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Der 13. Marz

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Am 13. März 1938, vor zwanzig Jahren, wurde Oesterreich ein Bestandteil des Dritten Reiches. Die Folgen dieser Eingliederung in den Staat Adolf Hitlers, der sich eben erst kurz zuvor, im Februar 193 8, die deutsche Wehrmacht restlos unterworfen hatte, waren unter anderem: die Austreibung von Menschen, die heute zumeist im Westen, in Amerika, zum Teil in der Spitzengruppe von Erfindern, Professoren, Gelehrten, Aerzten zu finden sind; der Verlust von 600.000 Menschen, im Kriege und in der Vernichtung, gefallen an den äußeren Fronten und an der inneren Front; der Verlust von Vermögensbeständen und Materialwerten, die heute noch nicht ganz erfaßt sind; eine zehnjährige Resatzungszeit, deren Schäden ebenfalls nur zum Teil errechenbar sind.

Diesen und anderen negativen Posten, die Oesterreich der 13. März 1938 eingebracht hat, steht ein großes positives Element gegenüber, die Erkenntnis, in der sich die überwiegende Mehrheit des österreichischen Volkes vereint: So soll es nie wieder kommen.

Diese teuer bezahlte Erkenntnis ist die Grundlage der Regierungsarbeit Oesterreichs von 1945 bis heute.

Dieses Wissen ist, wie jede Erfahrung, nicht unzerstörbar; sie kann verloren gehen. So, daß es zunächst kaum jemand merkt. Vor allem jüngere Generationen sind, immer und überall, vom Verlust des Wissens, der Erinnerung bedroht. Vor allem auch dann, wenn ein leichtes Leben in Konjunkturzeiten die Vergangenheit verdrängt. Es ist, 'so scheint es, einfach kein Platz da für sie: Auch deshalb ziemt es sich, diesen Tag zum Anlaß einer Selbstprüfung zu nehmen.

Diese immer notwendige Selbstprüfung, die jedes Unternehmen in der freien Wirtschaft, jeder einzelne und jedes Volk, das frei sein will, jahraus, jahrein nüchtern und ruhig sich vornehmen soll, muß sich dem Wesentlichen zuwenden. Dem, was uns heute noch alle angeht, was wirkt.

Da geht es also nicht um die knapp 40.000, in den Münchner Registern eingetragenen österreichischen „Illegalen“ und auch nicht um die Hunderttausende, die, in Hoffnung und Schrek-ken, betäubt, verwirrt und berauscht in der Märzensonne den Mann aus Braunau auf dem Heldenplatz in Wien umstanden.

Da geht es auch nicht, obwohl eine ruhige Ueberlegung am Platze ist, um die vielen Väter des „Anschlusses“. Männer sehr verschiedener Couleurs, politischer und weltanschaulicher Herkunft und Ueberzeugung. Es tut gut, festzuhalten: Adolf Hitler war nicht der Vater des Anschlusses. Wohl aber war er, weit über Oesterreich und Deutschland hinaus, der Nutznießer katastrophaler Entwicklungen, ein Mann, der entschlossen hineinstieß in einen riesigen Leerräum.

Damit nähern wir uns bereits dem Wesentlichen: der März 1938 ist eine Folge der Katastrophe genau zwanzig Jahre zuvor, 1918. Damals zerfiel Europa und verlor Oesterreich sein Gesicht, sein Selbstbewußtsein, sein Wissen, woher es kam und wohin es gehen sollte.

Der „Anschluß“ von 1938 war die direkte Folge der verlorenen Anschlüsse: in Europa, und zumal in jenem zentraleuropäischen Raum, der immer noch, 1918, 1938 und 1958, die unauslöschlichen Siegel trägt: zwischen Krakau und dem Balkan, geprägt durch Verwaltung, Kultur, Schule und Wirtschaft des Zwölfvölkerstaates.

Damit aber stehen wir bereits mitten in der Gegenwart: denn 1918 gab Oesterreich sich selbst auf, als es — verwirrt und bestürzt — den Groll und das unfreundliche Benehmen der neuen Gebieter in den „Nachfolgestaaten“ für die bare Münze der Weltgeschichte annahm und sich seinerseits von seiner Verbindung, seiner Verpflichtung im Donauraum zurückzog. Der Eiserne Vorhang wurde, so ungern viele das heute sehen wollen, bereits ab 1918 gebaut, hüben und drüben gewoben, in dichten Netzen des Ressentiments. Bei uns etwa gegen „Tschechen“, „Ungarn“, Slawen und Romanen aller Art.

Damals brach vor allem Oesterreichs Intelligenz ihrerseits die Brücken ab: dem Westen zu und dem Osten zu. Und hauste sich ein in einer Kümmerform. In einem „Oesterreich“, das seine Vergangenheit verkannte und sich den Weg in die Zukunft verbaute. Man war oft nur allzufroh über die unwirschen Töne, die allenthalben aus Prag, Budapest, Agram usw. an Wiens Ohr klangen: sie entbanden — so schien es — von der Verpflichtung, sich weiterhin um diese undankbaren „Brüder“ zu kümmern.

