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Der 1. Mai

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Nun ist es schon das drittemal, daß die Arbeiterschaft in der neu erstandenen Republik Österreich diesen Tag, ihr Fest, feiert und es ist verständlich, daß sich Erinnerungen an die Vergangenheit aufdrängen. Eine wahrhaft gewaltige geschichtliche Entwicklung läßt jenen 1. Mai 1890, den Viktor Adler, in banger Sorge um das Gelingen des ersten Maiaufmarsches, in der Gefängniszelle verbrachte, fast vergessen. Es war der trotzige Aufmarsch einer zum Bewußtsein ihrer Kraft erwachten Klasse, die ihre Forderung auf ein menschenwürdiges Dasein laut und unmißverständlich zum Ausdruck brachte. Nach der Errichtung der ersten Republik Österreich sprengten die wachsenden Massen den traditionellen Rahmen des Marsches in den Prater, und die Prachtstraße Wiens: die Ringstraße, mit den im Frühlingswind flatternden Fahnen war ein eindringlicher Gruß eines neuen Zeitabschnittes. Gläubigen Herzens jubelten die Massen den Parolen der sozialistischen Internationale zu und unbeirrt war ihr Glaube an eine Zukunft, in der für den wahnwitzigen Widersinn einer hemmungslosen kapitalistischen Wirtschaftspolitik kein Platz und in der ihre Existenz nicht mehr von wirtschaftlicher Konjunktur und Depression abhängig sein würde. „Pro letarier aller Länder — vereinigt euch!“,war die Parole, die immer wieder durch internationale Solidaritätsaktionen unterstrichen wurde. Nach Jahren scheinbar restloser Vernichtung ruft wie damals die neue Sozialist'sehe Partei die Massen zur Feier dieses Tages und hält wohl auch Rückschau Da mag es nützlich sein, einige Sätze Viktor Adlers zu zitieren, die dieser in einem Artikel der damaligen satirisch-belletristischen Zeitschrift der deutschen .Sozialdemokratie, „Der wahre Jakob“, in Stuttgart, August 1901, zum ersten Jahrestag des Todes Wilhelm Liebknechts schrieb:

„Wenn der Wanderer auf ein Gebirge zugeht, dessen Gipfel er erklimmen will, so erlebt er eine ganze Reihe wechselnder Stimmungen. Solange er auf der Straße einher-sch reitet, noch weit entfernt vom Aufstieg, sieht er sein Endziel, die Spitze des Berges, in grandiosen, scharfen Konturen deutlich vor sich. Da ist kein Schwanken in ihm über die Richtung, die er einzuhalten hat, jeder Schritt seitwärts ist zweifellos ein Abweg, ein Umweg; am liebsten möchte er auf der Luftlinie zum Gipfel schreiten. Wenn der Wanderer aber näher kommt, bekommt er zu spüren, daß der Weg aufhört, geradlinig zu sein, daß er sich dem Terrain anpassen, seinen Biegungen folgen muß und daß er die letzte Höhe nur erreichen kann, wenn er ein ganze Menge kleiner Höhen mühsam überwindet. Dabei ijt ihm der Blick auf den Gipfel oft versagt, und oft wird er unsicher werden, ob er auf dem rechten Weg ist, wenn er durch Wälder und Seitentäler mühsam emporstrebt, öfter aber überkommt den Wanderer eine Stimmung, die der Erreichung seines Zieles gefährlich ist. Jedes Stück Weg will gegangen sein, jedes Hindernis überwunden werden und die Genugtuung, es überwunden zu haben, wieder ein Stück weitergekommen zu sein, lockt zur Ruhe, zur Beruhigung. Der befriedigte Blick in die Tiefe ist der Feind des rastlosen Strebens zur Höhe. Und so einfach der Weg schien, so kompliziert ist er geworden. Jede Größe scheint der Unternehmung des Wanderers genommen zu sein, und in kleinen, mühsamen Schritten muß er von Station zu Station, immer neue Hindernisse überwinden, und weder Ermüdung noch Freude am Verweilen beim Erreichten darf seinen Fuß hemmen.“

Der Weg der Entwicklung der Arbeiterschaft kann wohl kaum anschaulicher Geschildert werden. Wieder ist eine Station erreicht, wieder flattern Fahnen im Frühlingswind, wieder marschieren die Massen, um ihr Fest zu feiern. Hinter den Fahnen aber gähnen trostlose Ruinen nicht nur von Bauwerken, sondern besonders schmerzliche geistige Ruinen. Auch die Internationale ist nicht mehr, sie kann den Massen keine neuen zündenden Parolen geben und ihre Wiedererrichtung stößt auf ungeahnte Schwierigkeiten und Hindernisse. Eine Neuauflage nationaler Leidenschaften, in vielen Ländern engen Stirnen entsprungen, hat den Boden unfruchtbar gemacht und es wird vieler Mühe bedürfen, ehe die Besinnung wieder einkehrt. Das geistige Band der sozialistischen Internationale war weder den Belastungen des ersten, noch der des zweiten Weltkrieges gewachsen und die marxistischen Dogmatiker haben schwere Mühe aus dem geistigen Zusammenbrach die Scherten zusammenzuklauben.

