung ist.

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Das Herz des Menschen ist für viele nur eine mehr oder weniger gut funktionierende Pumpe. Verdrängt wird, daß es auch ein Organ des Fühlen, Denkens und der Orientierung ist.

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Herz hat wenig Chance in unserer Kultur, denn gefördert wird Leistung, nicht menschliche Beziehung." Zu diesem Schluß kommt der Psychiater und Daseinsanalytiker Gion Condreau. Ein Drittel der Patienten, die in eine durchschnittliche städtische Arztpraxis kommen, hat Herzbeschwerden. Mechanisch gesehen ist das Herz eine mehr oder minder gut funktionierende Pumpe. Doch im Unterschied zu mechanischen Apparaten haben Menschen Gefühle, Träume, Bedürfnisse, und das Herz ist der Ort, an dem all dies zum Ausdruck kommt. Das organische Geschehen ist nicht trennbar von der existentiellen Bedeutung - der Rhythmus des Herzschlags verändert sich, wenn wir verliebt sind oder uns ängstigen.

Wie ein Mensch mit der Welt in Beziehung steht, was einem „am Herzen liegt" und was einem „zu Herzen geht", all das zeigt sich an der psychosomatischen Funktion des Herzens. Der Rhythmus des Herzens ist der Rhythmus des Lebens. Neue Untersuchungen zeigen, daß es einen natürlichen Rhythmus der Herzaktivität gibt: eineinhalb Stunden lang ist das Herz aktiv, dann fällt es 20 Minu-

ten ab und erholt sich. Die Erholungsphase ist unter anderem für die Stärkung des Immunsystems, aber auch für psychische Prozesse notwendig. Dieser Rhythmus von Körper und Geist ist die Basis und Mitte menschlicher Lebensaktivitäten, meint der Amerikaner Ernesto Rossi, ein bedeutender Vertreter der transpersonalen Psychologie. „Das Problem ist nur, daß sich die Welt, in der wir leben, darum nicht kümmert. Es gibt nur die Forderung: tun, tun, tun." Damit bringt er das Problem auf den Punkt. Die Folge sind Herzkrankheiten.

Daß der Westen eine Gesellschaft der verhärteten Herzen ist, fällt vor allem Menschen auf, die aus schwach industrialisierten Ländern kommen. Mangelnde Solidarität mit dem Nachbarn und fehlende Herzlichkeit der Menschen im Umgang miteinander steht in direkter Beziehung zum Erfolg des Industriekapitalismus. Das Wirtschaftswunder bringt die Subti-lität des

menschlichen Herzens zum Verschwinden. Denn wenn sich alles nur noch um materielle Werte dreht, um das, was man in Geld

umsetzen kann, dann verstummt die Stimme des Herzens allmählich. In den Schwellenländern Südostasiens läßt sich diese Entwicklung derzeit deutlich beobachten.

Daß gerade aus der christlichen Hemisphäre eine solche Entwicklung ihren Ausgang genommen hat, be-

deutet eine Verkehrung biblischer Werte. Denn das alte Israel ist eine Kultur des Herzens.

850 Mal kommt das Wort Herz in der hebräischen Bibel vor - es ist das Organ der Orientierung, des Denkens, der Gewissensentscheidungen. Nur

_ wenn sich das Herz

öffnet, beziehungsfähig, und das heißt verletzbar, ist, ist es ein wahrhaft menschliches Herz, „ein Herz aus Fleisch". Das bedeutet die Herzenswunde Jesu. Von der Bührseligkeit und Sentimentalität, aber auch Aggressivität, die sich seit ein paar hundert Jahren mit der Herz-Jesu-Verehrung verbunden hat, ist das biblische Verständnis von Herz weit entfernt. „Gott prüft die Menschen auf Herz und Nieren", heißt es in den Psalmen.

Der Priester und Psychoanalytiker Eugen Drewermann ist sich in der Interpretation mit dem Rabbiner Friedrich Weinreb einig: es geht um die innersten und dunkelsten Regungen des Herzens, die im Lichte Gottes geklärt werden müssen.

Herz und Nieren meint in den antiken Kulturen nie einfach anatomisch isolierte Organe, sondern einen ganzen geistig-seelisch-körperlichen Zusammenhang. Die traditionelle chinesische Medizin etwa konstatiert denselben Zusammenhang. Der Funktionskreis Niere sei wie die Wurzel eines Baumes, und das Herz der Sitz des Geistes, wie die Zweige und die Blätter, sagt man.

Das Herz ist die Mitte des Menschen: diese Mitte umfaßt den ganzen Leib mit allen Gedanken, Wünschen und Antrieben. Und just hier ist die Lösung des Rätsels menschlicher Existenz zu finden. Allerdings nur unter einer Bedingung: wenn die Unruhe

des Herzens, die Verhärtungen und Knoten der Seele gelöst sind.

Darüber besteht in allen Religionen Einigkeit, in den abrahamiti-schen genauso wie in den Religionen Asiens oder den Stammesreligionen. In einer modernen Industriegesellschaft klingt das befremdlich und verdächtig. Denn die „Ruhe des Herzens" ist nicht manipulierbar oder konsumierbar, doch sie befreit das Herz von Zwängen aller Art und öffnet es für den Klang des Universums und die Tiefe des Göttlichen.

Doch diese Freiheit entsteht nur durch Achtsamkeit-auf Gefühle, Gedanken und Wünsche; auf das, was die Gesellschaft verdrängt und margina-lisiert. Barmherzigkeit heißt das in der Bibel: die unsentimentale Bereitschaft, nicht nur das Herz zu öffnen, sondern auch, wenn nötig, den Mund und die Hände.

Die Autorin ist

ORF-Journalistin.

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