Trahison des clercs: Wort und Wirklichkeit des „Verrates der Gebildeten“ sind keine österreichische Erfindung, wohl aber auch bei uns eine harte Tatsache. Es gab nach 1918 in Oesterreich keine politische und vor allem bildungsmäßige Führungsschicht mehr, die erkannte: als ältestes Glied einer vielhundertjährigen Föderation mitteleuropäischer Völker durfte Oesterreich nicht die Pfeiler der großen Brücke preisgeben — gerade da die Anrainer sich, im Rausch und Taumel des Tages, weigerten, die Brücke anzuerkennen und zu benutzen.

Der Verlust der Verbindungen, der Kommunikationen Ost und West zu, und die viel zu geringe Pflege der tastenden Bemühungen, wieder anzuknüpfen und neue Verbindungen in neuen Formen zu finden, ließ Oesterreich in einem beklommenen Provinzialismus versinken, der heute von allen Freunden Oesterreichs als unser Staats- und Volksfeind Nr. l erkannt wird: Wir sind, 1918 zuerst, Provinz geworden. Ein Raum, der doch einst eine pädagogische Provinz europäischer Menschlichkeit gewesen war. Und der nun in gefährlichen provinziellen Träumereien und den ihnen entsprechenden heißen Kämpfen innerlich kleinbürgerlicher Rotten zu versinken begann. Dieser mentale, geistige, seelische, gesellschaftliche und politische Provinzialismus, der Abbruch der Kommunikation zur universalen Kultur und Tradition des zentraleuropäischen Raumes, hat tausendfältig den 13. März 1938 vorbereitet. Oesterreichi-scherseits vorbereitet. So, daß selbst sehr gutgesinnten Männern und Frauen „das Reich“ als ein Inbegriff von Weite und Größe, von offenen Horizonten erschien: ein „Reich“, das von seinem Gründer, eben dem Manne aus Braunau, als eine gigantische Provinz, beherrscht von überaus erregten Provinzlern, Spießbürgern, geschaffen wurde; wie nicht nur das „Haus der deutschen Kunst“ bewies.

Die Frage des März 1938 an den österreichischen März 1958 lautet also: Haben wir diesen Provinzialismus überwunden? Sind wir, als ein innerlich freies Volk, mit einem starken, großzügigen und großmütigen Atem, ein bewußtes Mitglied einer freien Welt, entschlossen, diese in vielen Verbindungen nach allen Seiten hin zu bezeugen und auszubauen?

Wer nüchtern unsere innere Situation bedenkt, wird nicht wagen, diese Frage schlechthin mit einem Ja zu beantworten. Nichts ist gefährlicher, in gefährlicher Zeit, aber auch sonst, als falsche Selbsteinschätzung.

Wer nüchtern Oesterreichs Arbeit heute, in UNO, Weltpolitik, Europapolitik, im Ringen um eine echte Neutralität und Kommunikation mit West und Ost bedenkt, wird jedoch auch nicht schlechthin mit einem glatten Nein antworten. Die Wahrheit liegt in der Mitte: wir sind auf dem Wege. Auf dem Wege von der provinziellen Kümmerform des Oesterreichers einer Zwischenzeit zur Erkenntnis unserer Verpflichtungen gegenüber unserer Vergangenheit und Zukunft. In einem freieren, größeren Europa; in einer freieren, innerlich größeren Welt. In der viele Anschlüsse zu schaffen und einige gefährliche Kurzschlüsse abzuwehren sind.

Wir sind auf dem Wege: das aber bedeutet die Selbstverpflichtung zu außerordentlichen Anstrengungen in Wirtschaft und Politik, nicht zuletzt in Kultur und Wissenschaft. Der beklemmend kleinbürgerliche Betrieb in allen diesen Bereichen, der heute von Ausländern und gelernten Oesterreichern so oft mit Sorge wahrgenommen wird, legt auf Schritt und Tritt jeder schöpferischen Arbeit Hemmschuhe an. Oesterreich wird aber, 1978, wieder zwanzig Jahre nachher, soweit es an ihm liegt, eben das sein, was heute vorgeplant, vorbereitet wird.

Lernen wir also aus der schrecklichen Kurzsicht von 1918. Gerade heute, 1958, mit dem Blick auf den 13. März 1938. Jede Niederlage großen Ausmaßes ist das Ergebnis zahlreicher Versäumnisse zuvor. Nützen wir also die relativ gute Stunde, um das reiche Potential unseres Landes zu entwickeln. Der größte Reichtum unseres Landes ist sein Menschenschlag: begabt, reich, einfallsreich in Technik, Kunst, Wissenschaft. Seine kühne und entschiedene Pflege, vor allem im „Nachwuchs“, kann allein die böse Wiederkehr, den Kreislauf der Katastrophen überwinden.

Das ist die Forderung, die der März 1938 an die Verantwortlichen von 1958 stellt.

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