Die zweite Republik Österreich ist sehr, ehr arm geworden und bewegt sich nur mühsam auf zwei Krücken fort, nicht wissend, ob ihr nicht auch diese noch genommen werden. Trotzdem hat dieses Österreich eine soziale Gesetzgebung, die vielen anderen Staaten, ja sogar Siegerstaaten, Vorbild sein kann, die derzeit allerdings durch die wirtschaftliche Drosselung noch nicht voll in Erscheinung tritt. Es ist verständlich, daß die Arbeiterschaft darüber hinaus grundlegende Forderungen bezüglich der Verfügung über die Bodenschätze, die reichen Naturkräfte, sowie gewisser Schlüsselindustrien stellt und kein verantwortungsvoller Politiker oder Wirtschaftsführer nimmt dagegen Stellung, denn die Erkenntnis der Notwendigkeit dieser Entwicklung ist längst All gemeingut aller jener Menschen, denen das Schicksal des neuen Österreichs kein Objekt der Demagogie ist. Nur die verständnisvolle, vorbehaltlose Zusammenarbeit aller einsichtigen Menschen, als wirkliche Demokraten ihre Kräfte dem materiellen und geistigen Wiederaufbau zur Verfügung zu stellen, kann zum Ziel führen. Die derzeitige Verwendung des Begriffes Demokratie in einem Teil der Presse trägt Schuld an einer Begriffsverwirrung der breiten Öffentlichkeit, da durch das sichtbare Bestreben, jede — aber auch jede — Forderung zu einer Kardinalfrage der Demokratie zu stempeln, e;ne Entwertung erfolgt, deren schl.mme Auswirkungen sich einmal sehr peinlich zeigen werden. Leider ist die Sozialisierung oder Verstaatlichung aus einer wirtschaftlichen Aufgabe zu einem politischen Schlagwort geworden, über dem der schwere Schatten der Gefahr schwebt, die in nebelhaften Formeln wie „Volksdemokratie“ sich verbirgt. Kein denkender Mensch kann noch daran zweifeln, wohin diese Fahrt gehen soll. Noch ist es nicht zu spät — wenn sich alle Kräfte zur Abwehr zusammenfinden. Alarmzeichen gibt es genug.

In der Vergangenheit war der Gewerkschaftsboden immer weitgehend gegen Demagogie immunisiert und viele Anzeichen deuten darauf hin, daß dies auch heute wieder der Fall ist. Der dauernde enge Kontakt mit den Wirtschaftsprobiemen ihrer Zeit verlieh der Stimme der führenden Funktionäre der freien Gewerkschaften in der Vergangenheit ihr besonderes Gewicht. Die gründliche Kenntnis der wirtschaftlichen Zusammenhänge zwang sie zu einer klaren Nüchternheit in det Beurteilung der Grenzen der gegebenen politischen Möglichkeiten und deshalb bewirkte ihre Stellungnahme häufig eine heilsame Abkühlung der heißen Leidenschaftlichkeit der Parteipoiitiker.

Auch jetzt müssen sich wieder jene Menschen finden, die den Mut aufbringen, unter Verzicht auf jegliche Effekthascherei, unter Umständen sogar unter Verzicht auf billige Popularität, der Arbeiterschaft klar zu sagen, daß dieses kleine Österreich kein geeignetes Terrain für ein wirtschaftliches Exerzierfeld überspitzter marxistischer Dog-matik sein kann. Die Sozialisierungsmaß-nahmen einer Reihe von Staaten sind über das Stadium des Experiments noch nicht hinausgekommen und es ist durchaus kein erbauliches Schauspiel, daß dann die auf dem Wege stockenden Reformen, die immer größer werdenden, von ihnen nichr erwarteten Schwierigkeiten durch — Anleihen in den Vereinigter Staaten von Amerika zu bannen tochen, deren Hochkapitalismus anzuklagen sie sonst gewohnt waren. Welcher verantwortungsbewußte Mann kann ernsthaft glauben, daß dieses völlig ausgeblutete Österreich, ohne jede wirtsdiaftlichen Reserven, sich ähnliche kostspielige volkswirtschaftliche Experimente leisten kann.

In Lagen, die ähnlich, wenn auch bei weitem nicht so gefährlich waren, zögerten die alten Gewerkschaftsführer nie, auch unpopulären Wahrheiten bei den Massen zum Durchbruch zu verhelfen und in stundenlangen, leidenschaftlichen und zähen Debatten, manchmal selbst Mißdeurung und Verdächtigung riskierend, setzten sie die Annahme der ihnen notwendig erscheinenden Beschlösse durch. Mehr noch als die Politiker nach Mandat und Beruf, sind die Führer der werktätig Schaffenden heute wiedtr berufen, gegen eine volksschädliche Demagogie alle Kräfte einzusetzen. Dieser Aufgabe ist entgegengesetzt die Verschärfung des Trennenden. Mehr als je muß tn der heutigen Notzeit der Republik die Erkenntnis gelten, daß alle Bevölkerungsschichten eine Schicksalsgemeinschaft bilden, die auf Gedeih und Verderb zusammengehören. Sie werden entweder zusammen aufstehen oder alle zusammen ins Elend stürzen. Die geistige Aufgeschlossenheit der Arbeiterschaft gegenüber den unerbittlichen Tatsachen ist gegeben. Die Führer müssen nur den Mut haben sich dazu zu bekennen. Möge bald ein 1. Mai kommen, an dem die Aufforderung „Fahnen hoch“ nicht mehr als Akt der Drohung, den politischen Gegner durch die „Diktatur des Proletariats“ zu vernichten, empfunden wird, sondern als ein frohes, freies, werbendes demokratisches Bekenntnis zu Österreich, geboren aus der Erkenntnis, daß diese nur bestehen kann, wenn sie zu einer wirklichen Heimat des ganzen Volkes wild.

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